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»Nach Croatan verschwunden«

3.2

Wir haben nicht die Absicht, die TAZ zu definieren oder Dogmen darüber aufzustellen, wie sie geschaffen werden muß. Unsere Behauptung ist vielmehr, daß sie geschaffen wurde, geschaffen werden wird, geschaffen wird. Es ist daher wichtiger und interessanter, einen Blick auf einige TAZen aus Vergangenheit und Gegenwart zu werfen und über mögliche zukünftige Ausprägungen zu spekulieren. Indem wir ein paar Prototypen beschwören, sind wir vielleicht in der Lage, den potentiellen Rahmen des Komplexes zu ermessen und vielleicht sogar eine Ahnung von einem »Archetypen« zu bekommen. Statt in eine Art Enzyklopädismus zu verfallen, werden wir uns einer Streutechnik bedienen, eines Mosaiks flüchtiger Blicke. Wir beginnen recht willkürlich mit dem 16. und 17.Jahrhundert und der Besiedlung der Neuen Welt.¶

Die Öffnung der »neuen« Welt wurde von Anfang an als okkultistische Operation begriffen. Der Magier John Dee, spiritueller Berater von Elizabeth I, scheint das Konzept des »magischen Imperialismus« erfunden und damit eine ganze Generation infiziert zu haben. Halkyut und Raleigh erlagen seinem Zauber, und Raleigh nutzte seine Verbindungen zur »School of Night« - einer Kabale fortschrittlicher Denker, Aristokraten und Eingeweihter -, um Erforschung, Kolonisierung und Kartographie voranzutreiben. Shakespeares Der Sturm (The Tempest) diente der Propaganda für die neue Ideologie und die Roanoke Colony war deren erstes Vorzeigeexperiment.¶

Die alchimistische Sicht der Neuen Welt assoziierte diese mit materia prima oder Hyle, dem »Zustand der Natur«, Unschuld und »Alles-ist-Möglich« (»Virgin-ia«), einem Anfangschaos, das die Eingeweihten in »Gold« transmutieren würden, das heißt in spirituelle Perfektion wie auch materiellen Überfluß.¶

Aber diese alchimistische Vision ist zum Teil auch geprägt von der tatsächlichen Faszination vom ''Wilden'', einer heimlichen Sympathie dafür, einem Gefühl der Sehnsucht nach seiner formlosen Form, dem der »Indianer« zum zentralen Symbol wurde: der »Mensch« im Naturzustand, unverdorben durch eine »Regierung«. Kaliban, der Wilde Mann, haust wie ein Virus just in der Maschine des Okkulten Imperialismus; der Wald/das Tier/die Menschen sind von Anfang an ausgestattet mit der magischen Kraft der Marginalisierten, Geächteten, Outcasts. Einerseits ist Kaliban häßlich und die Natur eine »heulende Wildnis« - anderseits ist Kaliban edel und ungebunden und die Natur das reinste Eden. Diese europäische Bewußtseinsspaltung geht der romantischen/klassischen Dichotomie voraus; sie hat ihren Ursprung in der Magie (High Magic) der Renaissance. Die Entdeckung Amerikas (Eldorado, die Quelle der Jugend) führte zu deren Kristallisierung; und sie beschleunigte sich in tatsächlichen Kolonisierungsvorhaben.¶

In der Grundschule wurde uns beigebracht, die ersten Besiedlungen in Roanoke3.3 seien gescheitert; die Kolonisatoren machten sich auf und davon und hinterließen lediglich die kryptische Nachricht: »Nach Croatan verschwunden«. Spätere Berichte über »grauäugige Indianer« wurden als Legenden abgetan. In den Schulbüchern hieß es, was sich wirklich zugetragen habe, sei die Massakrierung der hilflosen Siedler durch die Indianer gewesen. »Croatan« war jedoch nicht irgendein Eldorado, sondern der Name eines benachbarten Stammes freundlich gesonnener Indianer. Die Siedlung wurde offenbar von der Küste in die Great Dismal Swamps verlegt und ging in den tribalen Strukturen auf. Und die grauäugigen Indianer gab es wirklich - sie sind noch immer da und nennen sich noch immer Croatans.¶

Die erste Kolonie in der Neuen Welt hat es also vorgezogen, den Kontrakt mit Prospero (Dee/Raleigh/Empire) zu lösen. Ihre Bewohner liefen mit Kaliban zu den Wilden über. Sie stiegen aus. Sie wurden »Indianer«, »Eingeborene«, entschieden sich für das Chaos, statt sich dem schrecklichen Elend der Fronarbeit für die Plutokraten und Intellektuellen Londons auszusetzen.¶

Während Nordamerika entstand, wo einst »Turtle Island« war, blieb Croatan in seiner kollektiven Psyche fest verankert. Jenseits der Siedlungsgrenzen (Frontier) herrschte noch immer der »Natur«-Zustand vor (d.h. kein Staat) - und im Bewußtsein der Siedler schlummerte stets die Option der Wildheit, die Versuchung, Kirche, Farmarbeit, Bildung, Steuern - all die Lasten der Zivilisation - hinter sich zu lassen, und auf die ein oder andere Weise »nach Croatan zu verschwinden«. Als zudem die Revolution in England verraten wurde, zunächst von Cromwell, dann durch die Restauration, flohen sehr viele protestantische Radikale, oder sie wurden in die Neue Welt abtransportiert (die zu einem Gefängnis geworden war, ein Ort des Exils). Antinomisten, Familisten, Quaker, Levellers, Diggers und Ranters wurden schnell mit dem okkulten Schatten der Wildheit vertraut.¶

Anne Hutchinson und ihre Freundinnen und Freunde3.4 sind nur die bekanntesten (weil aus der Oberklasse) der Antinomisten, die das Pech hatten, Opfer der Bay-Colony-Politik zu werden. Es gab allerdings einen sehr viel radikaleren Flügel dieser Bewegung. Die Ereignisse, auf die sich Hawthorne in »The Maypole of Merry Mount« bezieht, sind historisch gesichert. Die Extremisten hatten offenbar beschlossen, sich völlig vom Christentum loszusagen und sich dem Paganismus zuzuwenden. Wenn sie es geschafft hätten, sich mit ihren indianischen Verbündeten zu vereinen, hätte das Resultat ein synkretistische antinomistisch/keltisch/algonkinische Religion, eine Art nordamerikanisches Santeria des 17.Jahrhunderts sein können.¶

Sektierer hatten unter den lockereren und korrupteren Administrationen der Karibik mehr Erfolg. Wegen der rivalisierenden europäischen Interessen waren viele Inseln unbewohnt, oder es wurde gar überhaupt kein Besitzanspruch erhoben. Besonders Barbados und Jamaika müssen von vielen Extremisten besiedelt worden sein, und ich glaube, daß die Einflüße von Levellers und Ranters zur Enstehung des Bukanier-»Utopia« auf Tortuga beigetragen haben. Hier können wir dank Esquemelin eine erfolgreiche Proto-TAZ der Neuen Welt tiefgreifender studieren. Vor solch fürchterlichen ''Wohltaten'' des Imperialismus wie Sklaverei, Leibeigenschaft, Rassismus und Intoleranz, vor den Torturen der Zwangsarbeit und der Trostlosigkeit der Plantagen fliehend, nahmen die Bukanier3.5 indianische Lebensweisen an, heirateten in karibische Familien ein, akzeptierten Schwarze und Spanier als Gleiche, pfiffen auf jegliche Nationalität, bestimmten ihre Kapitäne per demokratischer Wahl und kehrten in den »natürlichen Zustand« zurück. Nachdem sie sich »im Krieg mit der ganzen Welt« deklariert hatten, segelten sie los, um zu räubern. Und dies nach gemeinsamen Verträgen, die »Articles« genannt wurden und so egalitär waren, daß jeder den gleichen Anteil und der Kapitän gewöhnlich 1 1/4 oder 1 1/2 Beuteanteile erhielt. Züchtigung und Bestrafung waren verboten - Streitereien wurden per Abstimmung beigelegt oder per Duell entschieden.¶

Es ist schlichtweg falsch, die Piraten als Wegelagerer der See oder gar Protokapitalisten zu bezeichnen, wie dies einige Historiker getan haben. In gewisser Weise waren sie »Sozialbanditen«, obwohl ihre Basiscommunities keine traditionellen Bauerngesellschaften, sondern »Utopias« waren, die nahezu ex nihilo auf terra incognita geschaffen wurden, Enklaven totaler Freiheit, die freie Räume auf den Karten besetzten. Nach dem Fall von Tortuga blieb das Bukanierideal während des »Goldenen Zeitalters« der Piraterie (ca. 1660-1720) lebendig. Die Folge waren Landbesiedlungen, in Belize beispielsweise, die von Bukaniern durchgeführt wurden. Als sich dann die Szene nach Madagaskar verlagerte - einer Insel, die noch nicht von irgendeiner imperialen Macht beansprucht und die von einem Patchwork lokaler Könige (Stammesoberhäupter) regiert wurde, die nach Piratenverbündeten suchten - erreichte das Piratenutopia seine höchste Form.¶

Defoes Bericht über Kapitän Mission und die Gründung von Libertatia mag, wie einige Historiker behaupten, ein literarischer Streich sein, mit dem die radikale Whig-Theorie propagiert werden sollte - er war aber zunächst in The General History of the Pyrates (1724-28) eingebettet. Diese Quellensammlung wird nach wie vor als Geschichtsschreibung geschätzt. Zudem wurde die Geschichte über Kapitän Mission nicht kritisiert, als das Buch erschien und viele alte Madagaskar-Kenner noch am Leben waren. Sie scheinen die Geschichte geglaubt zu haben, weil sie zweifellos Piratenenklaven wie die von Libertatia gekannt hatten. Dort wurden erneut befreite Sklaven, Einheimische und selbst traditionelle Feinde, wie etwa die Portugiesen, eingeladen, als Gleiche an dem Projekt teilzuhaben. (Die Befreiung der Sklaven von Sklavenschiffen war eine der Hauptbeschäftigungen.) Land war gemeinschaftlicher Besitz, Repräsentanten wurde nur für kurze Zeiträume gewählt, die Beute geteilt. Es wurden Freiheitsdoktrinen gepredigt, die weit radikaler waren als selbst die des Common Sense

Libertatia hoffte auf Fortdauer, und Mission starb bei der Verteidigung der Enklave. Die meisten Utopias der Piraten waren allerdings temporär angelegt. Die wirklichen »Republiken« der Korsare waren faktisch ihre Schiffe, die unter »Articles« fuhren. Die Küstenenklaven kannten zumeist überhaupt kein Gesetz. Das letzte klassische Beispiel, Nassau auf den Bahamas, eine Strandsiedlung aus Hütten und Zelten, in der Wein getrunken und sich hemmungslos geliebt wurde (und wo - laut Birges Sodomy and Piracy - auch Knabenliebe nichts Außergewöhnliches war), Lieder gesungen (die Piraten waren außerordentlich musikbegeistert und heuerten Bands für die Dauer eines Raubzuges an) und fürchterliche Exzesse veranstaltet wurden, verschwand über Nacht, als die britische Flotte in der Bucht auftauchte. Blackbeard und »Calico Jack« Rackham und seine Crew von Piratinnen machten sich an wildere Küsten und in unzüchtigere Gefilde davon, während andere sich zu bessern versprachen. Aber die Bukaniertradition setzte sich sowohl auf Madagaskar - wo die Kinder der Piraten ihre eigenen Königreiche errichteten - und in der Karibik fort, wo entflohene Sklaven, und andere Menschen unterschiedlicher Hautfarbe in den Bergen und im Hinterland als »Maroons« existierten. Als Zora Neale Hurston in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts die Maroon-Community auf Jamaica besuchte (siehe Tell My Horse), verfügte diese noch über einen gewissen Grad an Autonomie und pflegte die alten Bräuche. Die Maroons von Surinam praktizieren immer noch afrikanischen »Paganismus«.¶

Während des 18.Jahrhunderts produzierte Nordamerika ebenfalls eine ganze Reihe »tri-racial isolate communities« von Drop-Outs. (Der klinisch klingende Terminus »tri-racial isolate communities« geht auf die Eugenikerbewegung (Eugenics Movement) zurück, welche die ersten wissenschaftlichen Studien über diese Communities erstellte. Die »Wissenschaft« diente allerdings nur dazu, den Haß auf »Mischlinge« und die Armen zu legitimieren, und die »Lösung des Problems« bestand gewöhnlich in Zwangssterilisation.) Die Kerne bestanden immer aus entflohenen Sklaven und Leibeigenen, sogenannten »Kriminellen« (d.h. ganz Armen), »Prostituierten« (wie die Eugeniker weiße Frauen bezeichneten, die Nichtweiße geheiratet hatten) und aus Angehörigen verschiedener lokaler Stämme. In einigen Fällen, wie etwa bei den Seminole und Cherokee, wurden die Neuankömmlinge von der traditionellen tribalen Struktur absorbiert, in anderen Fällen wurden neue Stämme gegründet. So ''entstanden'' auch die Maroons der Great Dismal Swamps3.6 , die das 18. und 19. Jahrhundert überdauerten, entflohene Sklaven aufnahmen, als ''Zwischenstation'' der Underground Railway3.7 fungierten und ein religiöses und ideologisches Zentrum für Sklavenrebellionen waren. Die Religion war HooDoo, eine Mischung aus afrikanischen, indianischen und christlichen Elementen. Und laut H. Leaming-Bey waren die Glaubensältesten und Führer der Great Dismal Maroons als »Seven Finger High Glister« bekannt.¶

Die Ramapaughs des nördlichen New Jersey (unrichtigerweise als »Jackson Whites« bekannt) haben ebenfalls eine romantische und archetypische Genealogie: befreite Sklaven der holländischen Poltroons, diverse Delaware- und Algonkin-Clans, die üblichen »Prostituierten«, die »Hessen« (Hessians: ein Schlagwort für ehemalige britische Söldner, abtrünnige Loyalisten usw.) und örtliche Banden von Sozialbanditen wie den Claudius Smith's.¶

Auf einen afrikanisch-islamischen Ursprung berufen sich einige Gruppen wie etwa die Moors of Delaware und die Ben Ishmaels3.8, die Mitte des 18. Jahrhunderts von Kentucky nach Ohio migrierten. Die Ishmaels praktizierten Polygamie, tranken keinen Alkohol, verdienten ihren Lebensunterhalt als Minstrels, gingen Ehen mit Indianern ein und nahmen deren Bräuche und Gewohnheiten an und huldigten so sehr dem Nomadismus, daß sie ihre Häuser auf Räder bauten. Das Dreieck ihrer jährlichen Migration wurde unter anderem durch Frontier-Städten mit Namen wie Mecca und Medina gebildet3.9. Im 19. Jahrhundert hegten einige von ihnen anarchistische Ideale, und die Eugeniker des Eugenics Movement begingen an ihnen ein besonders teufliches Pogrom - nach ihrer Losung »Erlösung durch Auslöschung«. Einige der frühesten eugenischen Gesetze richteten sich gegen Gruppen wie die Ishmaels. Als Stamm »verschwanden« sie in den zwanziger Jahren, verstärkten aber wahrscheinlich die Reihen früher »schwarz-islamischer« Sekten wie dem Moorish Science Temple.¶

Ich selbst wuchs mit Legenden über die »Kallikaks« der nahegelegenen Pine Barrens von New Jersey auf (und über Lovecraft natürlich, einen fanatischen Rassisten, der von den isolierten Communities fasziniert war). Die Legenden erwiesen sich als Volkserzählungen, die auf den Verleumdungen der Eugeniker beruhten, die ihr US-Hauptquartier in Vineland, New Jersey, unterhielten und die üblichen »Reformen« gegen »Rassenmischung« und »Schwachsinn« in den Barrens anstrengten (einschließlich der Publikation von Fotografien der Kallikaks, die ebenso grob wie offensichtlich retouchiert worden waren, damit diese wie Monster aussahen).¶

Die »isolierten Communities« - zumindest diejenigen, die ihre Identität bis ins 20. Jahrhundert hinein bewahrt haben - weigerten sich durchgehend, von der Mainstream-Kultur oder der schwarzen »Subkultur« aufgesogen zu werden, der moderne Soziologen sie gerne zuordnen. In den siebziger Jahren beantragten eine Reihe von Gruppen, darunter die Moors und die Ramapaughs, inspiriert von der American Native Renaissance, ihre Anerkennung als indianische Stämme. Sie erhielten Unterstützung von indianischen Aktivisten, der offizielle Status wurde ihnen jedoch verweigert. Hätten sie gewonnen, wäre vielleicht ein gefährlicher Präzedenzfall für alle möglichen Drop-outs geschaffen worden, von »weißen Peyotisten« über Hippies bis zu schwarzen Nationalisten, »Ariern« (Aryans), Anarchisten und Libertären - ein »Reservat« für alle und jeden. Das »Europäische Projekt« kann die Existenz der Wilden nicht anerkennen - das grüne Chaos ist weiterhin eine viel zu große Bedrohung des imperialen Traumes von Ordnung.¶

Die Moors und Ramapaughs wiesen die »diachronische« oder historische Erklärung ihrer Ursprünge zugunsten einer »synchronen«, auf einem »Mythos« indianischer Adoption basierenden Selbstidentität zurück. Oder um es anders auszudrücken, sie nannten sich selbst »Indianer«. Man stelle sich vor, wieviele nach Croatan abreisen würden, wenn jeder, der es wünscht, »ein Indianer zu sein«, dies durch einen Akt der Selbstbezeichnung erreichen könnte. Jener alte okkulte Schatten liegt noch immer über den Überbleibseln unserer Wälder (die sich, nebenbei bemerkt, seit dem 19. Jahrhundert ausgebreitet haben, da Farmland zu Buschwald wurde. Thoreau träumte auf seinem Totenbett von der Rückkehr von » ... Indianern ... Wäldern ... «: Rückkehr des Unterdrückten).¶

Die Moors und Ramapaughs haben natürlich gute materielle Gründe, sich als Indianer zu sehen - schließlich haben sie indianische Vorfahren -, aber wenn wir ihre Selbstbezeichnung in »mythischer« wie historischer Sicht würdigen, werden wir zu Erkenntnissen gelangen, die bei der Suche nach der TAZ weiterhelfen. In tribalen Gesellschaften existieren von einigen Soziologen als Männerbünde bezeichnete Gruppierungen: Totemgesellschaften, die in einem Akt der Gestaltveränderung mit der »Natur« identisch, das Totem-Tier werden wollen (Werwölfe, Jaguarschamanen, Leopardenmänner, Katzenzauberer usw.). Im Kontext einer gesamten kolonialen Gesellschaft (wie Taussig in Shamanism, Colonialism, and the Wild Man ausführt) wird die Kraft der Gestaltveränderung als der indigenen Kultur insgesamt inhärent erachtet - daher kommt dem am stärksten unterdrückten Sektor der Gesellschaft durch den Mythos okkulten Wissens eine paradoxe Macht zu, die vom Kolonisten gefürchtet, jedoch auch für sich ersehnt wird. Natürlich verfügen die natives über ein gewisses okkultes Wissen; aber als Reaktion auf die imperiale Wahrnehmung von native culture als eine Art »spiritual wild(er)ness« sehen sich die natives mehr und mehr bewußt in dieser Rolle. Auch wenn sie marginalisiert werden, gewinnt doch die Marginalität eine magische Aura. Vor dem Auftauchen des weißen Mannes waren sie einfach nur Stämme - nun sind sie »Hüter der Natur«, leben im »Naturzustand«. Der Kolonist selber wird von diesem »Mythos« verführt. Wann immer ein Amerikaner aussteigen oder zurück zur Natur möchte, stets »wird er zum Indianer«. Die radikalen Demokraten von Massachusetts (geistige Nachfahren der radikalen Protestanten), die die Tea Party organisierten und tatsächlich glaubten, Regierungen könnten abgeschafft werden (die gesamte Berkshire-Region erklärte, sich in einem »Naturzustand« zu befinden!), verkleideten sich als »Mohawks«. Die Kolonisten, die sich plötzlich gegenüber ihrem Herkunftsland marginalisiert sahen, nahmen die Rolle marginalisierter natives an, um so (in gewissem Sinne) an ihrer okkulten Kraft, ihrer mythischen Ausstrahlung teilzuhaben. Von den Mountain Men bis zu den Boy Scouts - der Traum, »zum Indianer zu werden«, zieht sich durch unzählige Strömungen der amerikanischen Geschichte, der Kultur und des Bewußtseins.¶

Die sexuellen Phantasien, die mit »tri-racial groups« verbunden sind, bestätigen diese Hypothese. »Natives« sind natürlich immer unmoralisch, aber Überläufer zu diesen und Drop-outs müssen gänzlich polymorph-pervers sein. Die Bukanier waren Sodomiten, die Maroons und Mountain Men lebten in einer »Mischkultur«, bei den »Jukes und Kallikaks« gab es Inzest, die Kinder liefen nackt umher und masturbierten in der Öffentlichkeit usw. usw. Die Rückkehr in einen »Natur«zustand« scheint die Ausübung jedes »unnatürlichen« Aktes zu gestatten, zumindest dann, wenn wir den Puritanern und Eugenikern Glauben schenken. Und da viele Menschen in unterdrückten, moralistischen, rassistischen Gesellschaften sich heimlich genau diese zügellosen Akte wünschen, projizieren sie sie auf die Marginalisierten und wiegen sich damit in der Gewißheit, daß sie selber zivilisiert und rein bleiben. Und tatsächlich lehnen einige marginalisierte Communities den moralischen Konsens der Gesellschaft ab - die Piraten taten dies ganz sicher! - und lebten zweifellos einige der von der Zivilisation unterdrückten Wünsche aus. (Würdest du das nicht?) »Wild« werden ist stets ein erotischer Akt, ein Akt der Nacktheit. Von der Erfüllung von Nietzsches Traum von einer neuen, von ethnischem und nationalem Chauvinismus befreiten Humanität - einem Vorläufer des »psychischen Nomaden« vielleicht sind wir heute weiter entfernt als zu seiner Zeit. Chauvinismus ist nach wie vor dominant. Aber die autonomen Zonen der Bukanier und Maroons, Ishmaels und Moors, Ramapaughs und »Kallikaks« oder ihre Geschichten bleiben als Indikatoren dessen, was Nietzsche »den Willen zur Macht als Verschwinden« genannt haben könnte. Wir müssen auf dieses Thema zurückkommen.¶



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