Beginn der Europäisierung
Ende der 70er Jahre kam es erstmals in einigen europäischen Ländern
zu verstärkter Einreise von Flüchtlingen aus dem Trikont. Diese
Länder reagierten mit restriktiveren Einreisebestimmungen, wie z.B. dem
Visumzwang. Auf die Dauer schaffte dies aber keine Abhilfe. Anfang der 80er
verständigten sich die europäischen Länder erstmals über
eine gemeinsame Abschottungspolitik. Diese Überlegungen verliefen parallel
zur Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes, der Handels- und
Reisebeschränkungen aufheben sollte. Da die Länder in der EG sich
aufgrund unterschiedlicher AusländerInnen- und Asylgesetze bzw. wegen
Kompetenzschwierigkeiten nicht schnell einigen konnten, wurden erst
zwischenstaatliche Abkommen angestrebt. Das wichtigste an EG-Gremien vorbei
vereinbarte Abkommen stellt das von Schengen dar, welches ursprünglich von
den "Kernländern" Deutschland, Frankreich und den Benelux-Länder
vereinbart wurde und als Wegbereiter sowie Versuchsmodell für EG-weite
Vereinbarungen fungiert. (siehe Abschnitt Schengen).
Trotz dieser zwischenstaatlicher Vereinbarungen blieben die EG-Gremien bezüglich der Abschottungspolitik nicht untätig. So gründeten die europäischer Innen- und JustizministerInnen den Zusammenschluß TREVI (=Terrorism, Radicalism, Extremism, Violence International), welcher ohne jegliche parlamentarische Kontrolle agiert. Die vierte TREVI-Arbeitsgruppe sollte sich mit den "Sicherheitsdefiziten" beschäftigen, die durch die Öffnung der Binnengrenzen entstehen würden. Wichtiges Thema dieser Arbeitsgruppe, TREVI 92 genannt, war das "Problem" der Einwanderung. Nach Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages im November 1993 wurde die TREVI 92 Ad-hoc Arbeitsgruppe Einwanderung in die offiziellen Strukturen überführt und heißt seitdem "K4, Steering Komitee I". Diese halbjährlichen Treffen der MinisterInnen und die ständigen Beratungen der Fachleute dienten der Schaffung eines gemeinsamen, restriktiven Asyl- und Einwanderungsrechtes für Europa. Die dazu notwendigen Anpassungen der nationalen Gesetze wurden in den jeweiligen Land mit der "Harmonisierung" der eigenen, angeblich so großzügigen Gesetze an den EG-Standard erklärt und durchgesetzt. Besonders die BRD tat sich dabei hervor. So bat die Bundesregierung inoffiziell andere Länder, von außen öffentlichen Druck auf die BRD auszuüben, damit die deutschen Asylgesetze verändert werden konnten.
Im Juni 1993 verabschiedete die europäische Ministerkonferenz in
Kopenhagen Richtlinien zur Entfernung von Flüchtlingen aus dem eigenen
Land. So sollen illegal Eingereiste abgeschoben werden, sowie abgelehnte
AsylbewerberInnen, illegale ArbeiterInnen und Flüchtlinge, die die
öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährden. Auszuweisen sind
ferner alle ausländischen BürgerInnen, die bei der illegalen
Einreise, Beschäftigung oder Unterbringung von Flüchtlingen beteiligt
waren. Damit soll die Entsolidarisierung zwischen den "Legalen" und den
Illegalisierten weiter vorangetrieben werden.
Änderung des Art. 16 GG
In fast allen Ländern schliffen die Regierungen unter dem Druck der von
ihnen selbst erzeugten europäischen Bestimmungen die jeweiligen Asyl- und
Einwanderungsgesetze. Besonders kraß lief dies in der BRD ab. Bis zur
Änderung des Art. 16 GG entfachten die Medien und PolitikerInnen der
Koalition und zum Teil auch der Opposition eine bis dahin ungekannte Hetze
gegen AusländerInnen, die nicht mehr als menschliche Subjekte in der
Debatte vorkamen, sondern nur noch als "Wellen", "Fluten" und "Ströme",
die die "Dämme" zum Einbruch bringen. Neonazisitische Übergriffe, die
vor Mord nicht zurückschreckten, und rassistische Pogrome waren die Folge.
Diese wurden auch, wie in Rostock, von breiten Teilen der Bevökerung
unterstützt und von der Polizei geduldet, um anschließend den
PolitikerInnen als Begründung für einen konsequenten Kampf gegen
weitere Zuwanderung zu dienen. Gleichzeitig zogen die rechtsextremen Akteure
ihre Legitimation aus der Anti-Asyl-Kampagne in Medien und Parlament.
Schließlich drohte Kohl mit der Verhängung des Staatsnotstandes, die
SPD kippte und am 26.5.1993 wurde der neue Art. 16a GG im Bundestag
verabschiedet. Er enthält genau jene schon oben beschriebene
Instrumentarien, wie die "Drittstaaten"- und "sichere
Herkunftsländer"-Regelung. Der "Erfolg" ließ nicht lange auf sich
warten: Die Zahl der AsylbewerberInnen ging um 70% zurück.
Die anderen europäischen Länder änderten ebenfalls in den
letzten Jahren, teilweise im Sog der Entwicklungen in der BRD, ihre Gesetze.
Das Vorgehen an den Grenzen und im Land wird immer brutaler. Italien setzte
sein Militär gegen albanische Bootsflüchtlinge ein, Österreich
stationierte an der Ostgrenze das Bundesherr und die Spanische Marine macht
Jagd auf Fischereiboote aus Afrika - um nur einige Beispiele zu nennen.[1]
Die Mauer wächst weiter...
Mit der Verschärfung der nationalen Asyl- und AusländerInnengesetze
und den neuen europäischen Instrumentarien ist diese Entwicklung
keineswegs beendet. Die Mauern um Europa werden kontiunierlich weiter gebaut.
So lehnte das Europäische Parlament Mitte Oktober 1995 die Verabschiedung
von Mindeststandards bei der Zurückweisung von Flüchtlingen ab. Die
Mindeststandards hätten einen Schutz vor Abschiebung in einen Drittstaat,
der nicht sicher ein Asylverfahren durchführen kann, gewährleistet,
Regeln gegen Kettenabschiebungen beinhaltet und einige Datenschutzbestimmungen
garantiert.[2]
Die Ablehnung dieser Initiative bedeutet, daß die BRD z.B. KurdInnen aus
dem Irak nach Rumänien abschieben kann, wo es für sie kein
Asylverfahren gibt, dafür einen von rumänischen Behörden
angeordneten Weiterflug in die Türkei. Die türkischen Behörden
schaffen die KurdInnen dann über die Grenze in den Irak - und die
jeweiligen Länder erhalten von der BRD personenbezogene Daten, wer da
warum und wie kommt.
Schengen
1985 vereinbarten 5 europäische Länder (Frankreich, BRD, Benelux) in
Schengen die Öffnung der Binnengrenzen bis zum 1.1.1992 und den Aufbau
einer gut funktionierenden Sicherung der Außengrenzen. Die Vereinbarungen
von Schengen sollen solange gelten, bis die entsprechenden Beschlüsse der
Dubliner Asylrechtskonvention europaweit Anwendung finden. Die Umsetzung des
Schengener Abkommens wurde immer wieder verschoben. Zuerst wegen der fehlenden
Durchführungsbestimmungen und Problemen mit dem gemeinsamen
Datenaustauschsystem (Schengener Informations-System = SIS). Später
herrschten Meinungsverscheidenheiten über die jeweilige Polizeihoheit im
eigenen Land bei Fragen, wie dem gemeinsamen Zugriff auf alle Daten oder der
Nacheile, d.h. der Verfolgung von Verdächtigen oder StraftäterInnen
über die Grenze hinweg. Getreu dem Ausspruch des ehemaligen Innenminsters
Wolfgang Schäuble "Der Schlagbaum ist kein besonders intelligentes
Fahndungsinstrument" (1991) geht die schrittweise Abschafffung der Innengrenzen
einher mit der Einführung eines "intelligenten Fahndungsinstrumentes", der
Computertechnik, die auch bei der Abschottung der Außengrenzen zur
Anwendung kommen soll. Für 129 Länder führte das Schengengebiet
die gemeinsame Visumpflicht ein. Nur 25 Länder der Welt sind in keinem der
Schengen-Länder visumpflichtig.
Der SIS-Computer
Alle am Schengen-Abkommem beteiligten Länder speisen in den zentralen
Computer des SIS alle Personen ein, die
Da weder EU-Behörden noch die nationalen Regierungen für Schengen
direkt verantwortlich sind, kann niemand gegen Entscheidungen im Rahmen des
Schengener Abkommens klagen. Wenn mensch z.B. ausversehen in der Fahndungsdatei
des SIS landet und nun europaweit gesucht wird. Dies betrifft vor allem in
Deutschland abgelehnte und dann untergetauchte AsylbewerberInnen, die - zum
Teil schon seit Jahren - in anderen Schengenländern einen Aufenthaltstitel
besitzen - laut Computer also illegal sind und abgeschoben werden müssen,
in Wirklichkeit aber frei herum reisen dürfen.[3]
Theorie und Praxis der offenen Grenzen
Im März 1995 trat das Schengener Abkommen in Kraft. Theoretisch wird an
den Binnengrenzen nicht mehr kontrolliert. Praktisch tut jedes Land das, was es
für die eigene Sicherheit für richtig hält. So läßt
Frankreich weiterhin an den Binnengrenzen kontrollieren, da dem konservativen
Innenminister das SIS nicht genügend Sicherheit bietet und ihm die
Kontrolle der Außengrenzen zu lasch erscheint. Vorallem der in den
Niederlanden legalisierte Rauschgifthandel und das angeblich leichtfertige
Visum-Ausstellen einiger Länder, welches zur "unerwünschten illegalen
Einwanderung" führt, bereitet den französischen Behörden
Kopfzerbrechen. Eine dreimonatige Schengen-Testphase von Frankreich wurde um
weitere 6 Monate verlängert. Mit der Angst vor islamistischen Terrorakten
wurde die massive Verstärkung der Grenzsicherung in den letzten Monaten
begründet. Frankreich kündigte an, solange zu kontrollieren, bis sich
die Sicherung durch SIS als ausreichend herausstellt.[4] Entgegen offiziellen, deutschen Verlautbarungen
- die den Sonderweg Frankreichs scharf kritisieren - verhält sich die BRD
jedoch ähnlich, wenn auch geschickter. Zusätzliche BGS-Truppen wurden
mit Sonderauftrag an die Westgrenze verlegt (siehe Abschnitt Kontrolle an den
Westgrenzen).
Zu den alten Schengen-Ländern sind folgende neu hinzugekommen: Italien (1990), Spanien und Portugal (1991), Griechenland (1992). Italien und Griechenland sind zwar Mitglied, beteiligen sich aber aufgrund technischer Schwierigkeiten noch nicht am SIS und der Abschaffung der Grenzen. Dänemark verhandelt zur Zeit und Österreich hat einen Beobachterstatus. Schengen übt einen großen Druck auf die anderen europäischen Länder aus. Zum einen fürchten sie, jetzt verstärkt Ziel der Migration zu werden, zum anderen degradiert Schengen alle europäischen Nichtmitgliedsstaaten zu Sicherheitsrisiken. Sollte z.B. Dänemark Teil des Schengengebietes werden, muß es Reisende aus den skandinavischen Ländern, die zur Zeit freizügig ein- und ausreisen können, streng kontrollieren. Bedenken äußerten neben den skandinavischen Ländern auch England und Irland. Mit der Schweiz, bald eine Enklave im Schengengebiet, sind Sonderabkommen geplant, damit eigene Regelungen zur Grenzsicherung erhalten bleiben können.
Auf den Flughäfen ergibt sich seit März die groteske Situation, daß sie gleichzeitig Innen- und Außengrenzen darstellen. Die Umbaumaßnahmen kosteten den deutschen Flughäfen über 267 Mio DM. Drei verschiedene Flugarten bzw. -Passagiere werden unterschiedlich abgefertig. Flüge innerhalb des Schengen-Gebietes sind sogenannte Binnenflüge: keine Kontrolle, Reisepaß bleibt jedoch Pflicht. Bei Flügen außerhalb des Schengengebietes wird zwischen EU-Leuten ("gemeinschaftliche Begünstigte"), die "Mindeskontrollen" unterliegen, und DrittausländerInnen unterschieden. Letztere, die "Non-EU-Nationals" benötigen ein Schengen-Visum für 3 Monate. Wenn die DrittausländerInnen im SIS-Computer zur Fahndung ausgeschrieben sind, in einem der Schengen-Staaten als unerwünscht gelten oder nicht ausreichende Zahlungsmittel vorweisen können, dürfen sie überhaupt nicht einreisen.
In Zukunft soll die Kontrollintensität von der innenpolitischen Situation im Herkunftsland abhängig gemacht werden. Menschen aus Bürgerkriegsgebieten oder islamistischen Ländern werden dann genauer untersucht als Menschen aus befriedeten Gebieten. Die Sicherheitsbehörden erhalten die Anweisung, "Erhebungen über die von Drittstaasten ausgehenden Risiko- und Gefährdungseinwirkungen vornehmen (zu) lassen."
Angeblich hat sich dank SIS die Zahl der Aufgegriffenen seit März 1995 um
bis zu 30% erhöht.[5]
Rücknahmeverträge
Um die Regelungen über die Sicheren Herkunftsländer und den
Drittstaaten in die Praxis umsetzen zu können, müssen mit den
jeweiligen Ländern Verträge über die Abschiebemodalitäten
abgeschlossen werden. In jenen von Flüchtlingsorganisationen zu recht als
Deportationsverträgen bezeichneten Abkommen wird bestimmt,
Bei den seit 1994 laufenden Verhandlungen mit Rumänien und Algerien wurde ebenfalls mit dem Stopp der Entwicklungshilfe gedroht. Im April 1995 reiste Kinkel extra nach Estland, Lettland und Litauen, um dort einen Rücknahmevertrag auszuhandeln. Die drei baltischen Länder zeigten sich willig. Laut Kinkel ist die Weigerung einzelner Länder, die StaatsbürgerInnen zurückzunehmen, ein eindeutiger Verstoß gegen das Völkerrecht. Auf die Frage hin, ob denn die Deportation von Menschen, in ein Land, in das sie nicht zurück wollen oder können, nicht ebenso gegen das Völkerrrecht verstoßen würde, antwortete Kinkel: "Auf die Meinung der Betroffenen kommt es nicht an." Nicht verwunderlich, daß im Vertrag mit Vietnam, dann auch eine Passage über die völkerrechtliche Verpflichtung Vietnams zur Zurücknahme auftaucht.[6] Denn im Durchsetzen von Völkerrecht waren die Deutschen schon immer federführend - am liebsten weltweit!
1Abschreckung, S.58 ff und S. 72 ff; Domino, S. 8; jw vom 19.7.1995; Boot, S. 55 ff; Fadenkreuz, S. 24
2SZ vom 11.10.1995
3SZ vom 28.3.1995 und vom 4.4.1995; jw vom 21.3.1995, 7.8.1995 und 25.3.1995; taz vom 25.3.1995; BMI, Sept. 95
4jw vom 12.9.1995, SZ vom 30.6.1995; F.A.Z. vom 30.6.1995
5FR vom 24.3.1995; jw vom 22.6.1995; ak, Nr. 383
6taz vom 24.1.1995