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15 Der Tod von Margherita Cagol

Pass, 26.37k



Margherita Cagol ist am 5. Juni 1975 auf dem Spiotta-Hof, wo sie den Industriellen Vallarino Gancia bewachte, ums Leben gekommen. Bei der Schießerei wurde auch der Carabinieri Giovanni D'Alfonso getötet. Warum hattet ihr Gancia entführt?

Es war unsere erste Entführung zur Geldbeschaffung. Bis dahin finanzierten wir uns durch Banküberfälle. Wir waren Experten auf diesem Gebiet geworden und führten sie ohne größere Zwischenfälle und mit zumeist positivem Resultat durch, da wir mit zahlenmäßig starken Einheiten operierten.

Wie ich bereits erwähnte, wurde die Organisation mit der Zeit immer größer und das Leben in der Klandestinität zunehmend schwieriger und kostspieliger. Das Geld aus den Überfällen reichte nicht mehr, und es schien uns zu riskant, die Banküberfälle, die oft nur kleine Summen einbrachten, in exzessiver Weise auszudehnen. Im April '75 trafen Margherita, Moretti und ich uns in einem Haus in der Gegend von Piacenza, um das weitere Vorgehen zu diskutieren. Wir dachten, es sei an der Zeit, dem Beispiel der lateinamerikanischen Guerilleros zu folgen, die schon seit geraumer Zeit Industrielle entführten und sich so finanzierten.



Warum hattet ihr Vallarino Gancia ausgesucht?

Die Turiner Kolonne hatte mehrere Personen vorgeschlagen, die wir überprüften. Wir wählten Gancia, da wir so in einem Gebiet agieren konnten, das wir gut kannten. Die Operation erschien einfach. Er war sehr reich, und wir wußten, daß er faschistische Organisationen finanziert hatte. Wir wollten ein Lösegeld in Höhe von etwa einer Milliarde Lire verlangen, aber wir setzten vor allem auf eine schnelle, einfache und risikoarme Entführung.



Hast du an der Aktion teilgenommen?

Ich gehörte nicht zu der operativen Einheit, da ich an der Spitze der Fahndungslisten stand. Die Polizei hatte Fotos von mir, so daß ich mich kaum noch in der Öffentlichkeit bewegen konnte.

Wir hatten die Gewohnheiten von Gancia studiert und beschlossen, ihn uns auf einer Landstraße zu schnappen, die er immer entlangfuhr, um zur »Camillina«, seiner Schloß-Villa in Canelli, bei Asti, zu gelangen. Die Aktion begann am 4. Juni um 15.30 Uhr und verlief ohne Schwierigkeiten. Der Industrielle wurde eingesackt, in einen Transporter geladen und zum Spiotta-Hof, auf den Hügeln von Acqui Terme gebracht.

Der Spiotta-Hof war einer unserer sehr ruhigen und günstig gelegenen klandestinen Orte, ungefähr eine Autostunde von Mailand, Turin und Genua entfernt. Es war ein alter Hof aus Stein inmitten eines Weinbergs, umgeben von Obstbäumen, auf einem Hügel, wenige Kilometer von Arzello entfernt. Margherita hatte ihn entdeckt und für wenige Millionen Lire gekauft. Wir hatten zusammen mit Bonavita, Ferrari und anderen Genossen ein Bad eingebaut, Wasser verlegt und den großen Kamin wiederhergerichtet. Es war ein einladender Ort geworden, wo wir uns in ruhigen Phasen und zu Versammlungen der Leitungsgruppe der Turiner Kolonne hinbegaben.

Wir hatten uns mit einer Bauernfamilie von einem Hof in der Nähe angefreundet. Wir kümmerten uns mit ihnen zusammen um den Weinberg und erledigten die Arbeit auf den Feldern. Die Tochter, fünfzehn-sechzehn Jahre alt, kam uns häufig besuchen. Sie brachte uns frische Eier und frischgemolkene Milch. Als Franceschini und ich verhaftet wurden und unsere Fotos in allen Zeitungen erschienen sind, hatte niemand von ihnen etwas gesagt, und so dachten wir, daß wir Vertrauen haben konnten und daß der Spiotta-Hof trotzdem ein sicherer Ort bleiben würde. Darüber hinaus konnte der einzige Zufahrtsweg einige Kilometer weit vom Haus aus überschaut werden.



Wieviele Personen blieben auf dem Gehöft, um Gancia zu bewachen?

Margherita und ein anderer Genosse, den ich nicht nennen kann, da wegen dieser Operation nicht gegen ihn ermittelt wurde. Die Entführung sollte höchstens vier oder fünf Tage dauern. Gancia hatte kurz nach seiner Gefangennahme eine Person benannt, an die wir uns wenden sollten, um das Lösegeld zu bekommen. Soweit kam es allerdings nicht, da am nächsten Morgen die Aktion der Carabinieri erfolgte.



Wie haben es die Carabinieri geschafft, bis zu dem Hof zu kommen, ohne gesehen zu werden?

Es war Unachtsamkeit. Der Genosse, der sich dort mit Margherita befand, ist während seiner Wache eingeschlafen.

Am fünften Morgen telefonierte ich mit Margherita. Sie rief mich aus Acqui Terme in einer Bar in Mailand an, ganz wie wir es vereinbart hatten. »Hier ist alles ruhig«, sagte sie, »die Dinge laufen wie abgemacht, mach dir keine Sorgen.« Aber wenige Stunden später kam es zum Desaster. Am Telefon, unter der Treppe jener Bar, habe ich zum letzten Mal die Stimme meiner Frau gehört.



Hast du später erfahren, was an jenem Junimorgen auf eurem Hof geschehen ist?

Ja, ich habe sorgfältig die Fakten rekonstruiert. Ich habe mit dem Brigadisten gesprochen, der entkommen konnte. Danach ergab sich folgender Ablauf:

Margherita kehrte, nachdem sie mich angerufen hatte, zum Spiotta-Hof zurück. Da sie die ganze Nacht Wache geschoben hatte, sagte sie dem Genossen: »Ich lege mich etwas hin, behalte du vom Fenster aus mit dem Fernglas alles im Auge. Wenn du etwas Verdächtiges siehst, benachrichtige mich, damit wir verschwinden können.«

Wir hatten sehr umsichtig geplant. Alles darauf ausgelegt, daß eine bewaffnete Auseinandersetzung um jeden Preis vermieden werden sollte. Daher hatten wir auch gedacht, daß zwei Leute zur Überwachung des Entführten ausreichen würden. Wenn sich eine Streife oder jemand Auffälliges dem Hof näherte, sollten Margherita und der Genosse Gancia fesseln und knebeln und ihn dort zurücklassen, dann zur Rückseite unseres Grundstücks rennen, zu Fuß zwei Minuten den Abhang herunterlaufen und mit einem Wagen fliehen, den wir genau zu diesem Zweck an einer kleinen ungepflasterten Straße zurückgelassen hatten. Die Tatsache, daß der Entführte befreit werden könnte, wurde einberechnet und akzeptiert; insbesondere weil wir beschlossen hatten, jedes Risiko auf unserer Seite zu vermeiden. Margherita ging also schlafen; der Genosse postierte sich mit dem Fernglas am Fenster, wurde aber schon kurze Zeit später von einem Müdigkeitsanfall überrascht. Er bemerkte nicht, daß ein blauer Fiat 127 der Carabinieri die Dorfstraße hochfuhr, ein paarmal stehenblieb, um unterwegs ein paar Höfe zu überprüfen, und dann in den Feldweg einbog, der zu uns führte. Dort hätte sich ein querliegender Baumstamm befinden sollen, um im Falle einer Flucht für einen zusätzlichen Zeitgewinn zu sorgen, aber auch diese Vorsichtsmaßnahme war außer acht gelassen worden.

Die Carabinieri kamen auf dem Vorplatz an. Die Fenster des Hofes auf dieser Seite waren verschlossen, aber sie sahen zwei Autos, die unter dem Scheunenvordach geparkt waren. Sie bemerkten, daß jemand auf dem Gelände war. Vorsichtig fuhren sie ihr Auto im Rückwärtsgang seitlich neben das Gebäude und blockierten damit die Zufahrtsstraße. Sie riefen und klopften an die Tür. Margherita wachte schlagartig auf. Durch das Fenster sah sie die Carabinieri und glaubte, es handele sich um eine Streife, die zu Fuß auf dem Land unterwegs war. »Hast du nichts bemerkt, da sind die Carabinieri, was sollen wir tun?« fragte sie den blaß gewordenen Genossen. Sie zögerten einen Moment und beschlossen dann, den Para-Militärs entgegenzutreten, zu den Autos zu gelangen und zu fliehen.

Die Carabinieri hatten allerdings Verdacht geschöpft, da aus dem Haus keine Antwort kam, und ließen sich nicht unvorbereitet überraschen. Als Margherita und der Genosse mit Maschinenpistolen im Anschlag und vorbereiteten Scrm-Handgranaten aus der Tür stürzten, wurde sofort geschossen. Die Schüsse folgten aufeinander wie Salven, auch eine Handgranate wurde geworfen. Zwei Carabinieri bleiben schwerverletzt liegen. Einer von beiden, Gefreiter Giovanni D'Alfonso, starb wenige Tage später; der andere, Umberto Rocca, verlor ein Auge und ein Bein. Der dritte floh über die Felder.

Margherita hatte eine leichte Wunde am Arm, der Genosse war unverletzt. Es gelang ihnen, in die Autos zu steigen. Sie brauste als erste mit Vollgas davon. Als sie um die Hausecke bog, stand dort der 127er der Carabinieri. Sie wich aus, um nicht draufzufahren, und landete im Graben. Der Genosse direkt hinter ihr blieb ebenfalls stecken. Sie wurden sofort von dem vierten Carabinieri, der an dem Ort als Wache postiert worden war, unter Beschuß genommen. Margherita stieg unbewaffnet aus dem Wagen. Der Genosse hingegen hatte zwei Scrm in der Tasche. Es wurde ihnen befohlen, sich mit erhobenen Händen auf die Wiese zu setzen. Sie waren gefangen. Der Genosse informierte Margherita, daß er die Bomben habe, und schlug vor, einen Fluchtversuch zu wagen, sobald der Carabinieri, der sie im Auge behielt, einen Augenblick abgelenkt war. Sie war einverstanden. Irgendwann entfernte sich der Carabinieri einige Schritte, um zu dem Wagen zu gehen und über Funk Verstärkung anzufordern. Der Genosse richtete sich plötzlich auf, warf, so gut er konnte, eine Granate, die ohne Schaden anzurichten explodierte, und stürzte in Richtung Wald davon. Margherita war nicht schnell genug. Sie kam nicht aus der Schußweite des Carabinieri, der es vorzog, sie weiterhin unter Kontrolle zu halten, als das Feuer auf den Flüchtenden zu eröffnen.

Als der Genosse in Deckung war, blieb er stehen, um zu sehen, ob noch eine Möglichkeit bestand, Margherita zu retten. Einige Minuten später hörte er einen Schuß. Vielleicht auch eine Salve aus einer Maschinenpistole. Er schlich zur Wiese, sah, daß nichts mehr zu machen war, und flüchtete.

Die Ergebnisse der Autopsie waren eindeutig. Margherita saß mit erhobenen Armen da. Ein einziger Schuß ist auf sie abgegeben worden, in die linke Seite, genau unter die Achsel. Der klassische Schuß, um zu töten.



Wie hat dich die Nachricht des Todes deiner Frau erreicht?

Ich hatte um zwei Uhr nachmittags eine Verabredung mit Attilio Casaletti auf einer kleinen Piazza in der Nähe des Viale Padova. »Hast du Radio gehört?« fragte er mich gleich mit bedrückter Miene. Ich verneinte. Er sagte, daß die Radionachrichten von einem Zusammenstoß beim Spiotta-Hof mit zum Teil tödlichem Ausgang berichteten. Es hieß, daß auch eine sehr junge Frau getötet worden sei. Ich verstand nicht, was geschehen sein könnte. Ich schloß ein Feuergefecht mit den Ordnungskräften aus, da wir alles so vorbereitet hatten, um dies zu vermeiden. Ich dachte an einen Unfall. Eine sehr junge Frau? Es konnte ja sein, daß die Tochter der Bauern des nahegelegenen Hofes hochgelaufen war, um nachzufragen, ob sie Eier wollten ... Und wer weiß, welche Komplikationen dazwischengekommen waren.

Ich bin zusammen mit Casaletti sofort nach Hause gegangen, um die Radionachrichten zu hören. Die Meldungen waren weiterhin konfus. Sie berichteten von einem schwerverletzten Carabinieri und einer vermutlich toten Frau. Wahrscheinlich war ich es, der nicht verstehen wollte. Ich weigerte mich, zur Kenntnis zu nehmen, daß Margherita getötet worden war. Jedenfalls mußte man etwas tun. Ich rief einige Genossen meiner Kolonne für den späten Nachmittag zusammen, und wir beschlossen, Unterstützungsgruppen in Richtung Acqui Terme loszuschicken, um uns zu vergewissern, was geschehen war, und dem eventuell Entkommenen zu helfen. Alle sprachen ja tatsächlich von einer toten Frau, während der männliche Brigadist nie genannt wurde. Zumindest er könnte entflohen sein, hofften wir.

Am nächsten Tag sammelten wir den Genossen, einige Kilometer von Acqui entfernt, an einem der Treffpunkte, die für Notfälle vorgesehen waren, ein.



Hast du ihn gleich befragt, was passiert war?

Nein, im ersten Moment habe ich ihn nicht sehen wollen. Ich habe ihn sofort um einen sehr detaillierten schriftlichen Bericht gebeten, aber erst zwei Monate später habe ich ihn in den Bergen, in Foppolo, getroffen. Er erzählte mir die ganze Geschichte noch mal unter vier Augen und ergänzte einige Einzelheiten. Seine Rekonstruktion schien mir überzeugend, wenn sie auch seine fatale Verantwortungslosigkeit hinsichtlich der Gefahren offenbarte.



War der Tod von Margherita mehr als eine persönliche Tragödie, etwas, das auch deine Haltung zur Militanz und dem bewaffneten Kampf veränderte?

Dieses Ereignis hat vieles verändert, nicht nur für mich persönlich, sondern auch für die Roten Brigaden. Es war unsere erste unmittelbare Konfrontation mit dem Tod und all seinen Konsequenzen.

Der Tod von Margherita, meiner Ehefrau, eine unserer Genossinnen und Kolonnenchefin, sowie der Tod eines Carabinieri, eines Familienvaters, das war der dramatische Epilog zu einer Operation, die wir auf diese Weise geplant hatten, um ein Feuergefecht zu vermeiden. Unsere schwerwiegenden Fehler drängten uns zu sehr harter Selbstkritik, aber auch dazu, uns bewußt zu werden, daß diesen Weg weiterzugehen konkret bedeutete, die Last des Todes - und zwar nicht nur als abstrakte Hypothese - sowohl in unserem als auch im feindlichen Lager zu akzeptieren.

Letztendlich mußte ich mich in jener Nacht vom 5. auf den 6. Juni dazu zwingen zuzugeben, daß jene tote »Frau« niemand anderes sein konnte als Margherita. Ich bat darum, im Haus alleingelassen zu werden, und hatte einen nicht enden wollenden Heulanfall. Tränen, die irgendwie befreiend wirkten, durch die ich die Realität einer weder literarischen noch philosophischen Begegnung mit dem Tod besser verstand und auch, wie dicht uns diese Möglichkeit bei unseren Abenteuern verfolgte.

Ich wollte unbedingt zu der Beerdigung nach Trento fahren, aber die Stadt wurde von der Polizei überwacht, und es wäre nicht möglich gewesen, wieder davonzukommen. Eine Freundin half mir, einen Blumenstrauß auf den Sarg gelangen zu lassen.



Hast du ihre Eltern danach wiedergesehen?

Den Vater nicht. Wie gesagt, er ist wenige Tage nach seiner Tochter gestorben. Er war krebskrank, und wahrscheinlich hat die Nachricht dazu beigetragen, sein Lebenslicht auszulöschen. Elsa, die Mutter, hat mich im Knast besucht. Wir schreiben uns immer noch, auch wenn sie mittlerweile sehr alt ist. Sie ist eine Frau, mit der ich mich durch eine tiefe Beziehung verbunden fühle, die von der Liebe genährt wird, die sowohl sie wie auch ich für Margherita empfunden hatten.



Du bist in eine langanhaltende Krise gestürzt. Irgend jemand erzählte, daß du einige Monate lang niedergeschlagen und unfähig zu reagieren warst und daß deine Verhaftung in Mailand sozusagen eine Folge dieser Niedergeschlagenheit gewesen ist. Stimmt das?

Ich würde sagen, daß mein Schmerz und mein persönliches Drama bis heute andauert. Ich habe mit Margherita eine intensive Liebesbeziehung gehabt, die unserer politischen Sache vorausging und darüber hinausgeht. Eine Liebe, die bis heute existiert.

Sie hatte mir geholfen, das Gleichgewicht in meinem Leben zu finden, einen intellektuellen und gefühlsmäßigen Halt. In dem Moment, als sie weg war, fühlte ich, das alles um mich herum zusammenbrach, genauso wie ich als Kind aus Torre Pellice weggebracht und in einem Internat in Centocelle gesperrt wurde.

Es stimmt allerdings nicht, daß ich paralysiert war. Ich hatte weder die intellektuelle Aufmerksamkeit noch die Fähigkeit zu agieren verloren. Ich habe mich nicht aus der organisatorischen und politischen Arbeit zurückgezogen. Auch weil die Roten Brigaden nach dem Desaster auf dem Spiotta-Hof nicht wenige Probleme zu bewältigen hatten.



»... Margherita Cagol, ''Mara'', kommunistische Leiterin und Mitglied des Exekutivkomitees der Roten Brigaden, ist im Kampf gefallen. Ihr Leben und Tod sind ein Vorbild, das kein Freiheits-Kämpfer jemals vergessen wird ... Wir können es uns nicht erlauben, Tränen für unsere Gefallenen zu vergießen, sondern müssen es als eine Lektion über Loyalität, Bestimmtheit, Mut und Heldentum verstehen ... Mögen alle wirklichen Revolutionäre ''Mara'' ehren und in Erinnerung halten, indem sie die politische Lehre reflektieren, die sie mit ihrer Entscheidung, mit ihrem Leben geben konnte. Mögen tausend Arme sich strecken, um ihr Gewehr aufzuheben! Wir sagen ihr als letzten Gruß: ''Mara, eine Blume ist erblüht, und die Roten Brigaden werden diese Blume der Freiheit bis zum Sieg weiter pflegen.''«

Das sind einige Auszüge aus dem berühmten Flugblatt, das die BR einen Tag nach dem Tod deiner Frau verbreitet haben. Ein ungewöhnlicher Text, der menschliche Rührung mit Guerilla-Rhetorik mischt. Hast du ihn persönlich verfaßt?

Ja, ich habe ihn in meiner Krise an einem Stück geschrieben. Wir diskutierten mit einigen Genossen der Mailänder Kolonne, daß es notwendig war, nicht nur Mara zu gedenken, sondern auch einige Tatsachen zu klären, über die noch viele Gerüchte kursierten. Es war offensichtlich, daß ich das Papier schreiben mußte.

Die Sprache, die mir automatisch in den Sinn kam, drückt die paradoxe Beziehung zu dem Geschehenen aus. Einerseits die Betroffenheit und persönliche Anspannung und andererseits die Notwendigkeit, die Angelegenheit in den politischen Rahmen des bewaffneten Kampfes zu stellen. Es stimmt, daß es sich wahrscheinlich um das einzige Papier der BR handelt, in dem sich die Sprache persönlicher Emotionen mit der Kälte des politisch-ideologischen Vokabulars mischt. Ich halte es jedoch nicht für ungewöhnlich. Ich habe mein Leben im Untergrund täglich ohne jede Unterscheidung zwischen dem »Politischen« und der privaten Gefühlswelt, den Beziehungen zu den Leuten, die mir nahe und lieb waren, gelebt.

Dieses Flugblatt kann vielleicht als ein zynisches und groteskes Papier verstanden werden. Oder aber als ein Text, der die Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz, in denen Politik und Kampf auch zu Leben oder Tod führen können, voll ausdrückt. Ich habe es als ehrlichen Ausdruck meiner damaligen Zerrissenheit verfaßt.



Das Flugblatt endet mit dem Wort »Sieg«. Glaubtest du 1975 wirklich, daß der bewaffnete Kampf euch auf irgendeine Art einen Sieg bringen würde?

Ich will ganz ehrlich sein: Ich habe nie geglaubt, daß ein siegreicher Ausgang des bewaffneten Kampfes die Machteroberung im materiellen Sinne des Wortes sein würde. Diese Perspektive gehörte nicht zu meiner intellektuellen Vorstellungswelt und zu meinen Überzeugungen.

Andererseits kämpft man nicht, wie wir es getan haben, wenn man glaubt, daß man zwangsläufig besiegt wird. Heute würde ich sagen, daß für mich ein Mittelweg existierte. Wenn ich die Dinge auf eine elementare Formel verkürze, würde ich sagen, daß mir die Gesellschaft, in der wir lebten, überhaupt nicht paßte. Ich wollte sie um keinen Preis akzeptieren, ich kämpfte, um sie zu verändern. Und das Wort »Sieg« drückte die Hoffnung aus, den Stand der Dinge zumindest zum Teil verändern zu können.



Wie weit glaubtet ihr damals, den »Stand der Dinge« verändern zu können?

Zumindest glaubten wir, das politische Regime der Nachkriegszeit in Italien erschüttern zu können. Das war mein Hauptziel, und damals hielt ich es für möglich. Ich war der Ansicht, daß in unserem Land keine wirkliche Demokratie herrschte und daß, egal wie man dies tat, die Machtallianzen aufzusprengen zu einem positiven Ergebnis geführt hätte.



Im wesentlichen glaubtest du also an eine Art bewaffneten Reformismus. Ist das nicht ein sowohl logischer als auch ideologischer Widerspruch?

Der Ausgangspunkt der Analyse, die zur Gründung der Roten Brigaden führte, basierte auf dem Glauben, daß es unmöglich sei, einen Prozeß substantieller Reformen im Italien der 60er Jahre in Gang zu bringen. Sozialisten, Christdemokraten und der Staatsapparat waren sich darin einig, einen realen Transformationsprozeß, der von einem breiten Teil der Gesellschaft ersehnt wurde, zu blockieren.

Meine damalige Vorstellung war, daß ein revolutionärer Schub notwendig wäre, um die von den starken Bewegungen jener Jahre entfesselte soziale Energie zu bündeln, so daß die institutionelle Blockade gesprengt würde. Heute glaube ich, daß die größte politische Fehleinschätzung darin bestand, die Democrazia Cristiana überzubewerten. Das Regime, das die Reformen blockierte, bestand aus einem Block, einer Allianz, die das gesamte Parteiensystem, auch Oppositionsparteien, miteinbezog. Es war eine Scheinopposition! In Wirklichkeit repräsentierte nicht nur die DC das »Herz des Staates«, das wir zu treffen versuchten, sondern letzteres bestand aus dem gesamten politisch-institutionellen Komplex, der die Kontinuität des Regimes verlangte und schützte.

Jedenfalls hätte man, um wirkliche Reformen zu erzielen, den ganzen Block aus den Angeln heben müssen, also »die Revolution machen« müssen. So scheint die Bezeichnung des »bewaffneten Reformismus« nicht völlig widersinnig: Um Reformen zu erreichen, mußte man sich bewaffnen.



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