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»Nicht besser als ein Stück Vieh« | Kaffee-Boom und Kommunismus |
»Nein, ich will nicht in den Soconusco gehen. Dort sind die Deutschen, sie sind die Herren der Kaffeeplantagen. Sie sind barbarischer als die Bestien des Urwalds und behandeln dich wie einen Hund.«
(B. Traven: DIE REBELLION DER GEHENKTEN)
Die Arbeitsbedingungen, das Enganche-System und die Tienda de Raya überdauerten die Zeit seit der Jahrhundertwende bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Berichte der Landarbeiter aus Nueva Palestina heute ähneln den Zeugnissen ihrer Großeltern und Urgroßeltern. Das liegt nicht zuletzt daran, daß die Revolution von 1910 bis 1920 an Chiapas, dem südlichsten Bundesstaat Mexikos, fast spurlos vorbeiging. Es kam hier nicht zu einem eigenständigen bewaffneten Aufstand der indianischen Kleinbauern, wie beispielsweise im Zentrum Mexikos im Bundesstaat Morelos, wo sich mit Emiliano Zapata an der Spitze eine bäuerliche Guerillaarmee erhob und für »Land und Freiheit« kämpfte. Die ersten Jahre der Revolution waren in Chiapas vielmehr geprägt durch eine Auseinandersetzung zwischen zwei rivalisierenden Gruppen der Oligarchie. Auf der einen Seite stand dabei eine konservative Gruppe aus dem Hochland, deren Macht sich auf die Kontrolle der indianischen Bevölkerung um San Cristóbal stützte und die mit dem katholischen Klerus eng verbunden war. Mit ihr konkurrierten die Viehzüchter aus dem Tiefland um Tuxtla Gutiérrez, die im Sinne von Porfirio Díaz an wirtschaftlichem Fortschritt interessiert waren.
Als 1914 die Armee des Revolutionsführers Venustiano Carranza nach Chiapas eindrang, sammelte sich die gesamte chiapanekische Oligarchie in einer Bewegung gegen die Eindringlinge aus dem Norden. Die sogenannte Mapachada begann, der bewaffnete Widerstand der alteingesessenen Oligarchie unter der Führung von Tiburcio Fernández Ruíz gegen die neue Revolutionselite, die in Mexiko-Stadt das alte Establishment der Diktatur vertrieben hatte. Die Carranzistas aus dem Norden wollten in Chiapas den Klerus durch die Enteignung der Kirchengüter entmachten und eine fortschrittliche Arbeitsgesetzgebung einführen. Dies vereinte die sich zuvor bekämpfenden Fraktionen der chiapanekischen Oligarchie.
Bis 1920 war es dem neuen Präsidenten Venustiano Carranza nicht gelungen, die chiapanekischen Grundbesitzer militärisch zu unterwerfen. So mußte die neue Staatsmacht aus Mexiko-Stadt klein beigeben. Unter dem Nachfolgepräsident Carranzas, dem Revolutionsgeneral Alvaro Obregón, wurde dann ein MODUS VIVENDI gefunden: Die chiapanekische Oligarchie wurde in den nachrevolutionären Staat integriert, ohne daß sich Grundlegendes an den sozialen und politischen Verhältnissen in Chiapas änderte. So kommt es, daß in diesem ablegenen Südzipfel Mexikos noch heute die ungebrochene Tradition der alten, aus kolonialen Zeiten stammenden, Herrschaftselite fortlebt. Zum neuen Gouverneur wurde Ende 1920 der Anführer der chiapanekischen Konterrevolution, Tiburcio Fernández Ruíz, ernannt. Seine Heimat war die Frailesca, die Region um den Distrikt Angel Albino Corzo, die Heimat auch der Villistas aus Nueva Palestina, die noch heute gegen den Triumph der Konterrevolution von damals rebellieren.
Die deutschen Kolonisten hatten mit der Großgrundbesitzermentalität der traditionellen Oligarchie wenig gemein. Die hanseatisch-protestantischen Neuankömmlinge waren nach Chiapas gekommen, um Geld zu verdienen. Die archaischen Strukturen auf den Haziendas, die noch an die Kolonialzeit erinnerten, waren ihnen fremd. Dennoch profitierten auch die neu in Chiapas angesiedelten weltmarktorientierten deutschen Kaffee-pflanzer vom Sieg der Mapaches über die Revolutionsarmee, da in Chiapas eine Landreform während der Revolutionszeit völlig ausblieb. Dazu kam, daß auch das neue Revolutionsregime unter Venustiano Carranza und ab 1920 unter Alvaro Obregón ein vitales Interesse an einer ungestörten Kaffeeproduktion hatte. Schließlich wollten auch sie Mexiko »modernisieren«, und außerdem brachte der Kaffee-Export reichliche Steuer- und Deviseneinnahmen ein. Die radikalen Agraristen um Emiliano Zapata waren von der neuen Revolutionselite nach einem kurzzeitigen Bündnis ausgemerzt worden. Zapata selbst wurde auf Befehl Carranzas am 10. April 1919 ermordet. Eine Landreform führte Obregón nur dort durch, wo sich die Landarbeiter und Kleinbauern erhoben hatten, und das war - wie gesagt - in Chiapas nicht der Fall. So verging die Zeit der Revolution, ohne daß die Deutschen um ihre Plantagen bangen mußten.
Während die deutschen Kaffeepflanzer die Revolution unbeschadet überstanden, sorgte der I. Weltkrieg in Europa für eine erste Krise an der Pazifikküste: Die Absatzmärkte in Europa brachen zusammen, und die Schiffahrtsverbindungen waren zeitweise unterbrochen. So mußten die Kaffee-Exporteure notgedrungen neue Märkte erschließen. Letztlich war die Umorientierung aber ein Glücksfall für die Kaffeebarone, da sie nun den Zugang zum stetig wachsenden Markt in Nordamerika fanden und davon in den folgenden Jahren profitierten. So konnte das Wachstum der Plantagen ungehindert weitergehen. Während am Ende der Revolution, im Jahr 1920, im Soconusco etwa 9300 Tonnen Kaffee produziert wurden, waren es 1929, am Vorabend der Weltwirtschaftskrise, stolze 13700 Tonnen. Die Weltmarktpreise für Kaffee blieben in den 20er Jahren konstant hoch, da Brasilien, der Hauptproduzent, künstlich Kaffee vom Markt zurückhielt, um die Preise zu stabilisieren. Die Plantagen der Deutschen florierten. Immer noch etwa 70% der Gesamternte wurde damals von der Pazifikküste direkt nach Hamburg oder Bremen verschifft.
Im Deutschen Klub von Tapachula pflegten die deutschen Familien in dieser Zeit ein reges und geselliges Zusammenleben. Da wurde von den Frontabenteuern im I. Weltkrieg erzählt, denn nicht wenige der wehrtauglichen Deutschen hatten sich freiwillig zur Verteidigung des Vaterlandes auf der anderen Seite des Atlantiks gemeldet. Der Deutsche Klub erlebte rauschende Feste: »Das war kein Kulturzentrum. Da wurde Bier gesoffen, mit Geschichten geprahlt, und Skat gespielt. Die meisten waren doch reine Kulturbanausen. Wer aber irgendwie aus der Reihe tanzte, dem wurde eins aufs Haupt gegeben«, kommentiert ein Nachkomme der deutschen Pioniere das damalige Treiben. Auch ein mexikanischer Zeitzeuge erinnert sich an die deutsche Kolonie in Tapachula: »Sie verstanden sich blendend untereinander. Sie feierten zusammen und trafen sich, manchmal auf dieser Finca, manchmal auf einer anderen. Immer sprachen sie deutsch miteinander und heirateten nur andere Deutsche. Sie fuhren in ihr Land und holten sich die Braut auf ihre Finca.«
Mittlerweile war die deutsche Kolonie auf über zweihundert Personen angewachen. Nicht alle waren kapitalkräftige Großgrundbesitzer, auch mancher Flüchtling oder Desperado suchte an der Pazifikküste nach einer neuen Chance. Vom national gesinnten Mörder eines Offiziers der französischen Besatzungsarmee im Rheinland über ehemalige Freikorps-Kämpfer, einen verhinderten Lokführer, der sich als ambulanter Zahnarzt ein kleines Vermögen zusammenbohrte, bis zum politischen Flüchtling, der bei Arbeiterunruhen in Ostpreußen scharf geschossen hatte, reichte das illustre Spektrum der Gesellschaft. Die Plantagenbarone beschäftigten deutsche Verwaltungsangestellte, Aufseher, Mechaniker, Agrarexperten und Lehrer für ihre Kinder. Die Furcht vor den Mächtigen unter den Deutschen kursierte auch im Deutschen Klub. So hieß dort ein geflügeltes Wort: »Vor Kahle, Lüttmann, Edelmann - da hüte sich der kleine Mann.«
Eine neue Generation deutscher Kaffeepflanzer war in den 20er Jahren herangewachsen. Die Söhne der eingewanderten Familien übernahmen die Fincas ihrer Eltern oder erwarben selbst neues Eigentum. Sie waren meist bereits auf mexikanischem Boden geboren worden, studierten dann aber in Deutschland und übernahmen nach ihrer Rückkehr, trotz allem Patriotismus, die mexikanische Staatsbürgerschaft. Dies geschah nicht zuletzt deshalb, weil es ihnen nach der Revolution Vorteile beim Landerwerb brachte.
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