Tag des Flüchtlings, Pro Asyl, 1997
»Abgeschobene erwartet ein gefährliches Folterpotential«
Eine Stellungnahme des türkischen Menschenrechtsvereins IHD
Bei der Abschiebung von Kurden in die Türkei vertrauen deutsche Behörden immer wieder auf Absprachen mit türkischen Behörden und Zusicherungen, daß die Abgeschobenen in der Türkei nicht gefoltert und ihre Menschenrechte nicht verletzt werden. Bei den Menschenrechtsvereinen in der Türkei haben sich in den letzten Jahren die Bitten gehäuft, in der Türkei das Schicksal von Abgeschobenen zu überprüfen. Der türkische Menschenrechtsverein IHD (Insan Haklari Dernegi) hat in einer Stellungnahme im April 1996 deutlich gemacht, daß dies praktisch nicht zu leisten ist. Man wolle auch nicht zum Feigenblatt deutscher Abschiebepolitik, zum »Teilrisiko« für die Abgeschobenen werden. In der Stellungnahme heißt es u. a.:
"Der Menschenrechtsverein stellt fest, daß nach den Regeln des humanitären Völkerrechts die Voraussetzungen für die Abschiebung von Asylbewerbern aus diversen Ländern in die Türkei nicht vorhanden sind. Die Abschiebung türkischer Staatsbürger, die vorrangig in der Bundesrepublik Deutschland sowie in anderen Ländern Asylanträge stellten, ist in den letzten Monaten für uns zu einem ernsten Problem geworden. Bezüglich dieser Frage wandten sich viele Regierungsvertreter und Repräsentanten sozialer Institutionen, in erster Linie aus der Bundesrepublik, aber auch aus anderen Ländern, an die türkische Regierung und den Menschenrechtsverein in der Türkei und fragten um ihre Meinung. Zuweilen wurden in diesem Zusammenhang verfälschte Informationen, die als Meinung des Menschenrechtsvereins vermittelt wurden, in der Öffentlichkeit verkürzt, verfälscht und manipuliert mitgeteilt.
Nach unserer Feststellung stellt die Abschiebungspraxis politischer Flüchtlinge schon jetzt ein ernsthaftes Problem dar, welches zu einem bedrohlichen Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen in der Türkei geworden ist. (...)
Die türkische Rechtsprechung legt keinerlei rechtsstaatliche Kriterien für Staatsanwälte bei ihren Voruntersuchungen fest. In diesem Zusammenhang werden Teilnehmer an genehmigten Versammlungen und Demonstrationen in der Bundesrepublik und anderen Ländern von der türkischen Medienberichterstattung als Terroristen, Verräter, Anhänger der PKK oder Dev-Sol sowie anderer
Asylbewerber aus der Türkei
Spitzenplatz bei den Herkunftsländern und relativ hohe Anerkennungsquote
Anzahl Anerkennungsquote
1992 28327 9,7%
1993 19104 14,4%
1994 19118 20,9%
1995 25514 21,5%
1996 23814 12,8%
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Organisationen dargestellt. Die Bilder der Demonstrationsteilnehmer werden gezeigt, ihre Namen genannt und Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet. Derartige Fernsehsendungen und Medienberichte werden durch die Staatsanwälte ausgewertet und als Indizien betrachtet, um entsprechende Ermittlungsverfahren einzuleiten. (...)
Nach Paragraph 4 des türkischen Strafgesetzbuches wird gegen einen türkischen Staatsbürger oder einen Ausländer, wenn er im Ausland eine gegen den türkischen Staat gerichtete Straftat begeht, ermittelt. Diese »Straftaten gegen den Staat« werden gemäß den Paragraphen 125 - 172 des türkischen Strafgesetzbuches verfolgt. Die Tatbestände gelten gemäß »Antiterrorgesetz Nr. 3713 Artikel 3« als »Terrorismus«. Die Ermittlungen und das gerichtliche Verfahren werden durch das Staatssicherheitsgericht durchgeführt.
Demnach können abgeschobene Asylbewerber zwischen 15 und 30 Tagen in Polizeihaft genommen und unter dem Vorwurf des »Terrorismus« angeklagt werden. Die Ermittlungen und das Gerichtsverfahren liegen bei den Staatssicherheitgerichten, bei denen auch Militärrichter und -staatsanwälte Dienst tun. Während der Polizeihaft können Beschuldigte keine Hilfe von Rechtsanwälten in Anspruch nehmen. Selbst wenn man ihnen dazu Gelegenheit gäbe, würde dies nicht mehr als ein formaler Akt sein, denn der Anwalt hätte weiterhin keine Möglichkeit, seinen Mandanten während der 15 - 30tägigen Polizeihaft beizustehen. Daß Folter als systematische staatliche Politik eine weitverbreitete administrative Praxis ist, haben wir ausreichend nachgewiesen.
Das türkische Rechtswesen steht im Widerspruch zu internationalem Recht. Als Beispiel hierfür sei das Recht auf gerichtliches Gehör - Rechte des Angeklagten - genannt, das in Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geregelt ist. Das türkische Rechtssystem verstößt dagegen, denn von Unabhängigkeit der Justiz kann keine Rede sein. Auch gegen den Artikel 5, der das Recht auf "Freiheit und Sicherheit" regelt, verstößt das türkische Rechtssytem, z.B. durch die 15-30-tägige Polizeihaft. Gegen Artikel 10 EMRK, der das Recht der freien Meinungsäußerung regelt, wird an erster Stelle durch Paragraph 8 des türkischen Anti-Terror-Gesetzes und die Paragraphen 158, 159, 311, 312 und 175 des Strafgesetzbuches verstoßen. Hunderte von Paragraphen in insgesamt 152 Gesetzen schränken die Meinungsfreiheit willkürlich ein.
Auch die menschenrechtliche Praxis verstößt gegen internationale Rechtsdokumente und Menschenrechtsabkommen. Z.B. wird unter Verletzung von Artikel 3 der EMRK (Verbot der Folter) weiterhin systematisch und weitverbreitet gefoltert. Allein im Jahre 1994 suchten 600 der über tausend Folteropfer unsere Sektion in Istanbul auf, denen Rechtsmediziner eine physische Folter attestierten. Dieses genannte Gefahrenpotential erwartet Menschen, die abgeschoben werden sollen. Des weiteren ist in diesem Zusammenhang die Politik der Evakuierung, Zerstörung und Verbrennung von Dörfern zu nennen. Laut einer Erklärung des ehemaligen Innenministers Nahit Mentese wurden im Jahr 1994 eintausendzweihundertvierundvierzig (1.244) Dörfer evakuiert. Im Jahre 1993 waren es 871 Dörfer. Die Bewohner der betroffenen Dörfer wurden auf Anordnung gezwungen, innerhalb einer vorgesehene Frist ihre Gebiete und Siedlungsräume zu verlassen. Diese Vertreibung erfolgte nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus politischen Gründen.
Die betroffenen Menschen, die durch Gewalt und Unrecht gegen ihren Willen deportiert wurden, sind in ihren Zielorten undemokratischen Umständen sowie rechtlichen Risiken und Gefahren ausgesetzt.
Mittels einer Umfrage unter 300 vertriebenen Familien in Istanbul, Bursa und Mersin konnten der Menschenrechtsverein Istanbul feststellen, daß die Mehrheit dieser Familien keine Mietwohnungen bekommen konnte. Ebenso war es der Mehrheit unmöglich, eine Arbeit zu finden, und falls es einzelnen doch gelang, so war die Beschäftigung in keinster Weise sozial abgesichert. Diese mit Gewalt aus ihren Heimatregionen Vertriebenen werden immer wieder wegen ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit und ihrer Geburtsorte kurzzeitig von der Polizei festgenommen und unter Druck gesetzt, die Großstädte zu verlassen.
Die Praxis der Dorfzerstörungen müssen wir als eine Dimension bei der Frage der Abschiebungen berücksichtigen. Die Vertreibung der Dorfbewohner widerspricht dem Grundsatz des Artikels 1 des Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention (»Jeder hat ein Recht auf Achtung des Eigentums«). Mit dieser Praxis werden darüber hinaus eine Vielzahl von Rechten nicht nur einer Personengruppe verletzt.
Es ist offensichtlich, daß die erzwungene Vertreibung von 2,5 Millionen Menschen rein politische Gründe hatte - diese Vertreibung ist geschehen, obwohl nicht einmal Ermittlungsverfahren gegen die Betroffenen eingeleitet waren. Aufgrund dieser Verfolgungsrealität ist es nicht angemessen, eine Entscheidung über einen Asylantragsteller in Deutschland nur von der Überprüfung abhängig zu machen, ob in der Türkei ein Ermittlungsverfahren gegen ihn vorliegt. (...)
Das zwischen dem türkischen Innenministerium und dem bundesdeutschen Innenministerium ausgehandelte Protokoll enthält Zusicherungen über die Abschiebung von Straffälligen. Wie wir oben ausgeführt haben, hat es wegen der heutigen Struktur des türkischen Rechtswesens weder eine Chance, in die Praxis umgesetzt zu werden, noch kann seine Einhaltung rechtlich garantiert werden. Diese Garantien sind daher leere Versprechen.
Angesichts der konkreten Fakten hält es der IHD für seine Pflicht, der ganzen Welt zu erklären, daß den in die Türkei Abgeschobenen große Gefahren drohen und die im humanitären Völkerrecht für Abschiebungen vorgesehenen Voraussetzungen in der Türkei nicht erfüllt sind.
Aus diesem Grund vertritt der IHD die Auffassung, daß die europäischen Staaten, an erster Stelle Deutschland und bundesdeutsche Landesparlamente, ihre Abschiebungspraxis erneut revidieren bzw. auf Abschiebung verzichten sollten. Daher wird der Menschenrechtsverein bezüglich der Abschiebungsfrage mit keinerlei Regierung und keinem Parlament zusammenarbeiten, um somit auch nicht zum Teilrisiko der Abgeschobenen zu werden. In diesem Zusammenhang wird es keinerlei Vereinbarungen geben.
Wir erklären, daß wir trotz unserer Ablehnung der Abschiebepolitik in jedem einzelnen Fall intervenieren werden, wenn Abgeschobene oder ihre Angehörigen sich an uns wenden, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.
Istanbul, den 4.4.1996
Auszug aus dem Artikel »Abgeschobene erwartet ein gefährliches Folterpotential« vom IHD, in der FR vom 5.7.1996
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