Inhalt | Das Jahr, in dem wir nirgendwo |
Erkundungen an anderen Frontabschnitten | Freddy Ilanga erzählt dem Che die |
ILANGA: Leonard sagt zu mir: »Du mußt diesem Mann Kisuaheli beibringen.« Wir setzen uns unter einen Baum. Ich verständige mich mit ihm auf Französisch. Satz für Satz übersetzen wir uns gegenseitig. Einer gibt dem anderen Unterricht. Er war mir unheimlich, weil er eine eindringliche Art hatte, dich anzublicken. Er sah dich an, als wollte er dich dazu zwingen, etwas zu sagen. Ich wollte möglichst schnell meinen Unterricht abhalten und wieder gehen.
Am nächsten Tag hatten wir uns um neun Uhr morgens verabredet. Ungefähr drei Kilometer entfernt war eines unserer Pulvermagazine. Dort standen zwei 12,7, die jedesmal Ladehemmung hatten, wenn wir sie zur Flugabwehr benutzen wollten. Tatu war mit zwei kubanischen Compañeros dabei, sie zu reparieren, und ich ließ sie machen und ging weg. Da sagt Leonard zu mir: »Was machst du hier? Man sagt mir, daß du nicht bei Tatu bist. Du hast da zu sein, wo er ist, dahin zu gehen, wo er hingeht.« Ich erkläre ihm, daß ich ihm gestern Unterricht gegeben hätte. Und er brüllt mich an. Ich sage mir: »Das wird langsam komisch hier. Leonard hätte nicht so direkt sein dürfen. Vor zwei Tagen war ich noch Offizier, und jetzt schreit er mich vor aller Welt zusammen, was für ein Scheiß.« Er nimmt mir die Pistole weg und degradiert mich zum Lehrer und Übersetzer, zum gewöhnlichen Soldaten.
Ich ging wieder zu ihm: »Compañero Tatu. Ich soll hier bei dir bleiben, wo du schläfst, wo du ißt.« Er fragt mich:
- Ist dir das unangenehm?
- Ganz im Gegenteil.
- Es scheint dir unangenehm zu sein.
Auf Französisch verstanden wir uns gut. In der ersten Unterrichtsstunde ging es um die Begrüßung. Er brachte mir das Spanische bei: »Buenos días, como estás, estoy bien«.
Am folgenden Tag ging es mit Tatu in die Berge. Immer nur Berge hinauf, Berge hinunter. Ich sagte zu mir: »Dieser Scheißweiße, gibt es in seinem Land vielleicht keine Berge? Einen Tag rauf, den nächsten runter ...« Er sagt, er habe geschworen, keinen Zucker mehr zu essen, bis der Imperialismus überwunden wäre, weil es in meinem Land keinen gibt. Und wieder rauf, wieder runter. Ich fragte mich: was ist hier eigentlich los? Erst war Moja derjenige, der scheinbar der Chef war, und jetzt trat er auf Tatu zu und behandelte ihn wie den tatsächlichen Chef. Wer war wer?
Das Klima dort oben ist kühl und schattig, man muß auf eine Lichtung heraustreten, um die Sonne zu sehen, weil die Sonne nicht durchkommt, am Boden ist es immerzu feucht. Ich hatte nur eine Decke dabei. In unserer Baracke schliefen Tatu und Dreke. Eine Petroleumlampe war angezündet, und Tatu las neben einer Feuerstelle in der Mitte der Baracke. Kurz nach Mitternacht.
- Compañero Tatu, ich gehe zum kongolesischen Lager, vielleicht bekomme ich da etwas.
Er hatte eine Hängematte und lud mich ein, sie mit ihm zu teilen. Sie war sehr breit, aber wir stießen trotzdem an Füßen und Köpfen zusammen. Am nächsten Tag sage ich zum Chino: »Hilf mir ein Bett zu bauen. Denn das, was ich letzte Nacht durchgemacht habe, will ich diese Nacht nicht nochmal durchmachen.« Ich war Teil ihrer Gruppe wie jeder andere, sogar meine Zigarrenration bekam ich ausgeteilt. Eine Kiste zu zweit, oder eine Kiste pro Person, kubanische Populares. Wenn Tatu für sich Tabak hervorholte, gab er immer jemand etwas ab, immer jemand anderem. Er sagt zu mir: »Wenn ich dir erkläre, was der Imperialismus ist, gibst du mir dafür eine schöne Kisuaheli-Stunde.« Er trank den Kaffee immer als erster. Ohne daß ich etwas gesagt hätte, bemerkte er, daß ich das seltsam fand, und erklärte mir, daß er ihn trinken würde, bevor ihn die anderen zuckerten, deswegen trank er immer als erster davon.
Che Guevara erschien Freddy Ilanga nicht nur als eine geheimnisvolle, sondern auch als eine seltsame Persönlichkeit.
ILANGA: Er trug eine olivgrüne Uniform, schwarze Baskenmütze, Pistole, Feldflasche, Stiefel wie alle anderen, ohne Rangabzeichen, ohne Patronengurt, und wenn er ausrückte, hatte er seine schwere Waffe dabei, eine M-2, mit ein paar Munitionsgurten, die Taschen immer voller Papiere, Fernglas und Höhenmesser. Jedesmal wenn wir irgendwo ankamen, sah er nach, auf welcher Höhe wir uns gerade befanden. Er hatte einen Kompaß in einem Futteral dabei. Einen Fotoapparat hatte er nicht, M'bili war derjenige, der die ganze Zeit Fotos von uns machte. Anfangs trug er immer einen Rucksack, bis er die Asthmaanfälle bekam. Es war ein normaler, aber sehr schwer bepackter Rucksack. Darin waren Bücher, sein Handtuch, Bettzeug, ein Anorak. Außerdem hatte er seinen Asthma-Apparat dabei. Eines Tages, während wir bergauf steigen, bemerke ich bei einer Pause auf der Hälfte des Berges, wie er - fluc fluc - sich irgendetwas in den Mund spritzt, und sage zu ihm: »Sieh mal an, Sie benutzen Mundwasser, Compañero?« Und da sagt er zu mir: »Nein, es ist, weil ich an einer Krankheit leide, an Asthma«, und ich frage ihn: »Was ist das, Asthma?« Sagt er: »Du weißt nicht, was Asthma ist?« Sage ich: »Nein«. Da hat er es mir erklärt.
Er hatte ein Radio, ein Zenith Panasonic. Er hörte ständig Radio, jeden Tag. Die französischen Sender. Er hörte Nachrichten. Abends schrieb er immer, dazu rauchte er dann seine Pfeife, obwohl er manchmal auch tagsüber rauchte, und dann rauchte er abends nur Tabak. Den Tee nahm er ohne Zucker. Er wusch sich nicht jeden Tag. Ach was! Es geschah selten, daß man ihn zum Fluß, zum Waschen hinuntergehen sah. Seine Geschäfte machte er in der Gemeinschaftslatrine, die wir neben der Baracke hatten.
CHE: Es war ein intelligenter Bursche, Ernest Ilunga [in der Guerilla bekannt als Freddy Ilanga], der mich in den Geheimnissen der Sprache unterweisen sollte. Wir begannen unseren Unterricht von täglich drei Stunden mit großem Enthusiasmus, aber die Wahrheit ist, daß ich derjenige war, der den Unterricht auf eine Stunde pro Tag reduzierte, und das nicht etwa aus Zeitmangel, denn Zeit hatte ich leider mehr als genug, sondern wegen der vollständigen Unvereinbarkeit meines Charakters mit Sprachen. Es gab ein weiteres Hindernis, das ich während meines gesamten Aufenthaltes im Kongo nicht zu überwinden vermochte; das Kisuaheli hat eine verhältnismäßig hoch entwickelte und reiche Grammatik, aber aufgrund der Eigentümlichkeiten des Landes wird sie von den Leuten als sogenannte nationale Sprache gesprochen, neben der Muttersprache, der Sprache ihres eigenen Stammes, so daß das Kisuaheli in gewisser Weise zur Sprache der Eroberer wird, oder zum Symbol einer höheren Macht.
KUMI: Der Che gab uns Unterricht, vor allem dem kubanischen Personal mit niedriger Ausbildung, hauptsächlich in Politik. Er hatte eine große Anzahl Bücher von Martí dabei, und diese bildeten die Grundlage. Ilunga und der Che waren gleichzeitig Lehrer und Schüler füreinander, Spanisch und Kisuaheli.
ILANGA: Ich gab Tatu meine Kisuaheli-Stunden in der Hütte oder draußen, unter freiem Himmel, auf Steinen sitzend. Er immer mit seinem Notizbuch, und ich gab meine Kisuaheli-Stunden. Ich schrieb ihm zum Beispiel an die Tafel: Yambo bwana, das heißt, Bonjour, monsieur, und er schrieb daneben: Buenos días, señor. Auf diese Weise lernte ich gleichzeitig Spanisch. Wir machten es so, damit er es den anderen Kubanern beibringen konnte. Er gab ihnen eine getrennte Stunde, um zehn Uhr morgens. Die Kubaner setzten sich zum Lernen auf ein paar Baumstämme, auf einfache Bänke.
VIDEAUX: Freddy lernte Spanisch im Handumdrehen. Er trug ein Maschinengewehr vom Typ Beretta, das ich ihm auf Anweisung des Che gegeben hatte. Er benahm sich immer ein wenig wie ein Junge, immerzu laut und übermütig.
Erkundungen an anderen Frontabschnitten | Freddy Ilanga erzählt dem Che die |
Inhalt | Das Jahr, in dem wir nirgendwo |