Inhalt | Die Temporäre Autonome Zone |
»Nach Croatan verschwunden« | Der Wille zur Macht als Verschwinden |
Unterdessen wenden wir uns jedoch der Geschichte des klassischen Anarchismus im Kontext des TAZ-Konzepts zu.¶
Vor der »Vollendung der Karte« ging jede Menge antiautoritärer Energie in »eskapistische« Kommunen wie Modern Times, die verschiedenen Phalanstères und so weiter. Interessanterweise sollten einige dieser Projekte nicht auf »ewig« betrieben werden, sondern nur so lange, wie sie Befriedigung gewähren würden. An sozialistisch-utopischen Maßstäben gemessen, »scheiterten« diese Experimente, und wir wissen daher sehr wenig über sie.¶
Als sich das Streben über die Siedlungsgrenze hinaus als unmöglich erwies, begann in Europa die Ära revolutionärer Kommunen in den Städten. Die Kommunen von Paris, Lyons und Marseille überlebten nicht lange genug, um irgendwelche Charakteristika von Dauer aufweisen zu können, und man fragt sich, ob sie dies überhaupt sollten. Unserer Ansicht nach liegt die hauptsächliche Faszination im Geiste der Kommunen. Während und nach jenen Jahren begannen Anarchisten mit der Praktizierung des revolutionären Nomadismus, zogen von Aufstand zu Aufstand, versuchten, in sich die Intensität des Elans zu bewahren, den sie im Moment der Insurrektion erlebt hatten. Tatsächlich sahen gewisse Anarchisten stirnerscher/ nietzscheanerscher Prägung in dieser Aktivität das Ziel an sich, einen Weg, immer eine autonome Zone zu besetzen, die Interzone, die sich während oder in der Folge von Krieg und Revolution auftut (vgl. Pynchons »Zone« in Gravity's Rainbow). Sie erklärten, wenn irgendeine sozialistische Revolution erfolgreich sein sollte, wären sie die ersten, die sich dagegen auflehnten. Sie hatten nicht die Absicht aufzuhören, solange es keine universelle Anarchie gibt. 1917 begrüßten sie in Rußland freudig die freien Sowjets: das war ihr Ziel. Aber sobald die Bolschewiki die Revolution verraten hatten, waren die individuellen Anarchisten die ersten, die auf den Kriegspfad zurückkehrten. Nach Kronstadt verurteilten natürlich alle Anarchisten die »Sowjetunion« (ein begrifflicher Widerspruch) und zogen auf der Suche nach neuen Insurrektionen weiter.¶
Die Ukraine der Machno-Bewegung und das anarchistische Spanien waren auf Dauer angelegt, und trotz der Lasten und Zwänge andauernden Krieges läßt sich in beiden Fällen von einem gewissen Erfolg sprechen: nicht daß sie eine »lange Zeit« existiert hätten, aber sie waren gut organisiert und hätten länger bestehen können, wäre nicht die Aggression von außen gewesen. Ich werde mich daher statt dessen bei den Experimenten der Zwischenkriegsperiode auf die verrückte Republik von Fiume konzentrieren, die sehr viel weniger bekannt ist und nicht auf Dauer angelegt war.3.10¶
Gabriele D'Annunzio, dekadenter Poet, Künstler, Musiker, Ästhet, Frauenheld, tollkühner Pionier der Aeronautik, Zauberer, Genie und Schurke, ging aus dem Ersten Weltkrieg als Held hervor, der über eine kleine Armee verfügte: die »Arditi«. Auf der Suche nach Abenteuer beschloß er, die Stadt Fiume einzunehmen und sie aus jugoslawischer in italienische Hand zu übergeben. Nach einer nekromantischen Zeremonie mit seiner Mätresse auf einem Friedhof in Venedig machte er sich daran, Fiume zu erobern. Dies gelang ihm ohne nennenswerte Schwierigkeiten. Aber Italien lehnte sein großzügiges Angebot ab. Der Premierminister schimpfte ihn einen Verrückten.¶
Beleidigt beschloß D'Annunzio, die Unabhängigkeit auszurufen und zu sehen, wie lange er diese verteidigen könne. Mit einem seiner anarchistischen Freunde entwarf er die Verfassung, in der Musik zum zentralen Prinzip des Staates erklärt wurde. Die Marineangehörigen (Deserteure und anarchistische Schifffahrtsgewerkschafter aus Mailand) nannten sich Uscochi - nach schon lange verschwundenen Piraten, die einst auf der Küste vorgelagerten Inseln lebten und venezianische und ottomanische Schiffe überfielen. Den modernen Uscochi gelangen einige wilde Coups: reiche italienische Handelsschiffe garantierten der Republik plötzlich eine Zukunft: Geld in den Koffern! Künstler, Bohèmiens, Abenteurer, Anarchisten (D'Annunzio korrespondierte mit Malatesta), Flüchtlinge und Staatenlose, Homosexuelle, militärische Dandies (die Uniform war schwarz und mit dem Piratenzeichen geschmückt - später von der SS gestohlen) und wunderliche Reformer jeglicher Couleur (einschließlich Buddhisten, Theosophen und Vedantisten) tauchten haufenweise in Fiume auf. Die Party nahm kein Ende. D'Annunzio trug jeden Morgen vom Balkon Gedichte und Manifeste vor, jeden Abend gab es ein Konzert, danach ein Feuerwerk. Hierin bestand die ganze Aktivität der Regierung. Als achtzehn Monate später der Wein und das Geld ausgegangen waren und schließlich die italienische Flotte auftauchte und ein paar Granaten auf das Stadtpalais abfeuerte, hatte keiner mehr die Energie, Widerstand zu leisten.¶
D'Annunzio zeigte später -, wie viele italienische Anarchisten - Sympathien für den Faschismus - faktisch brachte Mussolini (der Ex-Syndikalist) selbst den Poeten auf diesen Weg. Als D'Annunzio seinen Irrtum erkannte, war es zu spät: er war zu alt und krank. Aber Il Duce ließ ihn ohnehin töten - vom Balkon stürzen - und machte ihn so zum »Märtyrer«. Was Fiume betrifft, so können wir auf unserer Suche aus diesem Beispiel mehr über einige Aspekte lernen, obwohl die Ernsthaftigkeit der freien Ukraine und des freien Barcelona fehlte. In gewisser Weise war Fiume das letzte Piraten-Utopia (oder das einzige moderne Beispiel), aber vielleicht auch so etwas wie die erste moderne TAZ.¶
Ich glaube, wenn wir Fiume mit dem Paris der Revolte von 1968 (und den städtischen Insurrektionen der frühen siebziger Jahre in Italien) wie auch mit den amerikanischen gegenkulturellen Kommunen und den Einflüssen der Anarchos/Neuen Linken vergleichen, sollten wir gewisse Ähnlichkeiten feststellen, zum Beispiel: die Wichtigkeit ästhetischer Theorie (s. die Situationisten) - das, was »Piratenökonomie« genannt werden könnte, gut leben vom Surplus gesellschaftlicher Überproduktion - auch die Beliebtheit farbenprächtiger Militäruniformen - und das Konzept von Musik als Mittel revolutionärer gesellschaftlicher Veränderung - und schließlich die Gemeinsamkeit der Nichtdauer, der Bereitschaft, weiterzuziehen, der Gestaltveränderung, des Umsiedelns an andere Universitäten, auf andere Berggipfel, in andere Ghettos, Fabriken, sichere Unterschlüpfe, verlassene Farmen - oder gar das Einsteigen auf andere Bewußtseinsebenen. Niemand versuchte, eine weitere revolutionäre Diktatur zu errichten, weder in Fiume, Paris, noch in Millbrook. Entweder die Welt würde sich ändern oder eben nicht. Bleib unterdessen in Bewegung und lebe intensiv.¶
Der Münchner Sowjet (oder die »Räterepublik«) von 1919 zeigte gewisse Grundzüge der TAZ, wenn auch ihre erklärten Ziele - wie bei den meisten Revolutionen - nicht eben »temporär« waren. Gustav Landauer als Kulturminister und Silvio Gesell als Wirtschaftsminister und andere antiautoritäre und extrem libertäre Sozialisten wie der Dichter/Dramatiker Ernst Mühsam und Ernst Toller und Ret Marut (der Romanschriftsteller B. Traven) gaben dem Sowjet einen deutlichen anarchistischen Touch. Landauer, der Jahre der Isolation verbrachte, um an seiner großen Synthese von Nietzsche, Proudhon, Kropotkin, Stirner, Meister Eckhardt, den radikalen Mystikern und den romantischen Volksphilosophen3.11 zu arbeiten, wußte von Anfang an, daß der Sowjet zum Scheitern verurteilt war. Er hoffte nur, er würde lange genug existieren, damit er verstanden werden könnte. Kurt Eisner, Mitinitiator und Märtyrer des Sowjets3.12, glaubte buchstäblich, daß Poeten und Poesie die Basis der Revolution bilden sollten. Es existierten Pläne, große Teile Bayerns einem Experiment anarcho-syndikalistischen Wirtschaftens und gemeinschaftlichen Lebens zu widmen. Landauer unterbreitete Pläne für ein System Freier Schulen und für ein Theater des Volkes. Die Unterstützung für den Sowjet war mehr oder weniger beschränkt auf die ärmsten Unterklassen und Bohèmiens Münchens und Gruppen wie die Wandervögel (eine neoromantische Jugendbewegung), jüdische Radikale (wie Buber), die Expressionisten und andere Randexistenzen. Daher wird die Münchner Räterepublik von Historikern als »Kaffeehausrepublik« abgetan und deren Bedeutung im Vergleich mit der marxistischen und spartakistischen Partizipation an Deutschlands Nachkriegsrevolution(en) herabgewürdigt. Von den Kommunisten ausmanövriert und schließlich von Soldaten ermordet, die unter dem Einfluß der okkult/faschistischen Thulegesellschaft standen, verdient es Landauer, daß man ihn als Heiligen in Erinnerung behält. Allerdings wird er heute noch von Anarchisten mißverstanden und des »Verrats« an einer »sozialistischen Regierung« bezichtigt. Hätte der Sowjet nur ein Jahr gedauert, würden wir bei der Erwähnung seiner Schönheit weinen müssen - aber bevor auch nur die ersten Blumen jenes Frühlings verwelkt waren, wurden der Geist3.13 und die Poesie ausgelöscht, und wir haben all das vergessen. Stell dir vor, wie es gewesen sein muß, die Luft einer Stadt zu atmen, in der der Volksbeauftragte für Volksaufklärung gerade prophezeit hat, die Schulkinder würden bald die Werke Walt Whitmans auswendig kennen. Ach, gäbe es doch eine Zeitmaschine ... ¶
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