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Voherige Seite 15 Der Tod von Margherita Cagol 17 Die BR und die Geheimdienste Nächste Seite

16 Die Wohnung in der Via Maderno - die zweite Festnahme in Mailand

Verhaftung, 27.56k



Vom Tod deiner Ehefrau bis zu deiner Verhaftung in Mailand vergingen drei Monate. Du hast gesagt, daß du dich trotz des Desasters auf dem Spiotta-Hof nicht zurückgezogen hast. Mit welchen Schwierigkeiten hattet ihr in dieser Zeit zu tun?

Es gab eine Krise. Wir waren verkrampft und nervös. Kurz nach dem Tod von Margherita trat die strategische Leitung zusammen. Die Hauptthemen waren: Selbstkritik wegen des leichtfertigen Verhaltens, das wir an den Tag gelegt hatten; die Lücke, die Margherita in der Turiner Kolonne hinterlassen hatte, und die dringende Notwendigkeit, Geld aufzutreiben.

Wir diskutierten, daß selbst genau geplante Aktionen ein gewisses Risiko menschlichen Versagens in sich bergen. Aber auch wenn man etwas Unvorhergesehenes nicht völlig ausschließen konnte, so mußte man jedenfalls alles tun, um das Risiko des Zufalls zu vermeiden. Wir legten neue und rigidere Sicherheitsregeln fest und verstärkten unsere Vorsichtsmaßnahmen. Zuffada und Casaletti wurden zur Verstärkung der Turiner Kolonne zugeteilt. Wir diskutierten lange, wie wir uns weiterhin finanzieren sollten. Ich erklärte, daß es mir, nach dem, was passiert war, schwer und riskant erschien, eine weitere Personenentführung durchzuführen. Wir waren uns mehr oder weniger alle einig, zu unserer alten Methode zurückzukehren.



Das heißt, es wieder mit Banküberfällen zu probieren?

Es war das sicherste System, um Geld zu besorgen. Im Sommer 1975 führten wir eine breite Kampagne von Enteignungen in ganz Italien durch, die uns das Sümmchen einbrachte, das die Ganci-Entführung hätte abwerfen sollen. Kurios daran war, daß wir zur Arbeitserleichterung die gleichen Banken überfielen, die wir schon in den Jahren davor ausgeräumt hatten. Und das Prinzip funktionierte sehr gut. In einer Bankfiliale in der Toskana erkannte mich der Kassierer sogar wieder: »Wie denn, schon wieder hier! Ich weiß, was du mir jetzt wieder sagen wirst: daß ihr keine unnötige Gewalt anwendet, daß die Bank versichert ist ... Also, hier hast du das Geld, kein Problem. Aber du bist nicht besonders schlau. Wenn du gestern gekommen wärst, hättest du das Doppelte eingesackt.«

Die Banküberfälle liefen glatt und waren ab und zu sogar amüsant, andere Aktionen gingen dafür leider weiterhin schief. Es kam z. B. zu einer Serie von Unglücksfällen und Verhaftungen.



Durch was wurden sie ausgelöst?

Vor allem durch Nachlässigkeit und Nervosität. Zuffada und Casaletti beschlossen, vor der Abreise nach Turin in einer Wohnung in der Nähe der Autobahnauffahrt zu übernachten. Es sollte ein sicheres Versteck sein. Aber die Genossen, die verantwortlich für diese Wohnung waren, übersahen, daß sie mit einer anderen Wohnung in Verbindung stand, die der Polizei schon seit geraumer Zeit bekannt war. So überwachten die Carabinieri auch diese Wohnung. Als die beiden Genossen eintrafen, wurde die Wohnung gestürmt, und die beiden wurden verhaftet.

Unsere klandestinen Kräfte waren danach extrem nervös. So sehr, daß es in Mailand an einem einzigen Tag zu drei Autounfällen von Militanten meiner Kolonne kam. Auch ich wurde von den Folgen der Nachlässigkeit nicht ausgespart. Das Haus, in dem ich nach dem Tod von Margherita vorläufig bleiben sollte, war mir als absolut sicher garantiert worden. Doch am ersten Abend, als ich aus dem Fenster die Gegend überprüfte, fielen mir zwei suspekte Gestalten auf, die auf der Straße auf und ab gingen. Ich verduftete sofort. Die Polizei war wenige Minuten später zur Stelle und fand nur noch die leere Wohnung vor. Es war für mich gerade noch einmal gut gegangen, aber nur um Haaresbreite.



Am 18. Februar 1976 kamen die Carabinieri dann aber rechtzeitig und nahmen dich in einer Wohnung in der Via Maderno fest. Wie kam es zu deiner - nun endgültigen - Gefangennahme?

Dem waren einige etwas komplexere Ereignisse vorausgegangen.

Neben der organisatorisch-logistischen Krise der Mailänder BR kam es zu internen Spannungen, zur »einvernehmlichen Trennung« der Gruppe um Fabrizio Pelli und Corrado Alunni16.1. Dies waren zwei Genossen, die mit unserer Organisation großgeworden sind - der erste war aus der Reggio Emilia zu uns gekommen, der zweite aus den kämpferischen Reihen bei Sit-Siemens. Nachdem wir in immer größere Schwierigkeiten gerieten, optierten sie für eine weniger auf die Präsenz der Organisation zielende Strategie und für mehr Offenheit gegenüber den Instanzen der autonomen Arbeiter. Ich führte eine intensive Diskussion mit ihnen, und mir schien, daß sie die Zeichen aus den Fabriken und den Stadtteilen überbewerteten. Ich sagte ihnen, daß eine schnelle Trennung wohl das beste wäre. Kurze Zeit später riefen sie zusammen mit anderen Genossen die Fomazioni comuniste combattenti16.2 ins Leben.

Die internen Auseinandersetzungen und das Erscheinen von neuen Formen sozialer Unzufriedenheit und Rebellion drängten uns zu einer ernsthaften Reflexion unserer Zukunft. Inwiefern mußte unsere Geschichte als abgeschlossen betrachtet werden. Welche Aspekte konnten beibehalten werden? Wie sollte die neue BR-Generation aussehen? Um dies zu diskutieren, hatte ich über Weihnachten und Neujahr 1975-'76 eine Versammlung der Turiner und Mailänder Kolonnen einberufen.

Wir wollten uns in einem Ski-Ort im San-Pellegrino-Tal bei Bergamo treffen. Ich wartete einige Tage lang oben in den Bergen. Aber Angelo Basone und Vincenzi Guagliardo kamen nicht. Ich machte mir große Sorgen und fuhr nach Mailand zurück, um zu sehen, was passiert war.



Und, was war geschehen?

Soviel ich im nachhinein herausfinden konnte, wurde das Unglück durch eine Nachlässigkeit Basones eingeleitet, der das Auto an einem Ort geparkt hatte, wo ein Stadtteilmarkt stattfinden sollte. Die Verkehrspolizei setzte das Auto um und bemerkte, daß es ein falsches Kennzeichen hatte. Sie benachrichtigten die Carabinieri. Diese beschatteten Basone und stießen auf diese Weise auf Nadia Mantovani und die Wohnung, die sie mit mir bewohnte.



Deine zweite Verhaftung verlief nicht so unblutig wie die erste. Diesmal gab es eine Schießerei, warum?

Es ging nicht darum, unnötig Blut zu vergießen. Ich hatte das Feuer vor allem eröffnet, um den ganzen Stadtteil wissen zu lassen, daß die Wohnung in der Via Maderno entdeckt worden war, und um zu vermeiden, daß sie sich noch für weitere Genossen in eine Falle verwandelte. Das habe ich erreicht, und da jede weitere Aktion aussichtslos erschien, habe ich danach meine eigene Haut gerettet und die Waffe fallenlassen.

Mantovani und ich waren gerade aus den Bergen zurückgekehrt. Wir zogen uns Stadtkleidung an, um die Genossen in den Bars zu suchen und uns zu informieren. Wir wollten gerade aus der Wohnung gehen, als plötzlich ein schwerer Schlag gegen die Tür zu vernehmen war. Jemand versuchte sie einzuschlagen. Sie war jedoch durch ein großes Winkeleisen ziemlich stabil und gab nicht nach.

»Carabinieri, macht auf, ihr könnt nicht entkommen!« rief es von draußen. Wir öffneten nicht und gaben keine Antwort. Ich suchte nach einem Fluchtweg. Es war eine Dachwohnung mit einer großen Terrasse, die wiederum an andere Terrassen grenzte. Man könnte es versuchen, meinte ich. Wir gingen über die Terrasse, und während wir auf das Mäuerchen stiegen, das uns von der benachbarten Terrasse trennte, bemerkte ich zwei bewaffnete Männer, die auf dem gegenüberliegenden Kirchturm postiert waren und uns im Visier hatten. Wir hasteten zurück ins Haus. Es war immer noch besser, eine geschützte Position zu halten und ein bißchen Krach zu veranstalten, als sich wie die Spatzen auf dem Dach erschießen zu lassen.

Es begann eine wilde Knallerei. Die Eingangstür war in kürzester Zeit zersiebt. In der Wohnung regnete es Kugeln wie in einem Wildwest-Film. Ein Querschläger traf mich an der Schulter; die Wunde blutete stark. Durch das Fenster konnte man die vielen Leute auf der Straße sehen. Das beruhigte mich etwas, und ich dachte, daß es besser wäre, sich zu ergeben.

In einer Feuerpause brüllte ein Carabinieri: »Mantovani, komm raus! Ich bin's, Oberst Cucchetti. Ich gebe dir mein Wort, wenn du mit erhobenen Händen rauskommst, passiert dir nichts ...« Mantovani? Ich war verblüfft: Der Nachname sagte mir nichts. Ich rief Nadia, von der ich nur ihren Brigadistennamen kannte, und frage sie: »Heißt du Mantovani?« Sie nickte. Also, dachte ich, die wissen gar nicht, daß ich auch hier drin bin.

Daß ich mit meiner Vermutung recht hatte, wurde mir kurz darauf bestätigt. »Hört auf zu schießen, ich ergebe mich, ich komme raus ...«, brüllte ich so laut wie möglich. Mit Mühe öffnete ich die Tür, die aussah wie ein Teesieb. Sie stürzten sich zu zehnt auf mich, und nachdem sie mir die unvermeidliche Dosis Beleidigungen und Schläge verabreicht hatten, schaute mich einer der Carabinieri aufmerksam an und rief seinen erstaunten Kollegen zu: »Aber, das ist ja Curcio!«

Als sie mich unsanft in das Auto gestoßen hatten, strahlten ihre Gesichter wie an Weihnachten.



Und Nadia Mantovani?

Sie wurde in ein anderes Auto gesteckt. Ich hatte sie zumindest aus dem Schußwechsel heraushalten können. Sie hatte sich in ein weiter hinten liegendes Zimmer zurückgezogen und nicht einen einzigen Schuß abgegeben. Sie hatte nicht viel mit der BR zu tun. Sie war eine Genossin, die aus dem Kreis von Potere Operaio in Mestre kam. Weil sie außerhalb unserer Organisation stand, hatte ich sie gebeten, mit mir zur Tarnung in einer Wohnung zu leben. Wir versuchten, wie gewöhnliche Pärchen in den Wohnungen zu leben, um so »normal« wie möglich zu erscheinen.



Du warst verletzt und hast geblutet. Brachten dich die Carabinieri ins Krankenhaus?

Nicht sofort. In der Via Maderno war ein großer Menschenauflauf, große Aufregung und allgemeines Durcheinander. Das Blut schoß in Strömen aus meiner Schulter. Ich steckte einen Finger in die Wunde, um die Vene abzuklemmen. Es funktionierte.

Sie stießen mich unsanft in einen Alfetta. Hauptmann Digati und ein paar Carabinieri stiegen dazu. Einer von ihnen, der von der angespannten Stimmung deutlich gezeichnet war, brüllte den Fahrer an: »Los, los, fahr los ... Fahr weg, fahr weg!« Woraufhin sich der Hauptmann plötzlich umdrehte und mir eine saftige Ohrfeige verpaßte: »Halt's Maul. Hier geb' ich die Befehle und nicht du«, zischte er.

»Ich habe doch gar nichts gesagt«, entgegnete ich genervt.

Er bemerkte seinen Irrtum: »Entschuldigen Sie, ich dachte, Sie wollten sich einmischen.«

Als ich in der Kaserne in der Via Moscova ankam, gab es ein Kompetenzgerangel zwischen der Carabinieri-Spezialeinheit von Dalla Chiesa und der Einheit Milano 3 unter Oberst Cucchetti, der die Operation und meine Verhaftung geleitet hatte. Die Männer von Dalla Chiesa schlugen einen drohenden Ton an. Sie wollten mich fortschaffen, um mich zusammenzuschlagen, mich umzubringen oder mich nach ihren Methoden zu verhören - ich wußte es nicht genau. Oberst Cucchetti ließ mich beschützen. Er gruppierte bewaffnete Posten um mich, jagte die anderen aus dem Raum, ließ mich in einen gesicherten Raum bringen und gab Befehl, daß sich mir niemand nähern sollte.

In dem allgemeinen Durcheinander auf den Fluren des Präsidiums muß sich auch ein Journalist vom Giornale nuovo befunden haben. In den darauffolgenden Tagen las ich, daß er ein Interview mit mir gemacht hätte und daß ich sogar eine geheime Botschaft an Montanelli16.3 geschickt hätte, was frei erfunden war.

Auf jeden Fall blieb ich über eine Stunde lang mit dem Finger in dem Loch in der Schulter in einem Kabuff eingesperrt, während draußen die Rivalitäten unter den Einheiten zunahmen. Schließlich brachte mich eine Patrouille mit laut tönenden Martinshörnern in die Erste-Hilfe-Station eines Krankenhauses. Dort kam es zu einem weiteren Konflikt. Diesmal zwischen den Carabinieri und den Ärzten. Die Ärzte wollten keine Carabinieri im Operationssaal dulden, aber schließlich setzten sich die Carabinieri durch, und ein paar Militärs kamen mit herein, um mich auch während der Operation sehen und überwachen zu können. Ein sehr freundlicher und kompetenter Chirurg schnitt mir von hinten die Schulter auf und entfernte die Kugel, die nur wenige Millimeter vor dem Gelenk steckengeblieben war.

Kaum war die Operation beendet, stellten sie mich, so gut es eben ging, wieder auf die Beine. Wir fuhren im Eiltempo Richtung San Vittore16.4, wo ich in einer der winzigsten und ekelerregensten Isolationszellen gesperrt wurde. Ich konnte eine Woche lang nicht einmal die Kleidung wechseln: Blutig, verschwitzt, verschmiert und von all den Fehlschlägen völlig entmutigt, verharrte ich in der Zelle.



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