Berlin: Weinrich-Prozess: Urteil
Freispruch
84. Verhandlungstag im Weinrich-Prozeß
Die meisten Prozeßbeteiligten hatten dieses Urteil seit Wochen so erwartet, die Presse zeigte sich "überrascht": Nach mehr als 17 Monaten Verhandlungsdauer erging der Richterspruch im Verfahren gegen Johannes Weinrich (57). Die Anklage hatte ihm zur Last gelegt, als führendes Mitglied der sogenannten Carlos-Gruppe für insgesamt sechs Bombenanschläge zwischen 1975 und 1983 in Frankreich, Deutschland und Griechenland mit insgesamt sechs Toten und zahlreichen Verletzten maßgeblich verantwortlich zu sein. Im Laufe des Verfahrens wurden drei Tatkomplexe wegen der Gefahr der Überlänge des Verfahrens abgetrennt, sodaß das gestrige Urteil nur noch drei Anschläge in Frankreich 1982 und 1983 betraf.
Der Vorsitzende der 35. Großen Strafkammer begründete den Freispruch mit dem Mangel an Beweisen. "Wir wissen nicht, was wirklich war. Glauben kann man anderswo, wir müssen beweisen, um zu verurteilen", so Richter Ehestädt. Weinrich könne aufgrund der vorgebrachten Indizien kein individueller Tatbeitrag zugeordnet werden. Richter Ehestädt rügte ausdrücklich Oberstaatsanwalt Mehlis, der Aktenmaterial nur teilweise übersetzt und oft lückenhaft vorgelegt habe. So lägen von 10.000 Seiten französischer Ermittlungsakten hier gerade einmal 2.000 Seiten vor. Es sei "kaum zu glauben, was die da gemacht haben", so der Vorsitzende. Um diesen Mangel zu beheben, hätte es einer Aussetzung des Verfahrens und der Hinzuziehung und Übersetzung großer Aktenteile bedurft, was wiederum zur Überlänge des Verfahrens geführt hätte.
Ein Großteil des vorgelegte Aktenmaterials stamme aus Unterlagen des ehemaligen ungarischen und ostdeutschen Staatssicherheitsdienstes und präsentiere "Mutmaßungen und Vermutungen", ohne konkrete Tatsachen zu belegen. Konkrete Beweise seien aber für eine Verurteilung erforderlich. Dutzende von Angehörigen der Staatssicherheitsdienste hätten die Akten individuell bearbeitet und verändert. Die Urheberschaft Weinrichs an den konspirativ erworbenen Aufzeichnungen sei lediglich "nicht auszuschließen", stehe aber mitnichten fest.
Die angebliche Aussage des Gruppenmitglieds Ali al Issawi beim jordanischen Militärgeheimdienst GID im Jahr 2001, die Weinrich teilweise schwer belastet hatte, habe für die Kammer "keinen Beweiswert". Die Frage, ob Issawi in Jordanien gefoltert worden sei oder nicht, sei für die Kammer unerheblich, da hierfür keine Tatsachen vorlägen. Issawi sei für französische Ermittler in Jordanien weder zu sehen noch zu sprechen gewesen, zudem weise die angebliche Aussage Widersprüche auf, die von der Kammer nicht aufzuklären seien. "Wir haben kein Gefühl für diesen Zeugen entwickeln können", wie Ehestädt sich ausdrückte. Die Aussage sei "unter Geheimdiensten entwickelt worden" und der französische Geheimdienst-Mitarbeiter Riou habe sich im hiesigen Verfahren "sehr bedeckt gehalten". Wichtige Zeugen, wie etwa die ehemalige Gefährtin Weinrichs, Magdalena Kopp, hätten die Aussage verweigert, die Zeugenaussage des in Paris inhaftierten Illich Ramirez Sanchez ("Carlos") im hiesigen Verfahren habe die Justizverwaltung verhindert. In Frankreich selbst gebe es bis heute keine Anklage zu den Anschlägen, die Ermittlungslage sei "mager". So sei beispielsweise nicht zu klären gewesen, wer seinerzeit das Tatfahrzeug für den Anschlag in der Rue Marbeuf angemietet habe oder wer das Auto schlußendlich dort abgestellt habe. Klar sei nur, daß Weinrich dies nicht getan hat.
Ehestädt bezog sich mit diesem Urteil auch ausdrücklich auf das Revisionsverfahren im Fall Motassadeq. Der BGH habe darin festgelegt, daß bei einer derart verkürzten Beweislage besonders strenge Maßstäbe an eine Urteilsfindung anzulegen seien.
Die Kammer habe bereits in einem Beschluß von 1999 festgestellt, daß die damals vorliegenden "Beweise" nicht für einen dringenden Tatverdacht ausreichen. Die Aussage von Kopp und Issawi hätten "das Bindeglied" sein können, fehlten der Kammer nun aber bei der Beweiswürdigung.
Die Kammer sehe wohl, daß dieses Urteil für die Opfer der Anschläge unbefriedigend sein müsse, aufgrund der vorgelegten Indizien sei eine Verurteilung jedoch nicht zu rechtfertigen. Die Kammer könne das auch nicht "so hinbiegen, nur weil Weinrich ein Terrorist ist, auch wenn das vielleicht wünschenswert wäre", so Ehestädt.
Oberstaatsanwalt Mehlis und einige Nebenklagevertreter denken nun über eine Revision nach.
|