Tag des Flüchtlings, Pro Asyl 1997
Juristisch wegdefiniert
Dr. Judith Kumin
Die Afghanin A. reiste 1995 nach Deutschland ein und beantragte politisches Asyl. Sie gab an, in ihrer Heimat habe sie wegen der politischen Tätigkeit ihrer erwachsenen Kinder in ständiger Angst vor Übergriffen leben müssen. Ihr Haus sei von bewaffneten Männern überfallen worden.
Ihr Asylantrag scheiterte in der ersten Instanz; auch die Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht blieb erfolglos. Begründung: Der afghanische Staat bestehe nicht mehr als
Anerkennungsquoten 1996
Hauptherkunftsländer, Angaben in %
Irak 31,6
Iran 26,9
Türkei 12,8
Sri Lanka 8,2
Zaire 5,2
Afghanistan 4,9
Pakistan 3,5
BR Jugoslawien 3,1
Armenien 0,5
Indien 0,2
In der Quote nicht enthalten sind die gerichtlichen Anerkennungen.
|
»übergreifende Ordnungsmacht«, und deshalb können nicht von asylrelevanter Verfolgung gesprochen werden. Zudem sei die persönliche Situation von A. im Falle einer Abschiebung nicht schlechter als die der afghanischen Bevölkerung allgemein. Um Schutz in Deutschland zu finden, müsse sie aber beweisen, daß sie nach der Rückkehr extremen Gefahren ausgesetzt sei. Für die »typischen Bürgerkriegsgefahren« in Afghanistan gelte der Schutz des Asylrechts nicht. Auch die Tatsache, daß Frauen im heutigen Afghanistan »erheblichen Einschränkungen« unterliegen würden, ändere nichts an der Entscheidung. Es sei der Klägerin zuzumuten, sich gemäß den Normen der islamischen Gesellschaft zu verhalten.
Der algerische Menschenrechtler B. kam 1994 nach Deutschland. Zuvor war seine Wohnung durch einen Molotow-Cocktail in Flammen aufgegangen. Zusammen mit seiner Frau war er auf offener Straße von Fundamentalisten bedroht worden, und sein Name war auf einer öffentlich verbreiteten Todesliste religiöser Fanatiker erschienen. Sein Asylantrag wurde in erster Instanz als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Auch seine Klage vor dem Verwaltungsgericht war vergeblich. Der Richter stellte fest, die Furcht vor Verfolgung oder gar vor Ermordung durch Mitglieder islamistisch-fundamentalistischer Organisationen stelle keine politische Verfolgung dar.
Diese beiden Asylanträge sind nicht aus Erwägungen abgelehnt worden, die sich auf den Einzelfall beziehen. Die Argumentation ist standardisiert und beruht auf der deutschen Rechtsprechung. Sie findet sich im gleichen oder ähnlichen Wortlaut in Tausenden von Asylentscheidungen über Zufluchtsuchende aus Staaten, in denen Bürgerkriege oder bürgerkriegsähnliche Konflikte wüten. Daran wird deutlich, welch hoher Preis aus asylrechtlicher Sicht bezahlt werden mußte, um das erklärte - und legitime - Ziel zu erreichen, die Zuwanderung zu begrenzen.
Zur Erinnerung: Vor dem Hintergrund einer stetig wachsenden Zahl von Asylsuchenden haben in den letzten beiden Jahrzehnten eine Vielzahl westeuropäischer Staaten ihre Asylgesetze verschärft. Soziale Leistungen für Asylbewerber und anerkannte Flüchtlinge wurden gekürzt oder gestrichen. Ins Asylverfahren selbst wurden Vorprüfungen oder formale Ausschlußgründe eingeführt, die bei Überschreitung vorgeschriebener Fristen automatisch verhindern, daß die Gründe des Asylgesuches geprüft werden. Besonders gravierend wirkte sich die Einführung von Drittstaatenregelungen aus. Deutschland änderte im Jahre 1993 sogar sein Grundgesetz, um Asylsuchenden die Überprüfung, ob sie ein Recht auf den Status des Flüchtlings haben, mit dem Hinweis verwehren zu können, sie hätten anderswo Schutz finden können.
Doch nicht nur der Zugang zum Asylverfahren wurde erheblich erschwert, auch die Kriterien für die Anerkennung als politischer Flüchtling sind in den letz-ten Jahren einschneidend geändert worden. Die Folge: Der Kreis der in Westeuropa zufluchtsuchenden Schutzbedürftigen und jener der Schutzberechtigten ist längst nicht mehr deckungsgleich. Die Trennlinie zwischen Anerkennung und Ablehnung eines Asylbegehrens wird in zu vielen Fällen nicht mehr dadurch bestimmt, ob der Antragsteller tatsächlich Schutz braucht, sondern durch rechtliche Vorgaben und Einschränkungen. Im Ergebnis bedeutet dies: Ganze Flüchtlingsgruppen werden juristisch wegdefiniert.
Besonders deutlich wird das bei der restriktiven Interpretation des Flüchtlingsbegriffs, der in der Genfer Flüchtlingskonvention niedergelegt ist. Prägnantes Beispiel ist der im November 1995 veröffentlichte »gemeinsame Standpunkt« der EU-Mitgliedstaaten zur Auslegung der Flüchtlingsdefinition. Danach können die Staaten es ablehnen, diejenigen als Flüchtlinge anzuerkennen, die von nichtstaatlichen Akteuren - zum Beispiel von Rebellengruppen oder extremistischen Organisationen - verfolgt werden.
Wird diese Interpretation angewendet, dann entsteht eine offensichtlich ungerechte Situation. Denn wer in einem innerstaatlichen Konflikt von der Regierung verfolgt wird, könnte im Ausland Asyl erhalten, nicht jedoch sein Landsmann, der im gleichen Staat von oppositionellen Gruppen verfolgt wird. Beispiel Algerien: Aktivisten der politischen Opposition haben durchaus gute Chancen auf eine Anerkennung im Asylverfahren. Wer aber von fundamentalistischen Terrorgruppen bedroht und verfolgt wird, muß in vielen Ländern mit einer Ablehnung seines Asylantrags rechnen. Und wenn jegliche zentrale staatliche Autorität fehlt, wie etwa in Somalia oder Liberia, dann wird die Anerkennung als Flüchtling - von wenigen Ausnahmen abgesehen - generell verwehrt.
Diese Praxis widerspricht nach Auffassung des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) dem Text und dem Geist der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Gewiß kann nicht jeder Bürgerkriegsflüchtling den Schutz dieses Abkommens in Anspruch nehmen. Kaum zu bezweifeln ist jedoch, daß gerade im Kontext innerstaatlicher, mit Waffengewalt ausgetragener Konflikte ein erhöhtes Verfolgungsrisiko besteht.
Religiös, ethnisch oder politisch motivierte Verfolgung bleibt auch dann Verfolgung, wenn sie nicht vom Staat ausgeht oder wenn dessen Behörden die Opfer nichtstaatlicher Verfolgung gar nicht schützen können. Diese Auffassung vertritt nicht nur der UNHCR. Die große Mehrzahl der Unterzeichnerstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention differenziert nicht nach dem Urheber der Verfolgung. Dieser völkerrechtliche Konsens wird jedoch in Westeuropa zunehmend in Frage gestellt.
Die Anerkennungspraxis gegenüber Flüchtlingen aus Bürgerkriegsstaaten wie Liberia ist hierfür nur ein Beispiel. Eine dreiviertel Million Liberianer haben in den westafrikanischen Nachbarländern Zuflucht gesucht. Wie selbstverständlich werden sie von der Staatengemeinschaft als Flüchtlinge angesehen, die Schutz und internarionale Hilfestellung verdienen. Von den rund 20.000 Liberianern, die zwischen 1991 und 1995 in 15 westeuropäischen Staaten Asyl beantragt haben, sind hingegen nur 214 als Flüchtlinge anerkannt worden. In den meisten Staaten erfolgte die Ablehnung nach dem Motto »Wo kein Staat, da keine Verfolgung«.
Die restriktive Interpretation der Genfer Flüchtlingskonvention in Westeuropa hat im Asylverfahren andere Menschenrechtsabkommen in den Blickpunkt gerückt. Die Europäische Menschenrechtskonvention und die UN-Konvention gegen Folter gelten zunehmend als Alternativen, um zumindest eine Abschiebung zu verhindern, wenn für die Betroffenen in ihrem Heimatland erniedrigende, unmenschliche Behandlung oder Gefahr für Leib und Leben droht.
Doch analog zur Einengung des Flüchtlingsbegriffs sind auch bei der Frage des Abschiebungsschutzes restriktive Tendenzen unverkennbar. Zum Beispiel geht der Trend in Deutschland dahin, auch diesen im Ausländerrecht verankerten Schutz lediglich jenen einzuräumen, denen bei einer Rückkehr in ihr Heimatland Gefahren vom Staat und dessen Behörden drohen. Diese rechtliche Schlußfolgerung widerspricht jedoch einer Entscheidung des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs. Am Beispiel Somalias stellten die Richter in einem Grundsatzurteil vom Dezember letzten Jahres klar, daß Abschiebungshindernisse wie drohende Folter, erniedrigende oder unmenschliche Behandlung auch dann unter die Europäische Menschenrechtskonvention fallen, wenn staatliche Strukturen zusammengebrochen sind.
Allerdings werden in Deutschland die Maßstäbe für die Anerkennung des individuellen Abschiebungsschutzes derart hochgeschraubt, daß die Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention für die meisten Betroffenen ohnehin reine Theorie bleiben. So sieht das deutsche Bundesverwaltungsgericht Abschiebungshindernisse nur dann als gegeben an, wenn man »im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen überantwortet wäre«.
Die Folge dieser Einschränkung des Rechtsschutzes ist: Ob ein Opfer von nichtstaatlicher
Entscheidungen des Bundesamtes 1996
abgelehnt 65,1% 126.652
anerkannt 7,4% 14.389
Abschiebeschutz nach
§51 Abs. 1 AuslG 5,0% 9.611
sonstwie erledigt 22,5% 43.799
Abschiebungs-
hindernisse im Sinne
von §53 AuslG 1% 2.082
Summe: 194.451
|
Verfolgung oder ein Bürgerkriegsflüchtling zumindest eine Duldung erhält, wird weniger durch eine faire Würdigung der Fluchtgründe entschieden als danach, ob tatsächlich abgeschoben werden kann - also ob ein Drittland oder das Herkunftsland die Durch- bzw. Einreise erlaubt. Die Flugpläne oder die Existenz eines geöffneten Flughafens entscheiden so über Flüchtlingsschicksale.
Fazit: Die politische und juristische Rechtfertigung der Schutzlücke ist in Deutschland und anderen westeuropäischen Staaten weit vorangeschritten. Wem daran gelegen ist, diese Lücke zumindest teilweise wieder zu schließen, der muß sich auf neue rechtliche Mittel außerhalb des Asylrechts konzentrieren. Was in Europa bislang fehlt, ist ein einheitlicher humanitärer Sonderstatus, dessen rechtliche Ausgestaltung der Schutzbedürftigkeit der Betroffenen Rechnung trägt. Die Aufnahme der bosnischen Kriegsflüchtlinge hat eine entsprechende Diskussion zwar eingeleitet, gleichzeitig jedoch verdeutlicht, wie schwierig es ist, in Europa gemeinsame Standards zu entwickeln.
Immerhin: Ansätze sind vorhanden - auch in Deutschland, wo als Teil des Asylkompromisses vor drei Jahren sogar eine entsprechende Regelung in das Ausländergesetz aufgenommen wurde. Allerdings fand sie in der Praxis nie Anwendung. So bleibt für Kriegsflüchtlinge zumeist nur eine Duldung auf Zeit. Sie müssen bislang mehr auf Gnade denn auf Recht vertrauen.
aus: Der Überblick 4/96
|