Einzelne Fälle
Sipan beteiligt sich am 1. Mai in seiner
Heimatstadt im kurdischen Teil des Iraks an einer Kundgebung. Dort hält er
auch eine Rede, in der er sich gegen die politischen Vorstellungen rechter und
islamistischer Kräfte ausspricht. Wenig später wird auf sein Haus ein
Anschlag verübt. Zum Glück wird durch die Schüsse niemand
verletzt, die Angst vor weiteren Anschlägen gegen ihn oder seine Familie
zwingt ihn jedoch zur Flucht. Während seine Familie in einer anderen Stadt
untertauchen kann, schätzt er das Risiko für sich zu hoch ein.
Deshalb flüchtet er erst in die Türkei.
Im September 1995 fährt Sipan mit vier weiteren Kurden in einem
geschlossenem LKW von Istanbul in die BRD.
1. Tag
In Dresden wird das Auto von der Polizei gestoppt. Der Fahrer kann
flüchten, die vier Kurden werden verhaftet. Während die Polizisten
sie durchsuchen, stellen Sipan und seine 3 Begleiter Asylanträge:
Wir sind Flüchtlinge, wir kommen aus dem Irak und werden dort
verfolgt. Das scheint die Polizisten aber nicht zu interessieren, obwohl
das Gesetz festlegt, daß Asylantragsteller durch die Polizei an die
zuständigen Behörden weiterzuleiten sind.
Allen werden Handschellen angelegt. Als das Polizeiauto losfährt, denken
sie, man bringt sie jetzt wegen ihres Asylantrages in ein Flüchtlingsheim.
Sie kommen aber in die BGS-Station in Krippen, direkt an der Grenze. Bei der
Ankunft werden sie durchsucht, sie müssen sich dazu völlig ausziehen.
Das Gepäck, Gürtel und Schnürsenkel werden ihnen abgenommen.
Sipan wird zusammen mit den anderen in einen Raum gesperrt, ohne daß
ihnen gesagt wird, wo sie sind, warum sie festgehalten werden und was mit ihnen
passieren wird.
Zum Schlafen sind Holzbänke und einige unbezogene Decken da,
außerdem befinden sich im Raum ein Toiletten- und ein Waschbecken. Gegen
Mitternacht wird Sipan aus der Zelle geholt, die BGS-Beamten fotografieren ihn
und nehmen seine Fingerabdrücke. Er versteht nicht, warum er wie ein
Schwerverbrecher behandelt wird. Er versucht, die Beamten auf englisch zu
fragen, aber die tun so, als ob sie ihn nicht verstehen würden.
Am ersten Tag im BGS-Gewahrsam erhalten die vier überhaupt kein Essen.
2. Tag
Am Morgen wird Sipan gegen 4.30 Uhr geweckt. Die Beamten wollen ihn
verhören. Der BGS-Beamte sagt zu Herrn Sipan: Du hast keine Chance
hier in der BRD, weil du von der Grenzpolizei verhaftet worden bist.
Für die Fluchtursachen interessiert sich der Beamte nicht, er will nur
wissen, wie Sipan nach Deutschland gekommen ist, wieviel er dafür zahlen
mußte, wie der Schlepper hieß usw.
Trotzdem erklärt Sipan mehrmals, warum er geflüchtet ist und stellt
einen Asylantrag. Aber auch dieser Polizist ignoriert diesen Antrag.
Zwischenzeitlich wird Sipan für eine halbe Stunde mit einer Handschelle
an ein Heizungsrohr festgebunden. Er leidet unter starken Magenschmerzen, da er
sich im Irak eine Magenkrankheit zugezogen hat. Seine Medikamente sind im
Gepäck, das ihm abgenommen wurde. Nach der Vernehmung wird er in einen
anderen Raum gebracht, damit er nicht mit den anderen Informationen austauschen
kann.
Erst gegen 16.00 Uhr, d.h. ca. 24 Stunden nach seiner Verhaftung, erhält
Sipan das erste Mal etwas zu essen.
3. Tag
Am Morgen werden die vier mit einem BGS-Bus zum Bahnhof gebracht. Dort
werden sie erneut für zwei Stunden in eine Zelle gesperrt. An den
Wänden stehen in verschiedenen Sprachen Sprüche wie Das ist der
schlimmste Tag in meinem Leben. Erst jetzt beginnen sie zu begreifen,
daß sie zurückgeschoben werden sollen. Sipan muß eine Rechnung
über 1980,- DM, davon 400,- DM für einen Flugschein,
unterschreiben. Um die Rechnung zu begleichen, wird ihm alles deutsche Geld,
das er dabei hat, abgenommen: 115,- DM.
Für eine 10-minütige Zugfahrt berechnet der BGS 400,- DM und deklariert sie als Flug
Beim Einsteigen in den Zug werden ihnen Handschellen angelegt. Sie fahren in
einem normalen Abteil und werden von zwei BGSlern bewacht. Diese wollen keine
Auskunft geben, als Sipan fragt, was nun mit ihnen passiert. Nach wenigen
Minuten passieren sie die deutsch-tschechische Grenze, und am ersten Bahnhof
auf tschechischer Seite müssen sie wieder aussteigen. Sie kommen erneut in
eine Zelle.
Am Nachmittag werden sie von einem tschechischen Beamten verhört. Dieser
bemerkt, daß die Zurückschiebung unzulässig war, da nicht
festgestellt werden konnte, ob die vier wirklich über die tschechische
Republik eingereist sind.
Sichtlich wütend müssen die zwei BGS-Beamten die vier Kurden wieder
nach Krippen mitnehmen. Am Abend erhalten sie die erste Mahlzeit an diesem
Tag.
4. Tag
Am Morgen bringt sie der BGS zum Amtsgericht in Dresden. Dort findet auf
Antrag des BGS eine Anhörung statt, um über ihre geplante
Inhaftierung zu entscheiden. Erneut stellen sie beim Richter einen Asylantrag -
wiederum vergeblich. Der Richter beschließt, daß Sipan für
maximal 6 Monate ins Gefängnis kommt, damit der BGS die
Zurückschiebung besser vorbereiten kann.
5. Tag
Im Gefängnis stellt Sipan seinen vierten Asylantrag - diesmal
schriftlich.
6. bis 12. Tag
Warten im Gefängnis.
13. Tag
Nach neun Tagen Haft wird Sipan aufgrund seines Asylantrages entlassen;
die Beamten erlauben sich zum Abschied noch einen kleinen
Spaß mit ihm, denn sie sagen nur: Pack deine Sachen, du
fliegst jetzt wieder nach Hause.
Fünf Monate später - Sipan wurde einem Flüchtlingsheim in
Leipzig zugewiesen - erhält er die Mitteilung vom Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, daß sein Asylantrag
abgelehnt wurde, da er über einen sicheren Drittstaat
eingereist sei, er jedoch aufgrund der politischen Situation im Irak in der BRD
bleiben dürfe.
Im Frühjahr 1996 werden der Abschiebehaftgruppe erneut Fälle bekannt,
in denen Flüchtlinge trotz Asylantrag durch den BGS inhaftiert wurden und
Abschiebehäftlinge selbst nach Asylantragstellung wochenlang nicht aus der
Haft entlassen wurden. Als der Flüchtlingsrat mit einer
Presseerklärung auf diese Praxis hinwies, erklärte das Amtsgericht
Leipzig, daß diese Flüchtlinge unrechtmäßig inhaftiert
waren, und kümmerte sich um die sofortige Freilassung. Die
zuständigen Amtsgerichte (z.B. Pirna) beharrten jedoch entgegen der
gesetzlichen Regelung auf ihrem Standpunkt, daß diese Flüchtlinge
rechtmäßig im Gefängnis saßen.
Der BGS erklärte auf die Presseerklärung hin, daß es zwar in
Sachsen Probleme mit der Haftentlassung gäbe, die Inhaftierung trotz
Asylantrag jedoch legal sei.
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