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14 Mailand - Walter Alasia

kämpferisch II, 27.36k



Hast du nach deiner Befreiung sofort wieder an den klandestinen Tätigkeiten teilgenommen?

Ich blieb etwa einen Monat lang in dem Versteck in Alassio. Wir überlegten, was zu tun war, und beschlossen eine Neuordnung der Kolonnen: Margherita sollte in Turin bleiben, Moretti nach Rom gehen und ich nach Mailand.

Wir waren auch stark daran interessiert, in Rom eine Kolonne aufzubauen. Franceschini hatte dort nach der Sossi-Entführung schon gearbeitet und Kontakte zu einem Kreis von Genossen aufgebaut. Wir hatten hingegen dort noch keine unmittelbar organisatorische Präsenz.



Franceschini hat erzählt, er sei in Rom gewesen, um dort sogar die Entführung von Andreotti zu organisieren; dachtet ihr bereits daran, in der Hauptstadt massiv agieren zu können?

Franceschini war nicht in Rom gewesen, um die Entführung von Andreotti vorzubereiten. So etwas haben die BR niemals geplant. Er sollte die Lage sondieren und herausfinden, in welchen proletarischen Bezirken, in Pomezia oder woanders, wir uns am ehesten verankern könnten.

Ich weiß, daß ihm Andreotti einige Male über den Weg gelaufen ist. Er hat mir diese Anekdote erzählt, die sich während seines Aufenthalts in Rom zutrug. Andreotti hat fast jeden Tag zu Fuß den gleichen Weg zurückgelegt. Franceschini könnte daher gedacht haben, daß diese Gewohnheit für eine Entführung günstig wäre. Es war aber allein seine Idee, die dann offensichtlich riesig aufgeblasen wurde.



Du warst also wieder in Mailand. Welche Veränderungen hast du im Vergleich zu den zweieinhalb Jahren zuvor wahrgenommen? Waren die BR weiterhin in den großen Fabriken aktiv?

Tatsächlich hatte sich vieles verändert: das interne Leben der Organisation, die Außenkontakte und die politische Arbeit. Die allgemeine Stimmung, der Widerstand der Arbeiter und die Revolten der Jugendlichen hatten sich verändert. Die außerparlamentarischen Gruppen liefen langsam auseinander, und starke Meinungsverschiedenheiten bestimmten das neue Bild.

In Mailand angekommen, mußte ich praktisch eine neue Kolonne aufbauen. Ich tat dies zusammen mit Fabrizio Pelli und Attilio Casaletti, zwei Arbeitern aus der Reggio Emilia, Giorgio Semeria, der gerade ein Jahr Knast hinter sich hatte, Pierluigi Zuffada von Sit-Siemens, Vincenzo Guagliardo14.1 von Magneti Marelli, Nadia Mantovani14.2, die von Potere Operaio in Mestre kam, und Angelo Basone, einem ehemaligen Fiat-Arbeiter. Die Polizei machte mittlerweile gnadenlos Jagd auf uns, aber auch unser Leben in der Illegalität war strenger und besser organisiert. Wir verfügten über eine sehr gute logistische Infrastruktur, die jedoch auch sehr hohe Kosten verursachte. Wir benutzten gefälschte Papiere und Autos mit falschen Kennzeichen. Zur eigenen Sicherheit verfügte jeder von uns neben der Wohnung, in der er lebte, über mindestens eine weitere Wohnung, deren Adresse niemandem bekannt sein sollte. Ich hatte in dieser Zeit drei Wohnungen und fünf oder sechs Ausweispapiere mit unterschiedlichen Namen.

Als ich mit den Arbeitern von Pirelli, Alfa und Siemens wieder Kontakt aufnahm, erfuhr ich eine Neuigkeit. Die Genossen, die den Fabrikbrigaden nahe standen, drückten ihre Unzufriedenheit mit einer Situation aus, die sie mittlerweile als versteinert und perpektivlos ansahen. Etwa fünfzig von ihnen teilten mir mit, daß sie bereit seien, aktiv in die Roten Brigaden einzutreten. Sie hatten es satt, weiterhin innerhalb der Fabrik zu agieren, in der sich nichts mehr bewegte. Nur noch bei Magneti Marelli existierte ein interner Kampfherd, der noch in der Lage war, Genossen mitzuziehen.

Es waren Anzeichen für einen besorgniserregenden Niedergang der operaistischen Linie, die die erste historische Phase der Roten Brigaden charakterisiert hatte. Die Arbeiter, die uns nahe standen, wollten mittlerweile raus aus den Fabriken und sich am Angriff auf das »Herz des Staates« beteiligen. Aber es hatte sich nicht nur die Situation in den Fabriken geändert. Die außerparlamentarischen Gruppen waren in einer Krise, und innerhalb der Bewegung wurde eine neue Generation von Jugendlichen sichtbar, zu der ich jedoch, dank einer sehr intensiven Beziehung zu einem Jugendlichen, einen gewissen Zugang hatte.



Wer war dieser Jugendliche?

Walter Alasia. Als ich ihn im Mailänder Hinterland kennenlernte, war er zwanzig Jahre alt. Er war der Sohn von Arbeitern, die noch stolz auf ihre Arbeit waren, und er gehörte zu dem neuen sozialen Phänomen »sehr wütender Jugendlicher«, die in den desolaten Zentren des Industriellen-Gürtels, San Donato, Desio, San Giuliano und Sesto San Giovanni herangewachsen waren. Entpolitisierte Jugendliche, die von Diebstählen und Schwarzarbeit lebten, Individualisten, aber mit einem starken Sinn für soziale Gerechtigkeit.

Walter nahm mich mit und zeigte mir die Jugendbanden, die aus den Vorstädten kamen und begannen, in Mailand einzufallen. Zunächst interessierten sie mich als soziales Phänomen, Ausdruck akuter Unzufriedenheit, die sich nicht mehr auf politischem, sondern auf existentiellem Terrain zu manifestieren schien. Dann wurden die Kontakte enger. Sie erzählten von ihren Problemen, die mit der Kontrolle der Stadtviertel zusammenhingen. Die Faschisten sind mittlerweile bedeutungslos, meinten sie, aber es gibt ständige Patrouillen der Carabinieri: »Sie sind es, die uns den Raum nehmen; laßt uns ihre Transporter eine Zeitlang niederbrennen, dann werden sie aufhören, überall herumzufahren ...«

Am Anfang war ich perplex. Welchen Sinn konnte es haben, die Fahrzeuge der Carabinieri zu zerstören? Dann begleitete ich die Jugendlichen auf ihren Runden durch die Viertel und sah Dutzende von Patrouillen mit geschulterten Gewehren, die das Gebiet militärisch kontrollierten. Ich stellte fest, daß ihre Präsenz in jenen Stadtvierteln offensichtlich symbolisch für viele Formen der Repression stehen konnte. Ich war überzeugt, daß es für die BR extrem wichtig sein konnte, eine Verbindung zu dieser neuen rebellierenden Szene zu knüpfen. Wir mußten versuchen, die Banden zu politisieren. So brachten wir ihnen bei, Brandkanister zu benutzen, und brannten zusammen etwa fünfzehn Transporter der Carabinieri nieder, die in den Kasernen standen. Für diese Aktionen übernahmen teilweise die BR in Flugblättern die Verantwortung.

Meine Entscheidung stieß bei vielen Genossen anderer Kolonnen und auch bei Franceschini im Knast auf Ablehnung. Sie vertraten die Ansicht, daß man, anstatt die kleinen Anschläge zu vermehren, zu qualitativ wichtigeren Aktionen mit klar definierter strategischer Bedeutung übergehen sollte.

Es kündigten sich die ersten Differenzen an zwischen einer geschlossenen und militärischen Ausrichtung der Roten Brigaden und meiner Konzeption, die stärker sozial und politisch orientiert war.



Es gab also schon vor deiner zweiten Verhaftung Meinungsunterschiede in der strategischen Leitung über die künftige politisch-organisatorische Ausrichtung der Roten Brigaden?

Das würde ich tatsächlich behaupten. Die internen Auseinandersetzungen nahmen zu, und ich befand mich im offenen Widerspruch zu einem Teil der Organisation. Es war ein Disput, der das Selbstverständnis der Gruppe betraf. Wollt ihr am Klassenkampf teilnehmen? Die BR werden euch schon unter die Arme greifen, sagte ich. Wollt ihr an unseren Aktionen teilnehmen? Dann kommt in die Organisation und werdet klandestine Militante, sagten die anderen.

Solange Margherita am Leben war und ich in Freiheit, konnte sich jedenfalls meine Linie durchsetzen.



Welche Rolle hatte Alasia in den BR?

Er war unheimlich willensstark und entschlossen, voller Tatendrang und ein Organisationstalent. Er konnte die anderen mitreißen und hätte die Leitfigur der neuen Generation von Brigadisten werden können, auf die ich hoffte. Aber er wurde ein Opfer des Unverständnisses der alten BR und starb daran.

Nach meiner Verhaftung übernahmen Azzolini, Bonisoli und andere Genossen mit einer Orientierung, die sich stark von der meinen unterschied, in der Mailänder Kolonne die Führung. Fast alle, die mit mir gearbeitet hatten, zogen sich nach und nach von der Organisation zurück, da sie mit dem neuen Kurs nichts anfangen konnten. Alasia durchlebte eine tiefe Krise. Er war völlig isoliert und desillusioniert. Eines Tages wollte er sich seiner über alles geliebten Mutter anvertrauen, aber die Polizei überwachte die Wohnung in Sesto San Giovanni. Walter saß in der Falle. Er hatte mir mehrmals gesagt, daß er um keinen Preis im Knast landen wollte. Es gab ein Feuergefecht, bei dem er zwei Polizisten tötete. Er wurde verletzt und stürzte in einem kleinen Hof zu Boden. Dann, wenige Minuten nach der Schießerei, fanden sie ihn und haben ihn auf der Stelle exekutiert.

Nach Margherita war er der zweite Genosse aus den Roten Brigaden, der kaltblütig von den Ordnungskräften getötet wurde. Es sollte nicht der letzte sein.



Darf man annehmen, daß die Geschichte der Roten Brigaden anders verlaufen wäre, wenn du nicht verhaftet worden wärst?

Es gibt keinen Zweifel daran, daß die Dinge zumindest in Mailand eine andere Richtung genommen hätten. Damit will ich aber nicht behaupten, daß ich brillantere politische Ergebnisse erreicht hätte. Die Ausrichtung der BR im Zeitraum von '76 bis ‘77 zeigte schon Risse. Die aus dem Umschwung des ökonomischen Zyklus resultierenden veränderten sozialen Kräfte stellten unsere Grundannahmen, die mit den Bedürfnissen dieser neuen »'77er-Bewegung« nicht mehr übereinstimmten, auf eine harte Probe.

Ich weiß nicht, ob ich für dieses Dilemma eine Lösung gefunden hätte. Sicher ist, daß es den Genossen, die in Freiheit geblieben waren, nicht gelang.



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