Die Oberhessische Presse rechnete noch anläßlich des Marktfrühschoppens 1999 aus, dass zur Zeit fast zehn Prozent der männlichen Studierenden in Marburg Verbindungsmitglieder sein dürften, die Zahl der Alten Herren aus Marburger Verbindungen beläuft sich nach der gleichen Berechnung auf über 6000.
Zahlen, die eine nähere Beschäftigung mit der Marburger Verbindungsszene sinnvoll erscheinen lassen. Es gibt in Marburg derzeit dreißig Verbindungen, die in dreizehn verschiedenen Dachverbänden organisiert sind, zwei von ihnen sind freie Korporationen ohne Dachverband. Knapp die Hälfte der Marburger Verbindungen sind pflichtschlagend: Alle, die in den Dachverbänden Deutsche Burschenschaft (DB), Coburger Convent der Landsmannschaften und Turnerschaften (CC) und Kösener Senioren Convents Verband (KSCV) Mitglied sind. Die restlichen Verbindungen sind entweder fakultativ schlagend oder lehnen Mensuren ab. Die deutliche Mehrheit der Verbindungen ist farbentragend: Die Mitglieder von 23 Verbindungen laufen mit den begehrten bunten Bändchen und Mützen herum. Zur Zeit gibt es nur noch eine reine Frauenverbindung, die WKStV Unitas Elisabetha-Thuringia, in der 1999 zwölf Studentinnen zusammengeschlossen waren. Sie ist eine Abspaltung der Männerverbindung WKStV Unitas Franko-Saxonia und teilt sich mit denselben das Verbindungshaus. Die AMV Fridericiana nimmt sowohl Frauen als auch Männer auf. Insgesamt waren 1999 50 Frauen in Verbindungen aktiv.
Die drei größten Verbindungen Marburgs sind die farbentragende und pflichtschlagende Burschenschaft Alemannia, das ebenfalls farbentragende und pflichtschlagende Corps Teutonia und die farbentragende und nur fakultativ schlagende Burschenschaft Arminia Marburg mit jeweils über 40 studentischen Mitgliedern.
Die in nichtkorporierten Kreisen bekanntesten Marburger Verbindungen sind jedoch andere: Wegen ihrer rechtsextremen Mitglieder und Umtriebe erlangten die Burschenschaft Rheinfranken, Burschenschaft Germania, Burschenschaft Normannia-Leipzig (alle in der DB) und die Burschenschaft Alemannia eine traurige Berühmtheit. Nach einer näheren Betrachtung des Verbindungswesens wird allerdings schnell klar, dass die rechtsextremen Aktivitäten und Personen in Verbindungen nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Natürlich sollte man sie nicht außer acht lassen – genauso wenig sollte man sich jedoch ausschließlich auf sie konzentrieren. Denn für alle Verbindungen, von den Rheinfranken bis zu den Fridericianern gilt: Ihr zunächst grundsätzlich elitär-konservatives Weltbild, ihre hierarchischen Strukturen und das in der »Erziehung« ihrer Mitglieder angestrebte autoritäre Persönlichkeitsideal ersticken das Entstehen progressiven Gedankenguts in den Köpfen einzelner Korporierten zumeist schon im Keim. Das in allen Verbindungen wirkende Seilschaftsprinzip bewirkt zusätzlich, dass Korporationen eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Kraft sind, da immer ein gewisser Prozentsatz ihrer Mitglieder in gesellschaftliche Schlüsselpositionen gelangt.
Diese Faktoren führen dazu, dass Verbindungen innerhalb der Gesellschaft eine die konservativen Werte sowie die rassistischen und sexistischen Diskriminierungsmuster unterstützende Funktion einnehmen.
nächster Artikel: „Wenn eine Verbindung harmlos sein will, soll sie sich auflösen“Ein Interview mit einem ehemaligen Korporierten, der sich heute gegen Verbindungen engagiert. Es wird ein Einblick in die Riten und Bräuche der Burschenschaften gegeben, und die Erziehung zu Disziplin, Unterordnung und Trinkfreudigkeit aus erster Hand dargestellt. |