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Voherige Seite 11 Das Herz des Staates treffen 13 Ausbruch aus dem Gefängnis von Nächste Seite

12 Die erste Verhaftung

Mann mit Knarre, 32.45k



Sonntag, 8. September 1974, die Carabinieri verhaften dich und Franceschini am Bahnübergang von Pinerolo. Ihr seid in die Falle des Spitzels Silvano Girotto12.1 alias »Bruder Maschinengewehr« gelaufen. Wie hat sich das damals zugetragen?

Ich glaube, die Verantwortung trage ich in erster Linie selbst. Es war eine Mischung aus Naivität, Unachtsamkeit und ein gewisses Maß an Pech. Hätte ich die Sicherheitsregeln, die wir aufgestellt hatten, beachtet, wäre es anders gelaufen.

Das Aufsehen, welches die Sossi-Entführung erregte, hatte zwei Konsequenzen. Einerseits entschloß sich die Polizei, uns ernsthafter und mit raffinierteren Methoden zu jagen. Andererseits bekamen wir, bedingt durch den Erfolg jener Aktion, lawinenartig Anfragen, sich den BR anzuschließen. Wir legten daher eine Pause bei den bewaffneten Aktionen ein, und einige zogen los, um das Netz unserer verstreuten Verbindungen in Italien zu erweitern.

In dieser euphorischen Stimmung erreichten mich drängende Anfragen aus gewerkschaftlichen Kreisen, einen Kontakt mit Girotto herzustellen. Der hatte sich in den Interviews mit verschiedenen Zeitungen nicht darauf beschränkt, mit seinen Erfahrungen als Guerillero in Südamerika zu prahlen, sondern auch eine explizite Bewunderung für unsere Organisation durchscheinen lassen. Zunächst schenkte ich der Sache keine besondere Bedeutung. »Bruder Maschinengewehr« war wirklich mein letztes Problem. Die Nachfragen hielten aber weiter an, und einige Freunde sagten mir: »Paß auf, du mußt mit ihm reden, du mußt ihm sagen, daß er die BR nicht in der Öffentlichkeit verteidigen soll, das bringt uns nur in Verlegenheit ...«

Ich zog die anderen zu Rate. Margherita war sehr mißtrauisch. Auf ihre subtile Intuition konnte man sich in der Regel verlassen. Ihrer Ansicht nach stank die Angelegenheit, und sie meinte, Girotto zu treffen, könnte gefährlich sein. Um ehrlich zu sein, mir war er nicht suspekt. Wir vereinbarten schließlich, daß ich zusammen mit Moretti Girotto treffen sollte, damit er sich ebenfalls darüber klar werden konnte, was das für ein Typ war.



Du gingst also mit Moretti zu dem Treffen; wo hat es stattgefunden?

Im Piemont, in der Gegend von Pinerolo. Aber Moretti und ich gingen nicht alleine dort hin. Zur Sicherheit kamen etwa fünfzehn gut bewaffnete Genossen mit, die den Treffpunkt absicherten. Bei diesem ersten Treffen passierte nichts. Er erschien wie vereinbart, wir luden ihn ins Auto und fuhren in die Berge. Er sagte, er wolle mit uns zusammenarbeiten und uns mit seinen Erfahrungen als Guerillero aus den Anden zur Verfügung stehen. Wir bekundeten Interesse, aber vor allem ermahnten wir ihn zu größerer Vorsicht. Wir vereinbarten ein zweites Treffen für den 8. September, ebenfalls in Pinerolo, wo ich als Kind gewesen war und jeden Winkel und Pfad kannte.

Aus der Zusammenkunft gewann Moretti den Eindruck, daß Girotto ehrlich sei und uns vielleicht nützlich sein konnte. Ich konnte ihn nicht genau einschätzen, hatte aber auch keinen besonderen Verdacht geschöpft. Wir beschlossen, ihn zunächst von der Organisation fernzuhalten und mehr über ihn herauszubekommen. Wir wollten ihm vorschlagen, daß er ein sicheres Haus anmieten solle. Dort hätte er uns dann in aller Ruhe seine Kenntnisse darlegen können, über die er seiner Behauptung nach aus der Praxis des bewaffneten Kampfes verfügte.



Bist du überhaupt noch dazu gekommen, Girotto diesen Vorschlag zu unterbreiten?

Nein, denn an jenem Sonntag, dem 8. September, dauerte unser Treffen nur wenige Minuten. Ich fühlte, daß etwas nicht stimmte. Einige Autos und bestimmte Gesichter hatten mich stutzig gemacht ... Also sagte ich ihm gleich, als er ankam, daß ich es eilig hätte und wir uns in Turin wiedersehen würden. Er widersprach nicht, und wir verabschiedeten uns.

Ich ging zum Auto und fuhr los, um Franceschini in der Kneipe abzuholen, in der ich ihn abgesetzt hatte. Daß Alberto zu dem Treffen mitkam, war nicht vorgesehen. Ich hatte ihn gebeten, mich auf der Autofahrt zu begleiten, damit wir weiter über das Papier diskutieren konnten, an dem wir gerade arbeiteten. Das war sehr unvorsichtig von mir. Wäre ich alleine hingegangen, hätten sie natürlich nur mich verhaftet. Doch wahrscheinlich hätten sie die Falle dann gar nicht erst zugeschnappen lassen. Eine weitere Leichtfertigkeit war, daß ich mich diesmal nicht aus der Entfernung von einer Gruppe Genossen absichern ließ.

Jedenfalls bog ich, als ich aus dem Wohngebiet von Pinerolo rausfuhr, in ein kleines Sträßchen ein, da ich es für sicherer als die Landstraße hielt. Ich kam an einen geschlossenen Bahnübergang und mußte hinter einem Transporter halten. Einige Augenblicke lang passierte nichts. Dann kam ein Auto angerast, das leicht auf uns auffuhr. Ich wurde sauer: »Schau dir diese Arschlöch...«. Ich hatte den Fluch noch nicht beendet, da waren schon zehn bis fünfzehn Männer in Zivil mit gezückten Pistolen aufgetaucht. Wir waren umstellt. Durch das offene Seitenfenster hielt mir einer die Waffe an den Kopf und zischte: »Keine Bewegung, wir sind Carabinieri.« Ich legte die Hände gut sichtbar auf das Lenkrad und atmete nicht. Franceschini hingegen schaffte es, seine Tür zu öffnen, und brüllte los: »Die Faschisten, die Faschisten ...« Mit ein paar Faustschlägen wurde er zum Schweigen gebracht.



An was hast du gedacht, während sie dich festnahmen?

Zunächst fürchtete ich um mein Leben. Dem Jungen, der die Pistole auf mich gerichtet hatte, zitterte gefährlich die Hand. Dann merkte ich, daß es wirklich Carabinieri waren und wir in der Falle saßen. Da war nichts mehr zu machen.

Ich begriff nicht sofort, daß wir dies Girotto zu verdanken hatten. Verdammt, was für ein Pech, dachte ich, der Idiot ist überwacht worden und deswegen haben sie uns geschnappt. Ich ärgerte mich, daß ich die Sicherheitsvorkehrungen nicht ernstgenommen und den Warnungen Margheritas keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

Aber ich wurde sofort von einer fixen Idee beherrscht: auf jede erdenkliche Weise zu versuchen zu entfliehen.



Hast du Girotto jemals wiedergesehen?

Nein, aber achtzehn Jahre später, im Sommer 1992, schrieb er mir einen langen Brief, in dem bedauerte, daß ich immer noch im Knast sitze. Er erläuterte, daß er mit einem tiefen Haß gegen »Revolutionäre« aus Chile gekommen war und nun glaubte, dazu beitragen zu müssen, das, was die BR in Italien repräsentierten, zu besiegen. Er fügte aber auch hinzu, daß ihm nach so langer Zeit und dem Ende des bewaffneten Kampfes meine endlose Haft einige Gewissensbisse bereitete.



Eure Verhaftung hat zu Streit in den BR geführt. Franceschini behauptet, sie »hätte vermieden werden können«, denn jemand hätte versucht, dich zu warnen, daß die Verabredung mit Girotto eine Falle war. Auch hat die Angelegenheit zu schweren Verdächtigungen gegenüber Moretti geführt, der sich merkwürdig verhielt, indem er dir die Warnung nicht hatte zukommen lassen. Hast du eine genaue Vorstellung, wie es sich damals wirklich zugetragen hat?

In den darauffolgenden Jahren habe ich eine Reihe von Recherchen unternommen, um den Ablauf der Angelegenheit zu rekonstruieren, und bin zu der Überzeugung gelangt, daß Moretti vielleicht etwas unachtsam und vergeßlich war, aber ansonsten keine größere Schuld hatte.

Ich bekam folgendes heraus: Fünf Tage vor unserer Festnahme, am Montag, dem 2. September, bekam Enrico Levati, ein Arzt aus Novara, der nur periphere Kontakte zu den BR hatte, einen mysteriösen Anruf: »Warne Curcio, er soll nicht zur Verabredung mit Girotto gehen, es handelt sich um eine Falle ...« Levati hatte keine Möglichkeit, mit uns direkt in Kontakt zu treten, und fuhr nach Mailand, um in den Kreisen von Pirelli und Siemens die Buschtrommeln in Bewegung zu setzen. Die Botschaft erreichte Moretti in der Nacht von Donnerstag auf Freitag. Aber er hielt es nicht für notwendig, sofort zu reagieren. Er wußte, daß ich und Franceschini gerade in einem Haus in Parma an einem gewissen Büchlein arbeiteten und daß ich mich von dort bis Samstag nacht oder Sonntag morgen nicht wegbewegen würde. Er glaubte also, mich am Samstag im Laufe des Tages warnen zu können ...



Um was für ein »Büchlein« handelte es sich?

Wir hatten uns in den Büros von Edgardo Sogno12.2 in Mailand umgeschaut und uns Hunderter Briefe, Namenslisten von Politikern, Diplomaten, Militärs, Staatsanwälten sowie Polizei- und Carabinierioffizieren bemächtigt. Es war das Personennetz des von ehemaligen liberalen Partisanen vorbereiteten und von den Amerikanern unterstützten sogenannten »weißen Putsches«12.3. Wir hielten das Material für höchst explosiv und gedachten es in einem Papier zusammenzufassen und zu veröffentlichen. Zum Zeitpunkt der Verhaftung schleppten wir leider die gesamte Beute mit uns herum, und so landeten auch jene brisanten Dokumente in den Händen der Carabinieri.

Einige Jahre später beim Prozeß in Turin forderte ich den Vorsitzenden Barbaro auf, den Inhalt des Hefters, der sich in dem Auto befand, als wir verhaftet wurden, bekanntzugeben. Er antwortete verlegen: »Er ist nicht mehr aufzufinden ... Irgend jemand hat ihn aus dem Justiz-Archiv entwendet.« Damit war die Sache erledigt. Es hätte mich sehr interessiert, etwas mehr über jenes rätselhafte Verschwinden zu erfahren.



Kehren wir zur Situation vor deiner Festnahme zurück. Warum warnte Moretti dich nicht vor der Gefahr?

Er versuchte es, kam aber zu spät. Er kam am Samstag nachmittag in Parma an, wir waren bereits abgefahren. Ich sollte am Sonntag morgen in Pinerolo sein, hatte aber keine Lust, die ganze Strecke an einem Stück mit dem Auto zu fahren. Daher hatte ich es vorgezogen, am Samstag nachmittag mit Franceschini nach Turin zu fahren. Von dort aus war es leichter, am nächsten Morgen den Treffpunkt zu erreichen.

Moretti traff uns also nicht mehr an und wußte nicht, was er tun sollte. Er versuchte, mich in meiner Wohnung in Turin zu erreichen, in der er einmal gewesen war. Er konnte sich aber weder an die Adresse noch an den Weg erinnern. Daraufhin versuchte er Margherita abzufangen, die in einer anderen Wohnung sein sollte, aber ebenfalls weggefahren war. Als letzte Möglichkeit rief er am Samstag mitten in der Nacht eine Gruppe Mailänder Genossen zusammen und sagte, sie sollen »Straßensperren« auf den Straßen zwischen Turin und Pinerolo aufbauen, mich aufhalten und warnen. Er wußte, daß ich mit einem Fiat 1100 mit Kennzeichen aus Bologna unterwegs war. Was er allerdings nicht wußte, war, daß wir nicht auf Hauptstraßen unterwegs waren, sondern auf Nebenstraßen und eigens ausgewählten Wegen, die ich immer für mich behielt.

Also gingen alle Versuche, mich abzufangen, ins Leere. Die Falle schnappte wie angekündigt zu, und ich landete in den Armen der Carabinieri.



Hast du auf der Stelle versucht zu fliehen?

Fast unmittelbar, aber es handelte sich um einen verzweifelten und etwas grotesken Versuch.

Nach der Gefangennahme brachten mich die Carabinieri in eine Kaserne am Stadtrand von Turin. Ich saß die Nacht über grübelnd in einer Sicherheitszelle und machte mir Vorwürfe: »Wie naiv und unvorsichtig bin ich gewesen, was war ich für eine Pflaume; ich muß so schnell wie möglich wieder hier raus ...«

Die Gelegenheit schien sich schon am nächsten Morgen zu bieten. Zwei Männer in Zivil kamen und fragten mich, ob ich Hunger hätte. Ich bejahte dies energisch, worauf sie mit einem belegten Brötchen und einer Cola zurückkehrten. Ich durfte an einem kleinen Tisch außerhalb der Zelle in einem Vorraum essen. Ich schaute mich um und bemerkte, daß sich am Ende des Flures ein Ausgang befand, der sich per Knopfdruck öffnen ließ. Augenblicklich beschloß ich, es zu versuchen.

Ich wartete, bis meine Bewacher einen Moment unachtsam waren, sprang über das Tischchen, das kaum 40 cm hoch war, lief einige Schritte, stolperte, fand wieder das Gleichgewicht und erreichte fast die Tür. Dort wurde ich durch ein unerbittliches Tackling von einem der Carabinieri zu Boden geschleudert. Die ganze Mannschaft fiel über mich her. Aufgrund meiner Fettleibigkeit und miesen physischen Verfassung zu jener Zeit schaffte ich es nicht einmal mehr aufzustehen.



Du willst nicht behaupten, daß du dich heute, nach achtzehn Jahren Knast, in besserer körperlicher Verfassung fühlst?

Aber sicher. Das Leben in der Klandestinität war aus körperlicher und gesundheitlicher Sicht sehr viel zerstörerischer als das Knastsystem. Damals war ich aufgedunsen, vom Rauchen vergiftet, die Leber in Stücke. Auch der Knast kann dich zerstören, aber ich habe mir einige klösterliche Regeln auferlegt, um das zu vermeiden. Heute hätte ich den Sprung über den Tisch und den 15 Meter-Sprint wesentlich leichter gemeistert.



Gut, jedenfalls steht gleich zu Beginn deines ersten Knastaufenthalts die Rebellion. Wie hast du dich gegenüber den Justizbeamten verhalten, die dich vernommen haben?

Unsere Beziehung ging nicht sehr tief. Zuerst kam Richter Giancarlo Caselli, dann kamen nach und nach Guido Viola, Ciro de Vincenzo und die anderen. Ich gab zunächst einen falschen Namen an und erzählte, daß der Typ, der mit mir im Auto gesessen hatte, ein harmloser Tramper gewesen sei, der von nichts wußte und den ich aus Höflichkeit mitgenommen hätte. Franceschini? »Diesen Namen habe ich noch nie gehört«, behauptete ich. Das hat natürlich nicht geklappt. Sie hatten Fotos von Observationen und waren über vieles gut informiert.

Caselli habe ich als geschickt und geduldig in Erinnerung. Er suchte mich verschiedene Male im Knast auf, und da ich über die BR nichts sagte, fing er an, über dieses und jenes zu schwatzen. Über die Bücher die ich gerade las, über Träume, über Märchen, über die Tupamaros, und plötzlich streute er eine Frage über Girotto, Margherita oder jemand anderen aus der Organisation ein. Ich ließ mich nicht ködern, aber es war ein ziemlich stimulierendes psychologisches Spielchen. Im Knast von Novara blieb ich 40 Tage in Isolationshaft, eine Zeit, an die ich relativ angenehme Erinnerungen habe. Damit ich nicht zufällig auf »Sympathisanten« stieß, brachten sie mich für den Freigang zu dem winzigen Hof des Frauentraktes. Ich war natürlich alleine. Die Gefangenen lehnten sich aber aus den zum Hof gelegenen Fenstern. Wir konnten aus der Entfernung miteinander quatschen, und sie warfen mir Zigarettenpäckchen und Zeitungsausschnitte zu. So entstanden eine Reihe von Freundschaften, zum Teil sehr herzliche, die auch später noch weiterbestanden.

Diese freundlichen Abwechslungen minderten dennoch nicht im geringsten meinen Drang zu fliehen. Ich stellte bald fest, daß das Stockwerk mit den Zellen sich genau über einer Tiefgarage befand, in der der Direktor sein Auto parkte. Ich dachte, daß es möglich sein müßte, ein Loch zu graben und dort hinab zu gelangen. Mit viel Mühe und einigen Behelfswerkzeugen schaffte ich es, das Keramikpodest des Stehklos anzuheben. Ich arbeitete eine Woche lang daran, das Loch zu vergrößern. Leider ist mir unvorsichtigerweise eines Tages die Schüssel umgefallen, wodurch sie Risse bekam. Die für die Kontrollen zuständige Wache bemerkte es, und die Grabung wurde entdeckt. Ich war völlig frustriert.

Sie verlegten mich sofort in den Knast von Casale Monferrato. Dort verbrachte ich weitere fünf Monate, bis mich ein von Margherita angeführtes bewaffnetes Kommando befreite.



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