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Berlin: Einlassung von Lothar Ebke

Am 30. Oktober 1953 wurde ich als zweiter Sohn meiner Eltern in Westerkappeln geboren. Nach
dem Besuch der dortigen Volkschule und der Realschule in Mettingen wechselte ich 1969 auf
das Gymnasium in Ibbenbüren, wo ich 1972 das Abitur machte. Anschließend leistete ich den
Wehrdienst ab. 1974 begann ich ein Studium der Publizistik und Politikwissenschaften in
Münster. Ein Jahr später zog ich nach Berlin und setzte das Studium an der Freien Universität
fort. Nach der Zwischenprüfung 1977 begann ich zu arbeiten und brach das Studium schließlich
1980 ab.

1984 arbeitete ich in einem Arbeitsprojekt in Nicaragua und besuchte Kanada. Nach meiner
Rückkehr im Mai 1985 bezog ich mit Tarek Mousli eine gemeinsame Wohnung. Ich kannte ihn
damals rund zwei Jahre: zum einen über den Karatesport, zum anderen hatten wir uns beide –
allerdings in verschiedenen Gruppen – mit dem Abhören von Polizeifunk beschäftigt. Im Laufe
der Zeit hatte sich eine Freundschaft zwischen uns entwickelt. Zunächst lebte ich von
Gelegenheitsjobs, bis ich im April 1986 im MehringHof als Hausmeister angestellt wurde.

Wenige Wochen vorher wurde ich gefragt, ob ich Interesse hätte, mich mit der Politik der
„Revolutionären Zellen“ auseinander zusetzen, oder sogar Lust hätte, in einer „Gruppe“
mitzumachen. Ich möge darüber nachdenken, dürfe mich höchstens mit einer vertrauten und
zuverlässigen Person beraten, und solle mich für den Fall einer positiven Entscheidung zu einem
bestimmten Zeitpunkt in einem Restaurant in der Nähe des „Zoologischen Gartens“ einfinden.
Außerdem könne ich mir schon mal einen „Decknamen“ ausdenken. Falls ich zu diesem Termin
nicht komme, werde dies als Absage verstanden.

Zum einen fühlte ich mich „geschmeichelt“, von einer „Revolutionären Zelle“ angesprochen zu
werden, da die „Revolutionären Zellen“ in der „Szene“ einen „guten Ruf“ hatte. Ihre Politik schien mir durchaus attraktiv, präzise und sauber. Ausweislich verschiedener mir bekannter Texte verbanden sie eine fundierte politische Analyse mit einer sorgfältigen Auswahl der Ziele und einer
angemessen Dosierung ihrer militanten Aktionen. Die „Revolutionären Zellen“ versuchten
eklatante politischen Missstände aufzuzeigen. Sie hatten gezeigt, dass es möglich war, die daran
beteiligten Firmen und Institutionen anzugreifen. Unbeteiligte sollten nicht zu Schaden kommen.
Insbesondere aber wurde der politische Hintergrund der Aktionen nicht durch eine überzogene Militanz überlagert. Allerdings war ich mir über die Konsequenzen eines „Einstiegs“ nicht im
klaren, hatte keinerlei Erfahrungen mit klandestiner Arbeit und wusste nicht, inwieweit meine
Vorstellungen von den „Revolutionären Zellen“ realistisch waren.

Damals hatte ich zu Tarek Mousli ein enges Vertrauensverhältnis. Deshalb berichtete ich ihm
einige Tage später von dem Angebot. Er war von der Idee begeistert, gleichzeitig aber auch fast
„neidisch“, dass das Angebot mir - und nicht ihm - gemacht worden war. Jedenfalls meinte er, ich
solle „unbedingt“ auf das Angebot eingehen – und baldmöglichst vorschlagen, auch ihn
anzuwerben.

Etwa zwei Wochen später bin ich zu dem angebotenen Gespräch gegangen. In dem Restaurant
sprach mich eine mir zuvor nur vom Sehen bekannte Person an. Mit dieser habe ich dann an
diesem Tag und bei zwei weiteren Treffen über politische Positionen, Erwartungen der „Gruppe“,
meine persönliche Situation und Sicherheitsvorkehrungen gesprochen. Die Gespräche endeten
mit der Zusage, der „Gruppe“ werde meine Aufnahme empfohlen.

Einige Wochen später wurde ich zu einem „Gruppentreffen“ eingeladen und lernte die meisten
der anderen „Mitglieder“ kennen. Da Tarek Mousli mich zwischenzeitlich nochmals darum
gebeten hatte, teilte ich bei diesem Treffen mit, eine guter Freund von mir würde sich sehr freuen,
wenn auch ihm eine „Mitgliedschaft“ angetragen würde. Kurze Zeit später wurde Tarek Mousli ein
„Bewerbungsgespräch“ angeboten.

Als ich und einige Wochen später Tarek Mousli in die „Gruppe“ eintraten, begannen die ersten
Diskussionen über die spätere „HollenbergAktion“. Dessen Person und seine unsägliche Rolle in
der Berliner Ausländerpolitik waren damals jedem einigermaßen regelmäßigen Zeitungsleser
bekannt. Da Tarek Mousli und ich die „jüngsten“ in der Gruppe waren, wir noch keine
„Leistungsnachweise“ erbracht hatten, unsere „Zuverlässigkeit“ noch nicht überprüft war, unsere
Kenntnisse und Erfahrungen mit der „Funküberwachung“ aber durchaus bekannt waren, ergab es
sich gleichsam automatisch, dass uns dieser „Arbeitsbereich“ zugewiesen wurde. Am Tattag
hörte Tarek Mousli den Polizeifunk in unmittelbarer Tatortnähe ab, während ich das gleiche in
Kreuzberg tat. Der Grund für diese Aufteilung war banal: Tarek Mousli konnte gegebenenfalls
schneller wegrennen als ich.

Nach meiner Erinnerung fanden aus Sicherheitsgründen nach jeder „Aktion“ einige Wochen keine
„Gruppentreffen“ statt. Als wir uns zum ersten Mal wieder trafen, wurde die „Aktion“ – bei der
Hollenberg durch Schüsse in die Beine verletzt worden war - aufgrund ihrer Resonanz in der
Öffentlichkeit und der „Szene“ als großer Erfolg gewertet. Sie war plangemäß durchgeführt
worden und hatte die Handlungsfähigkeit der „Gruppe“ bewiesen. Inhaltlich wurde beschlossen,
die Ausrichtung auf die „Flüchtlingskampagne“ beizubehalten.

In Fortführung der „Flüchtlingskampagne“ kam der Vorschlag, nunmehr die Zentrale
Sozialhilfestelle für Asylbewerber „anzugreifen“. Tarek Mousli berichtete über seine dortigen
Erfahrungen. Er selbst hatte sich in diesem Gebäudekomplex regelmäßig einzufinden und
musste sich unter die Massen mischen, die dort um die Ausstellung oder Verlängerung einer
Aufenthaltserlaubnis nachsuchten. Dies war in der Tat damals ein entwürdigendes Schauspiel,
da sich bereits viele Stunden vor der Öffnung hunderte Menschen am Eingangstor drängten, um
eine Wartenummer zu ergattern.

Ich unterstützte den Plan, und die „Gruppe“ beschloss die Ausführung. In der Folgezeit
verbrachte ich viele Nächte mit der Erkundung des Geländes der Zentralen Sozialhilfestelle für
Asylbewerber, seiner Bewachung und der Umgebung. Das Gelände wurde nur unregelmäßig im
Vorbeifahren von polizeilichen Streifenwagen überprüft. Rückseitig grenzte es an ein weitläufiges
und wenig benutztes Bahngelände, welches durch zwei offene Auffahrten leicht zu erreichen war.
Zwischen dem Bahngelände und der Rückseite des Gebäudes befand sich ein ungesicherter
Maschendrahtzaun. Das Bahngelände war dunkel, das Gelände der Zentralen Sozialhilfestelle für
Asylbewerber nur spärlich beleuchtet. An der Gebäuderückseite war ein Raum, in dem sich
offensichtlich die Hausanschlüsse für Heizenergie und Strom befanden. Diese Stelle schien als
„Zielobjekt“ geeignet, um den Betrieb für einige Tage lahm zu legen.

Es wurde eine „Explosivmischung“ hergestellt und in einen Karton gepackt, der zuvor mit
Glasfasermatten verstärkt worden war. Der Karton wurde dann mit grauer Folie umklebt, um ihn
farblich dem Gebäude anzupassen.

Am Tattag – einem trüben Berliner Winterabend – traf ich mich mit einem weiteren
„Gruppenmitglied“ in der Nähe des UBahnhofes Amrumer Straße. Wir gingen über die
Putlitzbrücke und die Quitzowstraße zu dem Bahngelände. Ohne weitere Probleme überwanden
wir den Maschendrahtzaun. Wir stellten das Paket mit der Explosivmischung auf ein Brett und
lehnten es gegen die Außenwand des Gebäudes. Die Paketseite mit der Detonationsrichtung war
markiert und die elektrischen Anschlüsse noch offen. Wir zogen den Wecker auf, testeten die
Apparatur und schlossen den Stromkreis. Anschließend verließen wir das Gelände und fuhren in
unsere Wohnungen. Außerdem wurde ein bereits vorbereitetes „Bekennerschreiben“ versandt.

Die „Aktion“ hatte eine für uns enttäuschende Wirkung. Die Detonationskraft des Sprengsatzes
war zu gering, so dass er lediglich geringen Sachschaden anrichtete. Es wurde nur ein kleines
Loch in die Außenmauer gerissen, die Haustechnik aber nicht beschädigt. Es war uns nicht
gelungen, irgendetwas lahm zu legen – und die öffentliche Resonanz war entsprechend.

Nach einigen Wochen wurde auf einem „Gruppentreffen“ grundsätzlich die Fortführung der
„Flüchtlingskampagne“ gebilligt. Insoweit wurde angedacht, eine zweite „Aktion“ nach dem
Muster der „HollenbergAktion“ durchzuführen. Allerdings gab es bei dieser Diskussion auch
schon erste Stimmen, die das „danach“ kritisch thematisierten: inhaltliche Differenzen deuteten
sich an.

Die Rolle des Vorsitzenden Richters am Bundesverwaltungsgericht Dr. Korbmacher bei der
Abschiebung von asylsuchenden Menschen sollte exemplarisch thematisiert werden. Die
insoweit gebildete „Arbeitsgruppe“ übernahm die Planung und Vorbereitung der „Aktion“. Es
wurden ein Motorrad und ein Fahrzeug besorgt – übrigens nicht von mir. Da ich technisch ein
wenig vorbelastet war, wurde ich in die Modifizierung des Motorrades eingebunden.

Etwa eine Woche vor der Tat habe ich Einzelheiten des geplanten Ablaufs erfahren. Ich wurde
gebeten, während der Tat den Polizeifunk abzuhören, was ich auch tat. Auch diese „Aktion“ lief
wie geplant ab: Dr. Korbmacher war am linken Bein verletzt worden.


Drei Monate später wurden wir durch eine Durchsuchungsaktion im Bundesgebiet verunsichert,
mit der vermeintliche Mitglieder dortiger „Gruppen“ überzogen wurden. Bei einem kurzen Treffen
der „Berliner Gruppe“ wurde verabredet, sich einige Zeit ruhig zu verhalten und abzuwarten,
inwieweit wir berührt sind.

Im Frühjahr 1988 wurde der Versuch gemacht, zur inhaltlichen Auseinandersetzung
zurückzukehren. In den Diskussionen brachen die bereits ein Jahr zuvor latent vorhandenen
Differenzen in voller Schärfe auf. Während einerseits keine klaren Vorstellungen entwickelt
wurden, wie die „Flüchtlingskampagne“ fortzusetzen sei, hatten sich andere „Gruppenmitglieder“
zwischenzeitlich verstärkt dem Studium literarischphilosophischer Texte zugewandt und hielten
die „Patriarchatsfrage“ für den gesellschaftlichen „Hauptwiderspruch“. Ein „Mitglied“ wurde wegen
einer angeblich „frauenfeindlichen“ Äußerung ausgeschlossen, ein anderes „Mitglied“ wurde als
„Sicherheitsrisiko“ behandelt. Es begann ein zermürbender Prozess voller Vorwürfe, der
schlussendlich in Selbstzerstörung endete. In dieser Zeit sickerten auch die ersten Gerüchte über
die Ermordung von Gerd Albartus durch: die Leute, die ihn gekannt hatten, waren tief getroffen.
Die als Folge der Durchsuchungsaktion im Dezember 1987 „Untergetauchten“ forderten
praktische Unterstützung. Da sich die Auseinandersetzungen der ehemaligen „Mitglieder“
zwischenzeitlich fast zu persönlichen Feindschaften entwickelt hatten, wurde selbst die
Unterstützung der „Untergetauchten“ davon abhängig gemacht, mit welcher „Fraktion“ Kontakte
und inhaltliche Übereinstimmungen bestanden. Tarek Mousli und ich gerieten immer mehr
zwischen die verschiedenen Fronten. Waren wir für die einen „Genossen mit guter Vita“ und
Zugang zu „autonomen Kreisen“, dachten wir für andere „objektiv konterrevolutionär“. Für mich
war das Ende dieser Politik und meines Engagements in der „Gruppe“ gekommen.

Wenn ich gefragt werde, wieso sich die „Gruppe“ nicht offiziell aufgelöst hat, kann ich nur sagen,
dass wir noch nicht einmal zur Formulierung einer gemeinsamen „Auflösungserklärung“ oder zu
einer gemeinsamen Stellungnahme zur Ermordung von Gerd Albartus imstande waren. Übrig
blieb eine Sprachlosigkeit zwischen früheren „Mitglieder“ der Gruppe.


Auch meine persönlichen Beziehungen zu Tarek Mousli lösten sich mehr und mehr auf. Er
konzentrierte sich immer stärker auf seinen persönlichen Lebensstil und die – bezahlte –
Versorgung eines verunglückten Freundes.

Ich konzentrierte mich auf meine Tätigkeit im MehringHof, wo die gesamte Haustechnik mit dem
Ziel von Energieeinsparungen erneuert wurde. Nachdem diese Arbeiten abgeschlossen waren,
kündigte ich im April 1993 und reiste nach Kanada. Dort konkretisierte sich mein Plan,
irgendwann nach Kanada überzusiedeln. Zwar kehrte ich noch mehrmals nach Deutschland
zurück, arbeitete von 1994 bis 1996 bei einem Vertrieb von Blockheizkraftwerken, doch zog es
mich immer wieder nach Kanada.

Seit 1996 lebe ich in Yellowknife. Dort betreibe ich mit einer Freundin eine kleine Pension.
Außerdem verdiene ich etwas Geld durch Umbauten und Renovierungen in der Gemeinde.

Auf Veranlassung der Bundesrepublik Deutschland bin ich am 18. Mai 2000 in Yellowknife
festgenommen worden. Am 18. Juni 2000 wurde ich vom Vollzug der Auslieferungshaft
verschont. In den folgenden Jahren bis zu meiner Auslieferung durfte ich die Gemeinde nicht
verlassen und musste mich täglich bei der örtlichen Polizeiwache melden. Außerdem hatte ich
eine Kaution zu hinterlegen. Freunde von mir mussten außerdem für eine weitere hohe
Sicherheitsleistung bürgen. Am Ende des „extraditionhearings“ wurde ich vom 6. September
2001 bis zum 20. September 2001 erneut in Auslieferungshaft genommen, dann für die Dauer
des Berufungsverfahrens aber wieder haftverschont. Seit dem 17. Januar 2003 befand ich mich
für die Dauer der Berufungsverhandlung erneut in Auslieferungshaft. Da ich Rechtsmittel gegen
die Auslieferungsentscheidung eingelegt hatte, wurde ich am 14. Februar 2003 für die Dauer des
Verfahrens vor dem Supreme Court wieder vom Vollzug der Auslieferungshaft verschont,
allerdings wurde die Bürgschaft deutlich erhöht. Am 11. September 2003 wies der Supreme
Court meine Beschwerde gegen die Auslieferungsverfügung zurück. Deshalb begab ich mich am
12. September 2003 wieder in kanadische Auslieferungshaft. Am 15. Oktober 2003 wurde ich der
Bundesrepublik Deutschland übergeben. Am 16. Oktober 2003 traf ich in Frankfurt ein. Am
nächsten Tag wurde mir der Haftbefehl verkündet. Bis zum 19. Dezember 2003 befand ich mich
dann in Untersuchungshaft, von der ich seither gegen Auflagen verschont bin.

Seit einigen Monaten arbeite ich wieder bei einem Vertrieb von Blockheizwerken. Ich hoffe,
baldmöglichst nach Kanada zurückkehren zu können.

Lothar Ebke.

 

10.07.2004
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