Leipziger Volkszeitung, 20. Oktober 1997
"Demokratisch abgesicherte Barbarei"
Günter Grass hat sich nie gescheut, denen da oben die Leviten zu lesen. Daß der soeben 70 Jahre alt gewordene Autor sich treu geblieben ist, machte er gestern mit einer kämpferischen und mitunter polemischen Rede in der Frankfurter Paulskirche klar: Die Bundesregierung klagte er wegen Fremdenhaß und "abermaliger, diesmal demokratisch abgesicherter Barbarei" an. Der Türkei warf er einen Vernichtungskrieg gegen die Kurden vor. Anlaß der Philippika war die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an seinen türkischen Kollegen Yasar Kemal.
Anklänge faschistischer Stammtischreden machte er bei deutschen Politikern aus. "Spricht nicht der in Deutschland latente Fremdenhaß, bürokratisch verklausuliert, aus der Abschiebepraxis des gegenwärtigen Innenministers, dessen Härte bei rechtsradikalen Schlägerkolonnen ihr Echo findet?", sagte Grass. Über 4000 Flüchtlinge säßen in deutschen Ab- schiebelagern hinter Schloß und Riegel. "Es ist wohl so, daß wir alle untätige Zeugen einer abermaligen, diesmal demokratisch abgesicherten Barbarei sind." Trotz Pause im Redetext rührte sich keine Hand zum Beifall. Erst als er forderte, den Millionen Türken und Kurden in Deutschland endlich Staatsbürgerrechte zu geben, gab es Applaus.
Doch der 70jährige Autor, der mit lauter Stimme und tiefschwarzen Haaren wie ein junger Wilder am Rednerpult in Fahrt kam, hatte sein Pulver noch nicht verschossen. "Wer immer hier, versammelt in der Paulskirche, die Interessen der Regierung Kohl/Kinkel vertritt, weiß, daß die Bundesrepublik Deutschland seit Jahren Waffenlieferungen an die gegen ihr eigenes Volk einen Vernichtungskrieg führende Türkische Republik duldet", sagte Grass. Sogar Panzer seien geliefert worden.
"Wir wurden und sind Mittäter. Wir duldeten ein so schnelles wie schmutziges Geschäft. Ich schäme mich meines zum bloßen Wirtschaftsstandort verkommenen Landes, dessen Regierung todbringenden Handel zuläßt und zudem den verfolgten Kurden das Recht auf Asyl verweigert", rief Grass. Kemal klatschte, und auch in den hinteren Reihen der Festversammlung brandete Beifall auf.
In seiner eigenen Rede dagegen hielt sich der Friedenspreisträger Kemal zurück. Ohne die kurdische Kultur anzuerkennen, könne die Türkei keine Demokratie werden. In der Paulskirche rief er dazu auf, den "unglaublich schmutzigen, grausamen und sinnlosen Krieg" in seiner Heimat Anatolien zu beenden. Überzeugt sei er, daß seine Landsleute "diese fruchtbare Kulturlandschaft wieder zum Grünen bringen, daß wir früher oder später zu einer echten Demokratie gelangen" werden, sagte Kemal.
Roland Losch
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Frankfurter Rundschau, 23. Mai 1998
Vereinte Nationen
Mißhandlung in deutscher Abschiebehaft getadelt
Das Antifolter-Komitee der Vereinten Nationen ist besorgt über die Zahl von Mißhandlungen in deutschem Polizeigewahrsam. Das geht aus einem Bericht des Komitees hervor, der am Freitag in Genf veröffentlicht wurde. Die Experten kritisierten vor allem die Behandlung von Ausländern in Abschiebehaft, sagten Mitglieder der deutschen Delegation, die dem Komitee den Bericht der Bonner Regierung erläutert hatten.
Das Komitee rügte im Bericht der Bundesregierung auch die Formulierung, es handele sich nur um Einzelfälle. Zudem sei die Zahl der Anklagen und Verurteilungen gegen Polizisten sehr gering.
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