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Tue Oct 15 20:20:24 1996
 

Inhalt
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Situation in der BRD. [1]

Wurzen-Broschüre.

Es wäre falsch, die Entwicklung im Muldentalkreis losgelöst von der Gesamtsituation in der Bundesrepublik zu betrachten. Es handelt sich keineswegs um einen Begleitumstand ohne Ursachen im identitätsstiftenden Funktioneren des Gemeinwesens BRD.

Einleitung.

Für eine Broschüre über faschistische Aktivitäten in einer Stadt oder einem Gebiet ist es wichtig, daß sie objektiv darstellt, welche Informationen es über die Situation gibt. Leider ist Objektivität aber ein Mythos, der den Eindruck erweckt, es gäbe die eine Analyse, die alle bekannten Fakten an den einen, ihnen zugehörigen Platz stellt. Auch die Texte in dieser Broschüre haben die Aura dieser allwissenden Autorität. Trotzdem sind wir uns der Tatsache bewußt, daß unsere Analysen von unserer Position in dieser Gesellschaft bestimmt sind. Was - abgesehen von der allgemeinen Praxis - veranlaßt uns also zu einer Darstellung, die entschieden bestimmte Veränderungen fordert, und was ist unsere Position im Gesellschaftssystem der BRD?
Das AutorInnenkollektiv dieser Broschüre begreift sich, auch als Einzelpersonen, als Teil der radikalen Linken in der BRD. Die radikale Linke steht für uns dabei in der Widerstandstradition, die 1968 mit der Konstitution der Neuen Linken begann. Auch wenn sich diese Tradition in den 70er und 80er Jahren in der DDR kaum auswirkte, da es die Neue Linke in der DDR nicht geben konnte, stehen wir heute mit unseren Konzepten eines autonomen/unabhängigen Widerstandes vor strukturell gleichen Problemen wie die Linke in der BRD, die diese Zeit unvermittelt als eigene Geschichte begreifen kann. Als ihre entscheidende Schwäche begreift die Linke in der BRD derzeit die Unfähigkeit, über einen kampagnenhaften Politikansatz hinauszukommen. Das »reagieren auf« bringt sie kaum weÌter, als die Dinge beim Namen zu nennen, sie in z.T. bewußt geschlossenen Diskursen zu analysieren. Beklagt wird der Schwund an radikalem Potential, daß sich über Teilbereichsforderungen hinaus über eine grundlegende Ablehnung des Systems definiert. Die Ablehnung des Systems geht dabei über die Kritik des Wirtschaftsmodells Kapitalismus hinaus, so daß Rassismus, Sexismus, Nationalismus usw. nicht allein unter ökonomischen Gesichtspunkten analysiert werden.
Die Situation der Machtlosigkeit gegenüber sich rasant ändernden gesellschaftlichen Verhältnissen innerhalb des Kapitalismus enthebt die radikale Linke derzeit aber nur scheinbar der Aufgabe, sich mit den Phänomenen der Macht in ihren eigenen Ansätzen zu beschäftigen. Die Existenz von politischen Kleinstgruppen führt leicht dazu, daß Positionen verhärten, »essentials« festgeschrieben werden. Unserer Ansicht nach besteht die Stärke der radikalen Linken aber genau in jenen Traditionen, die sich nicht auf unumstößliche Weltbilder festlegen ließen, sondern sich die Möglichkeiten der Offenheit erkämpften. Offenheit bedeutet in diesem Zusammenhang gerade nicht die Aufgabe radikaler Kritik, Beliebigkeit und fehlende Auseinandersetzung.
Diese Broschüre ist für uns in diesem Sinne auch der Versuch der Bestimmung unserer derzeitigen Position in den Auseinandersetzungen mit den faschistischen Strukturen und ihren Möglichkeiten im Muldentalkreis. Die augenblicklichen Versuche, den Faschisten mit einem breiten Bündnis entgegenzutreten, sind für uns nicht unproblematisch, wenn zu den BündnispartnerInnen ein in weiten Feldern kritisches Verhältnis besteht. Wir begreifen Antifaschismus nicht als Hauptwiderspruch, der uns hier Entscheidungen erleichtert. Um ehrlich zu sein, halten wir aber von der Idee, es gäbe Haupt- und Nebenwidersprüche, so wenig, daß es uns unmöglich ist, vor dem Gefahrenpotential der Entwicklung die Augen zu verschließen und uns den Entwürfen der »freien, solidarischen Gesellschaft« zuzuwenden, die dereinst das Problem ohnehin beseitigen wird. Die faschistische Mobilisierung im Muldentalkreis, die sich in einer unseres Wissens ungekannten Qualität vollzieht, muß gestoppt werden.

Antikommunismus und Nationalismus.

Zwei wesentliche ideologische Elemente der bundesdeutschen Gesellschaft, die es ihr unmöglich machen antifaschisch zu sein, sind die Konzepte des Antikommunismus und des Nationalismus. Beide sind ihrer Funktion nach gemeinschaftsbildend in einem herrschaftsstabilisierenden Sinn. In der Phase des Kalten Krieges lieferte der Antikommunismus, der in dieser Version von den rassischen und völkischen Elementen des bis dahin vorherrschenden nationalsozialistischen Antikommunismus befreit war, das Bedrohungsszenario, mit dem sich eine Solidargemeinschaft »aller Demokraten« schaffen ließ. Es gelang mit der ideologischen Aufblähung der Totalitarismusthese, Alternativmodelle sowohl außerhalb als auch innerhalb der Gesellschaft zu diskreditieren. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die kollektiv entlastende Funktion des Totalitarismusgedanken. War dieser ursprünglich konzipiert, um strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem Herrschaftsmodell des deutschen Faschismus in den Jahren von 1933-45 und eines Teils der Stalinära in der Sowjetunion zu charakterisieren, so entstand mit seiner Popularisierung eine jede historische Einmaligkeit der Verbrechen des deutschen Faschismus einebnende Gleichsetzung faschistischer und sozialistischer, d.h. moderner nichtbürgerlicher Systemansätze. Wenn aber der Totalitarismus in diesem Jahrhundert überall auf der Welt Siege erringen kann, wenn er also ein Zeitphänomen der Moderne darstellt, dann ist es nur konsequent eigenes antitotalitäres, was konkret bedeutete antikommunistisches Handeln als geschichtlich legitimiert zu begreifen. Wenn andererseits die bürgerliche Gesellschaft das einzige denkbare Bollwerk gegen den Totalitarismus darstellt, dann ist sie auch der einzige Garant des Antifaschismus, und ihre faschistischen Strukturansätze müssen unbeachtet bleiben. Nach 1989 verlor der Antikommunismus in der BRD seine einheitsstiftende Funktion im großen Maße, sehen wir von Stasihysterie und Anti-PDS Kampagnen ab, die ruhig als sich langsam überlebende Relikte angesehen werden dürfen. Dafür ist seine Legitimationsfunktion immens gestärkt worden. Die bürgerliche Gesellschaft hat jetzt sowohl Faschismus als auch Sozialismus besiegt. Die so entstandene Position der Unangreifbarkeit bildet den Horizont derzeit möglicher gesellschaftlicher Diskussionen über Alternativen zum Gegenwärtigen.
Anders als der Antikommunismus liegt das gemeinschaftsbildende Potential des Nationalismus nicht in der Konstruktion einer äußeren Bedrohung, die es notwendig macht gemeinsam zu handeln, sondern in der Erklärung einer historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Schicksalsgemeinschaft, die sich klar definieren läßt. Definitionsmerkmal des deutschen Nationalismus ist und bleibt dabei das Blut, d.h.eine rassisch reine Ahnenreihe, die auf Gründungsmythen in germanischen Zeiten verweist. Reproduziert über Sprache und Kultur vermögen Nationalismen auch Zeiten zu überleben, in denen sie gesellschaftlich lediglich eine untergeordnete Rolle spielen. In Zeiten der Krise oder zur Durchsetzung von Herrschaftsinteressen lassen sie sich so schnell wieder reaktivieren. Wenn die Parole ausgegeben wird, die Gürtel seien enger zu schnallen, läßt sich die nationale Mehrheit leicht dazu bringen, zu entscheiden, wer auf »ihrem« Territorium überhaupt Rechte hat. Plötzlich lassen sich wieder Feinde, Fremde innerhalb der Gesellschaft ausmachen. Abschottungsprozesse setzen ein, Vertreibungen und Pogrome finden statt. Gleichzeitig ist es möglich, überindividuelle Interessen unter dem Banner der Gemeinschaft zu formulieren, die sich der Kontrolle der betroffenen Individuen entziehen. Die »Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland« konnte so zum nationalen Ziel werden. Was dieses Programm in seiner Konsequenz bedeutet, wo der tiefere Sinn höherer Abgaben und niederigerer Löhne und Sozialleistungen liegt, ist für die Einzelnen nicht nachprüfbar. Eine solche Frage ist nichtmal gewollt. Der Nationalismus liefert hier unhintergehbare Erklärungen.

1968 und die Folgen.

Wer in der BRD auf der Suche nach dem gesellschaftlich wirksamen Antifaschismus ist, wird zwangsläufig die Jahre um 1968 erwähnen müssen. In dieser Zeit, als die Nachkriegsgeneration zu verstehen begann, was ihre Eltern und die herrschenden politischen Eliten in den 30er und der ersten Hälfte der 40er Jahre getan, unterstützt und toleriert hatten, wurden Forderungen laut, die, folgen wir den Legenden der damaligen ProtagonistInnen, eine nachhaltige »Zivilisierung« der bundesdeutschen Gesellschaft zur Folge hatten. Diese »Zivilisierung« führte zwar dazu, daß in der folgenden Zeit viel über die NS-Vergangenheit führender Kader aus Politik und Wirtschaft recherchiert wurde, aber die Ergebnisse dieser Recherchen bestätigen nur, daß eine Entnazifizierung nichteinmal in den sensibelsten Bereichen der Gesellschaft stattgefunden hat. Ein weiteres Resultat dieser »Zivilisierung« war die Aufwertung der öffentlichen Meinung. Waren sich bis 68 die »alten Herren« ihrer Macht so sicher, daß sie Medien nur zur einfachen Verlautbarung einsetzten, hat sich seitdem der public relations Apparat als feste Größe der Herrschaft etabliert. Ein Umstand, der sich unbemerkt von vielen, die damals die Kommunikation als subversives Element zu nutzen gedachten, vollzog. Wenn wir uns heute also fragen, was von der nachaltigen »Zivilisierung« außer Alice Schwarzer in Alfred Bioleks Küche bleibt, müssen wir zumindest festhalten, daß die faschistischen Kontinuitäten in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unangetastet blieben. Mehr noch, daß eine gesellschaftlich relevante Aufarbeitung des deutschen Faschismus und seiner komplexen Ursachen unterblieb. Es soll hier nicht behauptet werden die BRD sei ein faschistischer Staat. Es bleibt aber der entscheidende Unterschied zwischen einem nichtfaschistischen und einem antifaschistischen Staat. So lassen sich beispielsweise Sozialpartnerschaft der Ludwig Erhard Ära und die sich aus ihr ergebenden demokratischen Elemente (»Wohlstand für alle«) in Begriffen der Volksgemeinschaft bruchlos denken.

Die Wende 1982.

Eine Zeitlang war es in der (west)deutschen Linken üblich, das Erstarken des Neofaschismus mit den Ereignissen der Jahre 1989 und 1990 zu erklären. Mit etwas Distanz betrachtet, bietet allerdings schon die »geistig-moralische Wende« des Jahres 1982, d.h. der Wahlsieg der Kohlschen CDU, Ansätze, die zur Eklärung der heutigen Situation unabdingbar sind. Im wirtschaftlichen Bereich zeigten sich zaghafte Ansätze dessen, was in der jetzigen Diskussion als »Neoliberalismus« bezeichnet und im politischen Alltagsdiskurs mit Deregulierung und Sozialabbau beschrieben wird. Das dabei nicht in dem Ausmaß vorgegangen wurde, wie es sich im thatcheristischen Großbritannien oder den reaganomical USA beobachten ließ, war wohl nicht zuletzt dem Frontcharakter der beiden deutschen Staaten geschuldet, der ihnen im jeweiligen Wirtschaftssystem eine Sonderrolle verschaffte. Viel wesentlicher für antifaschistisches Handeln in der BRD ist jedoch die Verschiebung der politischen Diskurse, die sich in dieser Zeit vollzog. Eckdaten dieser Entwicklung sind der Historikerstreit, die Ehrung der gefallener SS-Schergen in Bitburg durch den Bundeskanzler Helmut Kohl 1985 und die Erklärung des damaligen Bundespräsidenten Weizsäcker zum vierzigsten Jahrestages des Sieges über den Hitlerfaschismus, die Deutschen seien am 8. Mai 1945 »befreit« worden.
Seit 1982 findet ein kontinuierlicher Rückzug links-liberaler Ideen aus der öffentlichen Diskussion statt. Die Möglichkeiten des opinion leading konzentrieren sich in den Händen konservativer und rechter Kreise, die ihren ehmals politischen Gegenpol mit sich ziehen, weil dieser zunehmend befürchtet, jegliche Einflußnahme zu verlieren. Was früher als linke Domäne galt, der Tabubruch, wird heute von einer jungen Rechten mit wachsender Begeisterung und ohne auf ernsthaften Widerstand der fassunglosen links-liberalen Diskussionsgemeinde zu stoßen, praktiziert. Dadurch hat sich in der BRD nicht nur das politische Koordinatensystem verschoben, so daß sich in den 70er Jahren eindeutig rechtsextreme Forderungen heute auch im Zentrum der Gesellschaft finden lassen. Es treten heute auch Vermittlungsprobleme radikal-antifaschistischen Engagements auf, die durch die Kritik an der öffentlichen Meinung in den Punkten, an denen sie mit faschistischen Forderungen übereinstimmt, entstehen.

Die Wende 1989.

Das Ende der DDR ab dem Herbst 1989 bedeutete für die Rechtsentwicklung der BRD einen qualitativen Sprung. Die sich beginnend im November 89 immer weiter hoch schaukelnde nationalistische Euphorie, die kaum verdeckt das moralische Feigenblatt für die materiellen Gelüste der Mehrheit der DDR-Bevölkerung lieferte, gab auch dem Rechtsradikalismus der Alten wie der Neuen Rechten, faschistischen Parteien und Faschoskins Auftrieb. In der Strategie der wirtschaftlichen und politischen Eliten erfüllte der Nationalismus seine Legitimationsfunktion. Im Zusammenhang mit den Übernahmekosten des DDR-Systems ergab sich für die »Gestalter der Einheit« die Möglichkeit, Errungenschaften aus der Zeit des »Schaufensterkapitalismus« abzubauen.
Unter dem Slogan der »gewachsenen Verantwortung des wiedervereinigten Deutschlands in der Welt« war es zeitgleich möglich, zu einer »Normalisierung« der deutschen Position in der Geschichte überzugehen, die eine euphemistische Umschreibung geopolitischer Vormachtsbestrebungen ist. Nicht mehr eingebunden in die Blockstrukturen des Kalten Krieges, zeigt sich bei den immer zahlreicher werdenden Auslandseinsätzen der Bundeswehr, besonders aber mit der Anerkennungspolitik im ehemaligen Jugoslawien, daß die neue deutsche Außenpolitik ein Instrument nationaler Interessenvertretung auch gegen internationale Bündnisse sein kann. Dabei setzt sie sich derzeit immer noch dort Grenzen, wo die Bündnisfähigkeit grundsätzlich infrage gestellt wird - die »Lehre aus der Geschichte«. Ein weiteres Feld nationaler Vormachtsbestrebungen ist die EU-Politik der Bundesregierung. Hier werden deutsche Interessen inzwischen so unverblümt durchgesetzt, daß viele Verbündete das ungute Gefühl beschleicht, der in weiten Teilen von der BRD diktierte europäische Vereinigungsprozeß werde am Ende nicht zu einem vereinigten Europa, sondern zu einem Europa unter deutscher Herrschaft führen. Und in der Tat spricht die Kerneuropathese mit einem immer kleiner werdenden Kern eine sehr deutliche Sprache.
Innenpolitisch sind diese nationalen Manöver von der Beschwörung der Solidargemeinschaft (Solidarzuschlag), der Militarisierung öffentlicher Räume (öffentliche Gelöbnisse und Zapfenstreiche, publizistische Werbung für den Einsatz der Bundeswehr an den Orten der Verbrechen der Wehrmacht) und dem Versuch einer endgültigen Einordnung und Verharmlosung des deutschen Faschismus in die Welt der Geschichte begleitet (Entdeckung und Kultivierung des militärisch-nationalen Widerstandes um Graf Stauffenberg, Dresden
1995).

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