Inhalt | Das Land denen, die es bearbeiten |
Kaffee und Welthandel II | Wahlbetrug und Gegenregierung |
»Wir sind das Ergebnis von 500 Jahren Kampf, zuerst gegen die Sklaverei und für die Unabhängigkeit von Spanien, dann um zu verhindern, daß der nordamerikanische Imperialismus uns verschlang, dann für die Verteidigung unserer Verfassung und um das französische Imperium von unserem Boden zu vertreiben. Danach wollte die Diktatur Porfirio Díaz uns die gerechte Anwendung der Reformgesetze verweigern. Das Volk rebellierte und wählte seine eigenen Führer, nämlich Francisco Villa und Emiliano Zapata, Männer, die aus der Armut kamen wie wir, denen die elementarste Bildung vorenthalten wird, damit man uns als Kanonenfutter verwenden und uns die Reichtümer unseres Bodens entwenden kann. Und es interessiert keinen, daß wir vor Hunger oder an heilbaren Krankheiten sterben, daß wir nichts haben, absolut nichts, nicht einmal ein würdiges Dach, kein Land, keine Arbeit, keine Gesundheit, keine Nahrung, keine Bildung, kein Recht, unsere VertreterInnen frei und demokratisch zu wählen, keine Unabhängigkeit vom Ausland, keinen Frieden und keine Gerechtigkeit für uns und unsere Kinder. Aber heute sagen wir: Ya Basta! - Es reicht!«
Die Kriegserklärung der EZLN an die Regierung rüttelt die Menschen in Mexiko auf. Eigentlich hat die Regierung Salinas den 1. Januar 1994 mit großem Getöse zum Tag des Eintritts Mexikos in die »Erste Welt« erklärt. Das NAFTA-Abkommen über einen nordamerikanischen Binnenmarkt tritt in Kraft. Während in den mit Spiegelglas verkleideten Hochhäusern in Mexiko-Stadt die Champagnerkorken knallen und Banker, Börsenmakler, Manager und Regierungsbürokraten auf neue Profite anstoßen, pfeifen in Chiapas den Regierungstruppen Kugeln aus den Läufen einer revolutionären Armee um die Ohren.
Die EZLN hat in der Neujahrsnacht mit starken Verbänden San Cristóbal und mehrere Kreisstädte im Handstreich besetzt. Auf organisierten Widerstand von Polizei oder Militär stoßen sie kaum. Die größte Kaserne der Bundesarmee in Chiapas, Rancho Nuevo, wird am helllichten Tag angegriffen, und erhebliche Waffenkontingente werden erbeutet. Das hatte niemand erwartet. Eine Guerilla der Landlosen hält die mexikanischen Bundestruppen in Schach.
Doch nach zwei Tagen der Lähmung holt die Regierung zum Gegenschlag aus. Über die Paßstraße von Tuxtla Gutiérrez nach San Cristóbal rücken Panzer, schweres Gerät und Tausende Soldaten vor. In wenigen Tagen sind es 20000 Uniformierte, denen die Angst vor dem Krieg im Gesicht steht. Die meisten sind selbst Söhne armer Bauernfamilien. Nicht wenige Soldaten desertieren. Militärflugzeuge bombardieren die sich zurückziehenden EZLN-Einheiten und die Zivilbevölkerung, Hunderte sterben.
Doch in der Hauptstadt gehen am 12. Januar 150000 Menschen auf die Straße und demonstrieren für die Forderungen der EZLN und gegen den brutalen Einsatz der Armee. »Schluß mit dem Massaker!«, steht auf den Transparenten, die Hausfrauen, Arbeiter, Studenten oder Großmütter vor sich her tragen. Sie fordern einen Dialog, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Auch außerhalb des Einflußgebietes der EZLN bricht nun der Widerstand offen aus. In allen Teilen des Bundesstaates beginnen Campesinos und Indígenas, offene Unterstützung für die EZLN und ihre Forderungen zu demonstrieren. Die Regierung muß einlenken. Zu groß ist der Druck von allen Seiten. Auch die internationale Öffentlichkeit reagiert entsetzt: In vielen Ländern kommt es zu Besetzungen mexikanischer Botschaften und zu Protestaktionen. Am 12.Januar 1994 erklärt die Regierung einen Waffenstillstand und beginnt mit halbherzigen Verhandlungen, die noch heute andauern.
Ein Großteil der zivilen Opposition ergreift Partei für die Zapatistas und gegen den Krieg. Auf Fahnen und Transparenten sind die Konterfeis von Emiliano Zapata, Pancho Villa und immer öfter auch des maskierten Subcomandante Marcos zu sehen. »Zapata vive - la lucha sigue - Zapata lebt - Der Kampf geht weiter« ist die Parole, die tausendfach auf Demonstrationen in San Cristóbal und der Hauptstadt Tuxtla Gutiérrez gerufen wird. Rathäuser werden gestürmt und besetzt, Barrikaden an den Dorfeingängen errichtet. Die verhaßten Bürokraten der ewigen Staatspartei PRI - seit 66 Jahren an der Macht - werden aus den Gemeindeverwaltungen verjagt und durch in direkter Abstimmung der Dorfgemeinschaften gewählte Repräsentanten ersetzt.
Allein militärisch ist diese Bewegung nicht zu unterdrücken. Das weiß im Frühjahr 1994 die Regierung in Mexiko-Stadt. Nicht etwa, daß die machtversessene Kaste der PRI-Bürokraten vor Massenmord zurückschrecken würde. Schon 1968 hatte sie den Einsatz der Armee gegen friedlich demonstrierende Studentinnen und Studenten angeordnet. Zwischen 400 und 2000 Menschen, die genaue Zahl ist bis heute unbekannt, wurden wenige Tage vor Beginn der Olympiade in Mexiko auf dem Platz der drei Kulturen erschossen.
Doch jetzt ist die Situation anders. Carlos Salinas de Gortari, der noch vor wenigen Monaten als vorbildlicher neoliberaler Modernisierer weltweit gefeierte Präsident Mexikos, versucht erst einmal Zeit zu gewinnen und übt sich als Chamäleon. Auf der einen Seite demonstriert er öffentlich Dialogbereitschaft, auf der anderen wird die Militarisierung des Bundesstaates fortgesetzt, um einen Militärschlag gegen die EZLN vorzubereiten.
Zwei Pole bilden sich in den ersten Monaten des Jahres 1994 im Kampf für »Land und Freiheit« heraus. Die EZLN hat sich in das unzugängliche Dschungelgebiet der Selva Lacandona zurückgezogen, in die Kernregion ihrer Organisierung. Es sind Tausende, die sie unterstützen oder ihr direkt angehören. Ständig bewaffnete Insurgentes, Mitglieder der Milizen und die Kinder, Frauen und Männer der Familien, ohne deren jahrelange Mithilfe der Aufbau der EZLN unmöglich gewesen wäre. Immer wieder betont dies Comandante Tacho, als am ersten Abend des Nationalen Demokratischen Konventes (CND) am 6. August 1994 vor den 6000 Delegierten aus ganz Mexiko Hunderte von Bauernfamilien in einer lautlosen nächtlichen Demonstration durch das Tal von Aguascalientes ziehen.
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Aus der Selva Lacandona gibt die EZLN mit ihren Kommuniqués und Aufrufen der Bewegung in ganz Chiapas Orientierung. Gestützt auf die Macht aus den Gewehrläufen ihrer KämpferInnen und Kämpfer, mit der hohen moralischen Autorität und unbestrittenen Legitimität ihrer Rebellion im Rücken, beginnen sie eine kluge Politik der Allianzen.
Den anderen Pol bilden Dutzende unabhängiger Bauernorganisationen, die sich noch im Januar 1994 im Consejo Estatal de Organizaciones Independientes de Chiapas (CEOIC) zusammenschließen. Eigentlich wollen die Strategen der Staatpartei PRI mit dem CEOIC ein Gegengewicht zur EZLN schaffen. Doch fast alle der Bauern- und Indígena-Organisationen, die sich im CEOIC koordinieren, solidarisieren sich mit den Forderungen der Zapatistas. Während die PRI-nahen Gruppen politisch an den Rand gedrängt werden, gewinnen die seit 1974 entstandenen unabhängigen Organisationen an Kraft. Auch die Unión Campesina Popular Francisco Villa aus Jaltenango beteiligt sich am CEOIC, der bald neben der EZLN zur zweiten Kraft der Campesino-Bewegung wird. EZLN und CEOIC sind das Resultat des selben historischen Prozesses. Beide - bewaffnete und unbewaffnete - Organisationen formulieren im Frühjahr 1994 gleichlautende Forderungen nach einer grundsätzlichen Landreform, Demokratisierung und einem menschenwürdigen Leben.
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