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Das Grenzcamp '99 - Looking back
Readergruppe Leipzig
Das Grenzcamp '99 in Zittau liegt mittlerweile gut drei Monate zurück und
in kalten Novembertagen ist es wahrscheinlich nur noch in wenigen Köpfen
präsent. Auch die allerletzten Nachzügler von
Einschätzungspapieren sind geschrieben und Zittaus Oberbürgermeister,
Jürgen Kloß, hat sich einigermaßen beruhigt und droht nur noch
auf Anfrage, daß er zusammen mit dem Innenministerium alles daransetzen
werde, daß "so etwas nie wieder stattfinden" werde.
Gerade von dieser Warte aus haben wir vielleicht ausreichenden Überblick
über die Nachwirkungen des Camps - sowohl in den teilnehmenden
Zusammenhängen als auch in der heimgesuchten Grenzregion und in einer wie
auch immer gearteten bundesweiten Öffentlicheit.Diesen Überblick
wollen wir in diesem Reader vermitteln. Im Disko-Teil sind dazu die
verschiedenen Diskussionspapiere von teilnehmenden Gruppen und Personen zu den
Themen Sexismus, Camp-Motto, Aktionsformen und Wohlstandsgefälle dokumentiert. In ihnen
spiegelt sich der aktuelle Stand der internen Auseinandersetzung wieder. Das
Thema der allgemeinen Camp-Einschätzung und -Zusammenfassung haben wir
dabei mehr oder weniger stark gekürzt und versuchen vielmehr, dies in
diesem Einleitungstext zu leisten. Es würde wohl auch die meisten zu Tode
langweilen, die immer selben Lobe der Volxküche oder Kritiken an
Plenumszuständen zu lesen.Im Anschluß an diese unsere
Zusammenfassung folgt der beliebte Dokumentationsteil mit Fotos und
Pressereaktionen. Die TeilnehmerInnen des Zittauer Camps können dabei in
Erinnerungen schwelgen, die Zuhause oder wo auch immer Gebliebenen ihre Neugier
darüber befriedigen, was abgegangen ist, und wir unserer selbstauferlegten
Chronistenpflicht nachgehen.
Doch das tun wir gern. Denn schließlich hat sich im Zuge der angelaufenen
Nachbereitung gezeigt, daß nicht wenige Leute und Gruppen unzufrieden
damit gewesen sind, wie das Camp gelaufen ist. Viele kritische
Einschätzungen mündeteten in der Erklärung, an einer
Fortführung des Projektes auf diese Art und Weise nicht interessiert zu
sein. Deshalb muß es eine inhaltlich fundierte und tiefgreifende
Nachbereitung geben, auf der ein eventuelles Folgeprojekt im nächsten
Jahrtausend (yo!) aufgebaut sein sollte.Da der Reader nicht unendlich dick
werden sollte und wir im Zeitalter des Austauschs elektronischer Signale leben,
gibt es den Grenzcamp-Reader auch im Internet unter
www.nadir.org/archiv/Antirassismus/grenzcamp99.
Dort findet sich nicht nur alles, was in der Papierausgabe steht, sondern auch
eine englische Version vieler Texte und alle Materialien, die keinen Platz mehr
gefunden haben, die wir aber trotzdem allgemein zugänglich machen
wollen.
Die Zahl der TeilnehmerInnen am Grenzcamp '99 hat die des letzten Jahres
übertroffen. Insgesamt waren nach optimistischsten Schätzungen an die
1.500 Leute ins Dreiländereck Polen-Tschechien-Deutschland gekommen.
Gleichzeitig anwesend waren die ganze Zeit über ca. 600, die Fluktuation
war also wieder recht hoch. Aufgrund der Erfahrungen des letzten Camps kam dies
jedoch weniger überraschend. Trotz aller Probleme muß festgehalten
werden, daß es allein schon ein Erfolg ist, eine Ansammlung von
anderthalbtausend Menschen organisatorisch zu rocken. Immerhin gibt es Neider,
die behaupten, Antira-Camp sei gleichbedeutend mit Technikfeindlichkeit und
Low-Level-Organisationstalent.
Inhaltlich gesehen, ist es gelungen, Grenze, Flucht und Abschottung in der
Region um Zittau eine Zeitlang intensiv zum Thema zu machen. Einigen Leuten
wurden Denkanstöße gegeben und von diesen wiederum begann ein Teil,
selbst aktiv zu werden. Beispielsweise nahm eine Gruppe kontinuierliche Arbeit
auf, die sich kontierlich der Situation der Menschen im Zittauer
Flüchtlingsheim annahm. So machten sie die unhaltbaren Zustände in
dieser Einrichtung, von mangelnden Duschmöglickeiten bis zum ruinösen
Gebäudezustand, auch nach dem Camp weiter zu Thema.
Nach Einschätzung von Flüchtlingen hat das Camp und die damit
verbundenen Aktionen überwiegend positive Auswirkungen auf ihre Situation
gehabt. Es hatte unter anderem eine Demonstration zum Landratsamt gegeben, mit
der die erbärmlichen Zustände im Heim angeprangert wurden, auf einer
Kundgebung auf dem Zittauer Markt berichteten Flüchtlinge. Aber ihre Lage,
es wurden Häuser scheinbesetzt, um eine dezentrale Unterbringung der
MigrantInnen in Innenstadtnähe einzufordern und einiges mehr.Berichten von
HeimbewohnerInnen zufolge soll es nach dem Camp spürbar weniger Kontrollen
durch den BGS auf der Straße gegeben haben. Außerdem war es
gelungen, die bürgerliche Öffentlichkeit soweit für das Thema
Flüchtlingsheim Zittau zu interessieren, daß die Sächsische
Zeitung sogar einen Bericht auf der Landesseite darüber brachte. Einige
Zeit später wurde es geschlossen und die Flüchtlinge auf andere Heime
in der Region verteilt.
Damit war zwar eine zentrale Forderung der Camp-Aktionen eingelöst worden
- Schließung des Heims - , begründet wurde dies jedoch mit den
gesunkenen Asylbewerberzahlen und der damit verbundenen geringeren Zahl von dem
Landkreis zugeteilten Flüchtlingen. Die Ex-Heimbewohner wurden jedoch
nicht, wie von uns gefordert, dezentral in Wohnungen untergebracht, sondern
einfach in andere Heime umverteilt. In diesen herrschen zwar bessere bauliche
Zustände, in zweien davon gibt es jedoch Schikanen wie zm Beispiel
Besuchsverbote. Auch wurde das Umverteilen von vielen Flüchtlingen nicht
als postiv empfunden, so wurden Kinder dadurch aus ihren Schulen und einige
Leute aus ihren Freundeskreisen gerissen.Die Ausländerbehörde hat das
Engagement einiger Heimbewohner und deren Kontakte zu CampteilnehmerInnen
außerdem zum Anlaß genommen, diese als vermeintliche
Rädelsführer besonders zu schikanieren und umzuverteilen.
Menschen, die bereits am Grenzcamp 98 in Rothenburg teilgenommen hatten und
auch an der Vorbereitung des diesjährigen beteiligt waren, waren im
Nachhinein teilweise enttäuscht von den gelaufenen Aktionen. Im Vergleich
zum letzten Jahr hätte es keine qualitative Verbesserung gegeben. Gerade
bei den Aktionsformen und ihrer inhaltlichen Zuspitzung müßte es
eine deutliche Verbesserung geben, wenn es ein nächstes Camp geben soll.
Trotz allem hat das Grenzcamp für eine Woche schon für so etwas wie
eine linke Hegemonie gesorgt. Die Nazis hatten gewissermaßen
eingeschränktes Aufenthaltsrecht in der Öffentlichkeit und
beschäftigten sich vor allem damit, Parolen grölend am Camp
vorbeizufahren und platte Internet-Statements zu verfassen. Lediglich am
abschließenden Sonnabend starteten sie in der Zittauer Innenstadt eine
schnelle Flugblatt-Verteilaktion gegen das Camp und kündigten im
"Nationalen Jugendblock" ein (mehr als) bundesweites Nazitreffen unter dem
Namen "Internationales Friedenscamp" an. Was sich jedoch eher als Bluff
herausstellte 1.
Auch gegenüber den Staatsorganen ist es uns gelungen, uns weitgehend
durchzusetzen. Zum ersten in der Platzfrage: Zwar blieb uns die Wiese in
Lückendorf bis zum Schluß verwehrt, aber durch den Druck der
Anwesenheit von über 100 Leuten bereits am Freitag wurde zumindest die
vorübergehende Nutzung des NVA-Geländes erreicht. Und auch mit dem
Platz an der B 99 fuhr das Camp aufgrund der Nähe zu Zittau letztendlich
ziemlich gut. Den Behörden vor Ort, behaftet mit den typischen
Obrigkeitsallüren von Provinzfürstentümern, wurde durch das
anwesende linksradikale Potenzial das erste Mal gezeigt, wo der Hammer
hängen kann. Das war für sie wohl Grundkurs darin, was sie sich als
der Definition nach demokratische Institutionen letztendlich gefallen lassen
müssen.Es ist halt alles nicht so einfach mit dem Verbieten und
Auflösen. Auch der Polizei wurde durch die Auseinandersetzungen nach der
Demonstration am 9.August klargemacht, daß hier Leute anwesend sind, die
durchaus bereit sind, sich gegen staatliche Maßnahmen zur Wehr zu setzen.
Drei Leute waren - wegen einer zugegebenermaßen umstrittenen Aktion -
festgenommen worden, woraufhin sich alle Leute von der Kundgebung in Richtung
Polizeirevier begaben. Dort wurde mit der Forderung, die Verhafteten
freizulassen, eine Kreuzung des Stadtrings blockiert, was bei der Zittauer
Verkehrsführung zu liometerlangen Staus führte. Die Bullen hatten die
Situation erst im Griff, als sie BGS-Verstärkung erhielten und die
Straße unter einigem Gerangel räumten.Sicher sind uns dazu keine
schriftlichen Nachweise in Form von Dienstprotokollen zugänglich, aber die
Aktion war ziemlich wichtig, um sich den Bullen gegenüber Respekt zu
verschaffen und Solidarität mit den eigenen Leuten zu zeigen.
Einschränkend muss dazu gesagt werden: Mit der Solidarität war es
letztendlich nicht soweit her, dass sich ausreichend Menschen gefunden
hätten, die Verhafteten abzuholen, als sie wieder rauskamen. Lediglich
drei Leute rangen sich dazu durch.Bei allem Lob des souverän bis
nassforschen Umgangs mit den Behörden: Bei der Klärung der Platzfrage
im Vorfeld überschritt die Selbstsicherheit fast die Grenze zur
Naivität. Die Möglichkeit von Verbotsversuchen und erfolgreichen
Anstrengungen seitens der Administrative, das Camp zu verhindern, wurde wohl
nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Das Mangeln von Ausweichkonzepten oder
Szenarien für den Ernstfall war nicht unerheblich mitschuld am Chaos der
Anfangstage und der dadurch bedingten Verzögerung der eigentlichen
Camp-Aktivitäten.
Alle, die dabei waren, wissen es, allen anderen wurde es in den meisten
Berichten über das Camp erzählt: Was für ein buntes Spektrum
sich dort zusammengefunden hätte. Und in der Tat kann es als Erfolg des
Grenzcamps'99 gelten, recht verschiedene politische Ansätze zu einem Thema
zusammenzubringen. Und leider merkte man es ziemlich schnell, dass einige Leute
mit anderen in ihrem politischen Alltag nicht allzuviel zu tun haben. Heraus
kommen dabei auf der einen Seite das Camp überdauernde Bonmots wie das der
"zottelhaarigen Wagenplatzhippies" und auf der anderen schwachsinnige
Spitzelvorwürfe an Leute, die einfach nicht den eigenen autonomen dress
codes entsprechen. Der internen Kommunikation waren durch solche Ressentiments
von Anfang an Grenzen gesetzt.
Was im Nachhinein vielen TeilnehmerInnen zu kurz gekommen war, ist die
inhaltliche Auseinandersetzung mit bestimmten Themen wie Grenze und
antirassistische Politik. Gingen solche Veranstaltungen in den ersten Tagen
noch aufgrund des Umzugsstress' verloren, waren später die meisten Leute
zu sehr mit praktischen Aktionen beschäftigt, als dass zwischen
Abendplenum und Essen noch Zeit für tiefergehende Vorträge oder
Diskussionen gewesen wäre.Und einige Tage nach Beginn des Camps hatte ein
Selbstlauf an Aktionen begonnen, mit dem der jeweilige Tag komplett
ausgefüllt werden konnte. Trotz dessen fand sich bei vielen
TeilnehmerInnen eine gewisse Konsumhaltung. Man ließ sich das Programm
vorstellen und wählte daraus sein Tagesmenü aus.
Auch die Entscheidungsstrukturen bedürfen einer kritischen Betrachtung. In
den ersten Tagen gab es praktisch keine funktionsfähige Struktur, die die
notwendigen Entscheidungen bezüglich der Platzfrage treffen konnte.
Vielmehr wurde das Thema auf dem Plenum aller Anwesenden diskutiert, wo es
erwartungsgemäß zu keinen Schlüssen kam außer
stundenlangen Gerede. Der Vorschlag zur Bildung eines Delegiertenplenums wurde
immer wieder zerredet, obwohl dies die bei so vielen Leuten die einzig
mögliche Form ist, Entscheidungen zu treffen und dabei niemanden zu
übergehen. Auf Großplena kann zwar viel geredet werden, da dort aber
selten ein gemeinsamer Schluss herauskommt, entscheiden letztendlich die
wenigen, die sich dazu bereit finden oder sowieso schon den Kontakt mit
Behördenvertretern o.ä. hatten.
Was vielen nicht-deutschen Camp-TeilnehmerInnen sauer aufstieß, war die
weitestgehende Einsprachigkeit des Camps: Deutsch. Die Plena sowieso, wurden
auch die meisten Durchsagen nicht einmal in Englisch wiederholt.
Wie oben schon bemerkt, wird es ein nächstes Camp nur geben, wenn das
99er.einer umfassenden Nachbereitung unterworfen wird und damit ein
Folgeprojekt auf inhaltlich stabilere Füße gestellt ist. Auch
strukturell werden die (schlechten) Erfahrungen in bessere Organisationsformen
münden müssen. Eine interessante Option ergab sich aus der
Beteiligung polnischer Gruppen: Da die Abschottunspolitik der EU dort erst seit
ein, zwei Jahren im Anlaufen ist, wollen die polnischen AktivistInnen
nächstes Jahr auf jeden Fall ein Camp im
polnisch-ukrainisch-weißrussischen Länderdreieck auf die Beine
stellen. Geplant ist, dieses parallel zu einem Camp an der deutschen
EU-Außengrenze durchzuführen. So es denn eins geben sollte.
1 Der Vollständigkeit halber soll hier noch angefügt werden, daß
einmal beim Vorbeifahren mit einer Luftdruckpistole auf parkende Autos
geschossen wurde und der NPD-Kreisvorsitzende, Thorsten Hiekisch, zwei Abende
lang versuchte, das Infotelefon zu nerven.
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