nadir start
 
initiativ periodika Archiv adressbuch kampagnen suche aktuell
Online seit:
Thu Dec 30 22:06:22 1999
 

[<<]   [>>]

[intro]

Das Grenzcamp '99 - Looking back

Readergruppe Leipzig

Das Grenzcamp '99 in Zittau liegt mittlerweile gut drei Monate zurück und in kalten Novembertagen ist es wahrscheinlich nur noch in wenigen Köpfen präsent. Auch die allerletzten Nachzügler von Einschätzungspapieren sind geschrieben und Zittaus Oberbürgermeister, Jürgen Kloß, hat sich einigermaßen beruhigt und droht nur noch auf Anfrage, daß er zusammen mit dem Innenministerium alles daransetzen werde, daß "so etwas nie wieder stattfinden" werde.
Gerade von dieser Warte aus haben wir vielleicht ausreichenden Überblick über die Nachwirkungen des Camps - sowohl in den teilnehmenden Zusammenhängen als auch in der heimgesuchten Grenzregion und in einer wie auch immer gearteten bundesweiten Öffentlicheit.Diesen Überblick wollen wir in diesem Reader vermitteln. Im Disko-Teil sind dazu die verschiedenen Diskussionspapiere von teilnehmenden Gruppen und Personen zu den Themen Sexismus, Camp-Motto, Aktionsformen und Wohlstandsgefälle dokumentiert. In ihnen spiegelt sich der aktuelle Stand der internen Auseinandersetzung wieder. Das Thema der allgemeinen Camp-Einschätzung und -Zusammenfassung haben wir dabei mehr oder weniger stark gekürzt und versuchen vielmehr, dies in diesem Einleitungstext zu leisten. Es würde wohl auch die meisten zu Tode langweilen, die immer selben Lobe der Volxküche oder Kritiken an Plenumszuständen zu lesen.Im Anschluß an diese unsere Zusammenfassung folgt der beliebte Dokumentationsteil mit Fotos und Pressereaktionen. Die TeilnehmerInnen des Zittauer Camps können dabei in Erinnerungen schwelgen, die Zuhause oder wo auch immer Gebliebenen ihre Neugier darüber befriedigen, was abgegangen ist, und wir unserer selbstauferlegten Chronistenpflicht nachgehen.
Doch das tun wir gern. Denn schließlich hat sich im Zuge der angelaufenen Nachbereitung gezeigt, daß nicht wenige Leute und Gruppen unzufrieden damit gewesen sind, wie das Camp gelaufen ist. Viele kritische Einschätzungen mündeteten in der Erklärung, an einer Fortführung des Projektes auf diese Art und Weise nicht interessiert zu sein. Deshalb muß es eine inhaltlich fundierte und tiefgreifende Nachbereitung geben, auf der ein eventuelles Folgeprojekt im nächsten Jahrtausend (yo!) aufgebaut sein sollte.Da der Reader nicht unendlich dick werden sollte und wir im Zeitalter des Austauschs elektronischer Signale leben, gibt es den Grenzcamp-Reader auch im Internet unter
www.nadir.org/archiv/Antirassismus/grenzcamp99.
Dort findet sich nicht nur alles, was in der Papierausgabe steht, sondern auch eine englische Version vieler Texte und alle Materialien, die keinen Platz mehr gefunden haben, die wir aber trotzdem allgemein zugänglich machen wollen.

Camp'99

Die Zahl der TeilnehmerInnen am Grenzcamp '99 hat die des letzten Jahres übertroffen. Insgesamt waren nach optimistischsten Schätzungen an die 1.500 Leute ins Dreiländereck Polen-Tschechien-Deutschland gekommen. Gleichzeitig anwesend waren die ganze Zeit über ca. 600, die Fluktuation war also wieder recht hoch. Aufgrund der Erfahrungen des letzten Camps kam dies jedoch weniger überraschend. Trotz aller Probleme muß festgehalten werden, daß es allein schon ein Erfolg ist, eine Ansammlung von anderthalbtausend Menschen organisatorisch zu rocken. Immerhin gibt es Neider, die behaupten, Antira-Camp sei gleichbedeutend mit Technikfeindlichkeit und Low-Level-Organisationstalent.
Inhaltlich gesehen, ist es gelungen, Grenze, Flucht und Abschottung in der Region um Zittau eine Zeitlang intensiv zum Thema zu machen. Einigen Leuten wurden Denkanstöße gegeben und von diesen wiederum begann ein Teil, selbst aktiv zu werden. Beispielsweise nahm eine Gruppe kontinuierliche Arbeit auf, die sich kontierlich der Situation der Menschen im Zittauer Flüchtlingsheim annahm. So machten sie die unhaltbaren Zustände in dieser Einrichtung, von mangelnden Duschmöglickeiten bis zum ruinösen Gebäudezustand, auch nach dem Camp weiter zu Thema.
Nach Einschätzung von Flüchtlingen hat das Camp und die damit verbundenen Aktionen überwiegend positive Auswirkungen auf ihre Situation gehabt. Es hatte unter anderem eine Demonstration zum Landratsamt gegeben, mit der die erbärmlichen Zustände im Heim angeprangert wurden, auf einer Kundgebung auf dem Zittauer Markt berichteten Flüchtlinge. Aber ihre Lage, es wurden Häuser scheinbesetzt, um eine dezentrale Unterbringung der MigrantInnen in Innenstadtnähe einzufordern und einiges mehr.Berichten von HeimbewohnerInnen zufolge soll es nach dem Camp spürbar weniger Kontrollen durch den BGS auf der Straße gegeben haben. Außerdem war es gelungen, die bürgerliche Öffentlichkeit soweit für das Thema Flüchtlingsheim Zittau zu interessieren, daß die Sächsische Zeitung sogar einen Bericht auf der Landesseite darüber brachte. Einige Zeit später wurde es geschlossen und die Flüchtlinge auf andere Heime in der Region verteilt.
Damit war zwar eine zentrale Forderung der Camp-Aktionen eingelöst worden - Schließung des Heims - , begründet wurde dies jedoch mit den gesunkenen Asylbewerberzahlen und der damit verbundenen geringeren Zahl von dem Landkreis zugeteilten Flüchtlingen. Die Ex-Heimbewohner wurden jedoch nicht, wie von uns gefordert, dezentral in Wohnungen untergebracht, sondern einfach in andere Heime umverteilt. In diesen herrschen zwar bessere bauliche Zustände, in zweien davon gibt es jedoch Schikanen wie zm Beispiel Besuchsverbote. Auch wurde das Umverteilen von vielen Flüchtlingen nicht als postiv empfunden, so wurden Kinder dadurch aus ihren Schulen und einige Leute aus ihren Freundeskreisen gerissen.Die Ausländerbehörde hat das Engagement einiger Heimbewohner und deren Kontakte zu CampteilnehmerInnen außerdem zum Anlaß genommen, diese als vermeintliche Rädelsführer besonders zu schikanieren und umzuverteilen.
Menschen, die bereits am Grenzcamp 98 in Rothenburg teilgenommen hatten und auch an der Vorbereitung des diesjährigen beteiligt waren, waren im Nachhinein teilweise enttäuscht von den gelaufenen Aktionen. Im Vergleich zum letzten Jahr hätte es keine qualitative Verbesserung gegeben. Gerade bei den Aktionsformen und ihrer inhaltlichen Zuspitzung müßte es eine deutliche Verbesserung geben, wenn es ein nächstes Camp geben soll.

Trotz allem hat das Grenzcamp für eine Woche schon für so etwas wie eine linke Hegemonie gesorgt. Die Nazis hatten gewissermaßen eingeschränktes Aufenthaltsrecht in der Öffentlichkeit und beschäftigten sich vor allem damit, Parolen grölend am Camp vorbeizufahren und platte Internet-Statements zu verfassen. Lediglich am abschließenden Sonnabend starteten sie in der Zittauer Innenstadt eine schnelle Flugblatt-Verteilaktion gegen das Camp und kündigten im "Nationalen Jugendblock" ein (mehr als) bundesweites Nazitreffen unter dem Namen "Internationales Friedenscamp" an. Was sich jedoch eher als Bluff herausstellte 1.
Auch gegenüber den Staatsorganen ist es uns gelungen, uns weitgehend durchzusetzen. Zum ersten in der Platzfrage: Zwar blieb uns die Wiese in Lückendorf bis zum Schluß verwehrt, aber durch den Druck der Anwesenheit von über 100 Leuten bereits am Freitag wurde zumindest die vorübergehende Nutzung des NVA-Geländes erreicht. Und auch mit dem Platz an der B 99 fuhr das Camp aufgrund der Nähe zu Zittau letztendlich ziemlich gut. Den Behörden vor Ort, behaftet mit den typischen Obrigkeitsallüren von Provinzfürstentümern, wurde durch das anwesende linksradikale Potenzial das erste Mal gezeigt, wo der Hammer hängen kann. Das war für sie wohl Grundkurs darin, was sie sich als der Definition nach demokratische Institutionen letztendlich gefallen lassen müssen.Es ist halt alles nicht so einfach mit dem Verbieten und Auflösen. Auch der Polizei wurde durch die Auseinandersetzungen nach der Demonstration am 9.August klargemacht, daß hier Leute anwesend sind, die durchaus bereit sind, sich gegen staatliche Maßnahmen zur Wehr zu setzen. Drei Leute waren - wegen einer zugegebenermaßen umstrittenen Aktion - festgenommen worden, woraufhin sich alle Leute von der Kundgebung in Richtung Polizeirevier begaben. Dort wurde mit der Forderung, die Verhafteten freizulassen, eine Kreuzung des Stadtrings blockiert, was bei der Zittauer Verkehrsführung zu liometerlangen Staus führte. Die Bullen hatten die Situation erst im Griff, als sie BGS-Verstärkung erhielten und die Straße unter einigem Gerangel räumten.Sicher sind uns dazu keine schriftlichen Nachweise in Form von Dienstprotokollen zugänglich, aber die Aktion war ziemlich wichtig, um sich den Bullen gegenüber Respekt zu verschaffen und Solidarität mit den eigenen Leuten zu zeigen. Einschränkend muss dazu gesagt werden: Mit der Solidarität war es letztendlich nicht soweit her, dass sich ausreichend Menschen gefunden hätten, die Verhafteten abzuholen, als sie wieder rauskamen. Lediglich drei Leute rangen sich dazu durch.Bei allem Lob des souverän bis nassforschen Umgangs mit den Behörden: Bei der Klärung der Platzfrage im Vorfeld überschritt die Selbstsicherheit fast die Grenze zur Naivität. Die Möglichkeit von Verbotsversuchen und erfolgreichen Anstrengungen seitens der Administrative, das Camp zu verhindern, wurde wohl nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Das Mangeln von Ausweichkonzepten oder Szenarien für den Ernstfall war nicht unerheblich mitschuld am Chaos der Anfangstage und der dadurch bedingten Verzögerung der eigentlichen Camp-Aktivitäten.

Intern- der bunte Haufen

Alle, die dabei waren, wissen es, allen anderen wurde es in den meisten Berichten über das Camp erzählt: Was für ein buntes Spektrum sich dort zusammengefunden hätte. Und in der Tat kann es als Erfolg des Grenzcamps'99 gelten, recht verschiedene politische Ansätze zu einem Thema zusammenzubringen. Und leider merkte man es ziemlich schnell, dass einige Leute mit anderen in ihrem politischen Alltag nicht allzuviel zu tun haben. Heraus kommen dabei auf der einen Seite das Camp überdauernde Bonmots wie das der "zottelhaarigen Wagenplatzhippies" und auf der anderen schwachsinnige Spitzelvorwürfe an Leute, die einfach nicht den eigenen autonomen dress codes entsprechen. Der internen Kommunikation waren durch solche Ressentiments von Anfang an Grenzen gesetzt.
Was im Nachhinein vielen TeilnehmerInnen zu kurz gekommen war, ist die inhaltliche Auseinandersetzung mit bestimmten Themen wie Grenze und antirassistische Politik. Gingen solche Veranstaltungen in den ersten Tagen noch aufgrund des Umzugsstress' verloren, waren später die meisten Leute zu sehr mit praktischen Aktionen beschäftigt, als dass zwischen Abendplenum und Essen noch Zeit für tiefergehende Vorträge oder Diskussionen gewesen wäre.Und einige Tage nach Beginn des Camps hatte ein Selbstlauf an Aktionen begonnen, mit dem der jeweilige Tag komplett ausgefüllt werden konnte. Trotz dessen fand sich bei vielen TeilnehmerInnen eine gewisse Konsumhaltung. Man ließ sich das Programm vorstellen und wählte daraus sein Tagesmenü aus.
Auch die Entscheidungsstrukturen bedürfen einer kritischen Betrachtung. In den ersten Tagen gab es praktisch keine funktionsfähige Struktur, die die notwendigen Entscheidungen bezüglich der Platzfrage treffen konnte. Vielmehr wurde das Thema auf dem Plenum aller Anwesenden diskutiert, wo es erwartungsgemäß zu keinen Schlüssen kam außer stundenlangen Gerede. Der Vorschlag zur Bildung eines Delegiertenplenums wurde immer wieder zerredet, obwohl dies die bei so vielen Leuten die einzig mögliche Form ist, Entscheidungen zu treffen und dabei niemanden zu übergehen. Auf Großplena kann zwar viel geredet werden, da dort aber selten ein gemeinsamer Schluss herauskommt, entscheiden letztendlich die wenigen, die sich dazu bereit finden oder sowieso schon den Kontakt mit Behördenvertretern o.ä. hatten.
Was vielen nicht-deutschen Camp-TeilnehmerInnen sauer aufstieß, war die weitestgehende Einsprachigkeit des Camps: Deutsch. Die Plena sowieso, wurden auch die meisten Durchsagen nicht einmal in Englisch wiederholt.

future camp 2000

Wie oben schon bemerkt, wird es ein nächstes Camp nur geben, wenn das 99er.einer umfassenden Nachbereitung unterworfen wird und damit ein Folgeprojekt auf inhaltlich stabilere Füße gestellt ist. Auch strukturell werden die (schlechten) Erfahrungen in bessere Organisationsformen münden müssen. Eine interessante Option ergab sich aus der Beteiligung polnischer Gruppen: Da die Abschottunspolitik der EU dort erst seit ein, zwei Jahren im Anlaufen ist, wollen die polnischen AktivistInnen nächstes Jahr auf jeden Fall ein Camp im polnisch-ukrainisch-weißrussischen Länderdreieck auf die Beine stellen. Geplant ist, dieses parallel zu einem Camp an der deutschen EU-Außengrenze durchzuführen. So es denn eins geben sollte.


1 Der Vollständigkeit halber soll hier noch angefügt werden, daß einmal beim Vorbeifahren mit einer Luftdruckpistole auf parkende Autos geschossen wurde und der NPD-Kreisvorsitzende, Thorsten Hiekisch, zwei Abende lang versuchte, das Infotelefon zu nerven.

[<<]   [>>]

[Inhaltsverzeichnis] [Startseite]