Inhalt | Mit offenem Blick |
16 Die Wohnung in der Via | 18 1978 die Entführung Aldo Moros |
So begannen deine lange Zeit als Häftling und die Wanderschaft durch die verschiedenen Knäste Italiens. Wie lange bist du zunächst in San Vittore geblieben?
Etwa einen Monat. Dann verlegten sie mich in den Knast nach Pisa, wo ich über ein Jahr lang in Isolationshaft war. Ich blieb dort bis zum Sommer 1977, als sie mich auf die Asinara17.1 brachten. Das war sogar noch vor der Einweihung des von General Dalla Chiesa gewünschten Hochsicherheitstraktes.
In Pisa sperrten sie mich in einem kleinen Trakt zu einigen sozialen Gefangenen, die als besonders gefährlich galten. Es war eine harte Zeit. Außer meiner Mutter in London hatte ich keine weiteren Familienangehörigen. Außer Verwandten wurde niemand zu den Besuchsterminen zugelassen. So sah ich nur einmal im Monat meinen Anwalt, Edoardo di Giovanni. In jener psychisch problematischen Situation machte sich irgendwann während des Hofganges ein amerikanischer Häftling, dieser Ronald Starck, an mich heran. Er behauptete, ein großer internationaler Drogenhändler zu sein. Er erzählte von seinen großen Haschischplantagen im Libanon, von Privatflugzeugen, mit denen er durch die Gegend sauste, um mit Gras und anderem zu handeln ...
Ronald Starck ist die Person, die später behauptete, CIA-Agent zu sein, die BR unterwandert zu haben und viele Informationen über euch zu besitzen.
Seine Geschichten bestanden zu 90 Prozent aus Märchen. Bevor er sich an mich heranmachte, versuchte er bereits Bertolazzi auszuhorchen, der noch einen Tag vor meiner Ankunft im gleichen Trakt in Pisa gesessen hatte. Später habe ich die Angelegenheit mit Bertolazzi besprochen, doch er hat verneint, dem undurchsichtigen Amerikaner irgend etwas von Belang anvertraut zu haben.
Meinerseits ging ich auch nicht auf seine zweifelhaften Ausbruchsvorschläge ein.
Starck schlug dir eine gemeinsame Flucht vor?
Nicht wirklich. Er meinte, er verfüge über große Mengen Geld, mit dem er auch einen größer angelegten und von meinen Genossen organisierten Ausbruch finanzieren könne. Ich antwortete, daß die BR nicht auf Ausbrüche von inhaftierten Kapitalisten spezialisiert seien, und versuchte ihn abzuwimmeln. Er versuchte mich noch lange zu gewinnen, brachte verschiedenste Argumente vor und behauptete, große internationale Unterstützung zu haben.
Seine Hartnäckigkeit erregte meinen Verdacht, worauf ich jeden Kontakt abbrach. Andererseits war es auch eine allgemein übliche und alte Knastregel, Unbekannten erst einmal zu mißtrauen, insbesondere wenn sie so auffällig an dir interessiert sind. Ich hatte damit bereits Erfahrung. Während meines Aufenthaltes im Knast von Casale Monferrato gestand mir ein Häftling, den sie mir als Zellengenossen aufgehalst hatten, daß der Direktor von ihm fordere, alles zu berichten, was ich erzählte: »Es ist schwer, dies zu verweigern, da sie mich erpressen. Wenn du mir aber einfach nichts sagst, kann ich auch nichts berichten«, empfahl er in seiner einfachen, aber effektiven Logik.
Ich weiß weder, wer dieser Mister Starck genau war, noch was er wollte. Aber eines ist sicher, von den BR wußte es wenig bis gar nichts.
Abgesehen von dieser Geschichte wurde im Laufe der Jahre, und teilweise bis heute, vieles über mögliche Verbindungen der Roten Brigaden zu den Geheimdiensten verschiedenster Länder verbreitet. Politiker wie Giulio Andreotti und Bettino Craxi sprachen davon, aber auch Staatsanwälte und Ermittler. Es gab sogar einige Stimmen, die die Hypothese vertraten, eure Organisation könnte von irgendeiner dunklen und fremden Macht instrumentalisiert worden sein.
Kannst du uns, gemäß dem, was du bis 1976 als aktive Führungsperson erlebt und dem, was du danach im Knast mitbekommen hast, sagen, was es genau mit dieser mysteriösen Seite der BR auf sich hat?
Dieses Kapitel kann getrost geschlossen werden, bevor man es überhaupt aufschlägt. Der wirkliche Verlauf der Dinge hat mit den aufgestellten Märchen so wenig zu tun, daß hier jeder Widerspruch überflüssig erscheint...
Und dennoch, es wurde von Kontakten zu Geheimdiensten der Ostblockstaaten, von Ausbildungslagern, sogenannten Wallfahrtsorten, von einem gewissen für euch günstigen Hinterland geredet.
Es ist viel Blödsinn erzählt worden. Ich habe in meinem ganzen Leben nur zwei Pesonen aus den Ostblockstaaten kennengelernt, beides Frauen, aber deswegen noch lange keine Mata Haris. Die erste kam aus Polen, studierte an der Universität von Trento und war ein entzückendes Mädchen, mit einem unverwechselbaren melancholischen Lächeln. Die zweite war Heidi Pusch, die Ehefrau von Pierino Morlacchi. Sie war aus der Deutschen Demokratischen Republik zum Arbeiten und Studieren nach Mailand gekommen. Gegen sie wurde einmal zusammen mit mir in einem der ersten Prozesse der siebziger Jahre ermittelt. Sie hatte sicherlich keine verdeckten Verbindungen.
Also sagen dir die Namen Dupov17.2, Karlovy Vary17.3 und Radio Prag nichts?
Das sind Geschichten aus der direkten Nachkriegszeit, Angelegenheiten wie die des Partisanen Moranino17.4. Die Versuche, sie in irgendeiner Weise mit den Roten Brigaden in Verbindung zu bringen, sind ziemlich plump.
Fabrizio Pelli, der viel Humor besaß, rannte sogleich los, als er die Geschichte seiner vermeintlichen Ausbildung in der Tschechoslowakei las, und kaufte sich ein kleines Schachspiel: »Wenn sie mich so finden, werden sie glauben, voll ins Schwarze getroffen zu haben«, sagte er mir. Es war das Jahr der großen Begegnung zwischen Fischer und Karpov, und Schach symbolisierte, mehr noch als der Winterpalais, für Fabrizio den Osten. Auch Franceschini äußerte sich sarkastisch, als in bezug auf seine UdSSR-Aufenthalte von politischer Indoktrination die Rede war: »Ich glaubte, daß meine Reise nach Moskau eine Belohnung von der Federazione giovanile comunista war, weil ich als Kind immer die kleine Zeitung Il Pioniere verkauft hatte. Und jetzt muß ich feststellen, daß sie mich zur Revolutionsschulung dorthingebracht hatten; leider war ich damals zu jung, um dies zu bemerken!«
Wir amüsierten uns jedenfalls über diese Dinge. Als schließlich eine gewisse Claire Sterling17.5 die Nachricht lancierte, daß auch Margherita und ich einen Lehrgang auf Kuba mit anschließender Spezialisierung in Moskau absolviert hätten, konnten sich die Genossen nicht mehr zurückhalten und begannen uns »compañera Popovna« und »compañero Popov« zu nennen.
Zum Zeitpunkt der Entführung des amerikanischen Generals James Lee Dozier17.6 im Januar 1982 schienen die BR aber einen Kontakt zu Agenten der bulgarischen Botschaft in Rom gehabt zu haben. Der Pentito-Brigadist Loris Scricciolo erzählte, er sei von seinem Cousin Luigi Scricciolo, einem Gewerkschafter der UIL17.7, gebeten worden, ein Treffen mit den Bulgaren zu organisieren. Ein Treffen, das vor dem Kino Empire stattgefunden und an dem euer Genosse Luigi Novelli teilgenommen hätte. Was weißt du über diese Angelegenheit?
Damals war ich bereits sechs Jahre im Knast, und die Geschichte betrifft mich nur noch indirekt. Aber auch an dieser Geschichte ist nichts dran.
Nach der Entführung von General Dozier durch die BR-Partito Comunista Combattente17.8 hätte man denken können, daß die Gruppen, die in Italien den bewaffneten Kampf weiterführen wollten, nun versuchten sich in den Ost-West-Konflikt einzuschalten. Die Sowjetunion befand sich bereits in einer Krise; die internationalen Beziehungen blieben angespannt. Aber auch in diesen Fall gilt, daß auch ein plausibel konstruierter Kontext aus einem Gerücht noch nicht die Wahrheit macht.
Alle Genossen der BR-PCC, die ich im Knast traf, haben jede Beziehung zu bulgarischen Institutionen kategorisch ausgeschlossen. Sie berichteten, daß es von Luigi Scricciolo einen Vorschlag gab, der studiert und diskutiert wurde. Letztlich überwog die Vorsicht, und er wurde abgelehnt. Jemand sollte zu der Verabredung vor dem Kino Empire gehen, um die Glaubwürdigkeit von Scricciolo zu überprüfen. »Aber da war nicht einmal ein bulgarischer Regenschirm«, erzählte mir Novelli. Ich hatte keinen Grund, an seinen Worten, oder denen der anderen Genossen, die die Sache miterlebt haben, zu zweifeln.
Wenn schon nicht der Osten, dann vielleicht Israel. - Verschiedene Pentiti berichteten von einem Kollaborationsangebot der Dienste aus Tel Aviv ...
Solidarität mit dem palästinensischen Volk und gleichzeitig geheime Verbindungen zu den zionistischen Diensten: Das könnte der Handlungsstrang eines Spionage-Films sein. In Wirklichkeit handelte es sich um eine einzige Aktion und um maßlos aufgebauschte Gerüchte, an deren Wahrheitsgehalt auch ständiges Wiederholen nichts änderte.
Die Geschichte war folgende: 1973 hatte jemand, an den sich niemand mehr erinnern kann, Margherita wissen lassen, daß Israelis sich mit uns treffen wollten. Als Visitenkarte übermittelten sie uns die angebliche Adresse des Verstecks des armen Pisetta, den wir jedoch überhaupt nicht suchten. Wir beschlossen dennoch, die Zuverlässigkeit der Botschaft zu überprüfen. Margherita und Bertolazzi reisten nach Deutschland, ich glaube nach Frankfurt, wo die Nachforschungen ein wenig überzeugendes Ergebnis erbrachten.
Nach ihrer Rückkehr fragten wir uns: Wenn es wirklich die israelischen Geheimdienste sind, die einen Kontakt zu uns suchen, was könnten sie wollen? »Im günstigsten Fall uns eine Falle stellen«, antwortete Margherita. Und damit ließen wir die Sache auf sich beruhen.
Wenn das die Tatsachen sind, warum glaubst du, wurde immer wieder versucht, euch solche externen Beziehungen anzudichten?
Die naheliegendste Erklärung, die mir dazu einfällt, hat mit der elementaren Rhetorik des Kalten Krieges zu tun, die gegen uns in Gang gesetzt wurde: einen Stammbaum, ideologische Bezüge, eine rote Verschwörung und so weiter. Dies hat etwas mit Geisterbeschwörung, Exorzismus und Heuchelei zu tun. Wenn im eigenen Land etwas nicht stimmte, durfte das nicht an den sozialen Widersprüchen, der internen Geschichte und der eigenen Dynamik liegen, sondern an irgendeinem ausländischen Geheimdienst, der im trüben Wasser fischte und sich einiger Ahnungsloser bediente. Diese imaginären Projektionen waren notwendiger Bestandteil einer bestimmten Verschwörungstheorie. Es handelt sich hierbei auch um einen der vielen Versuche, mit denen eine gewisse Linke uns verleumdet hat, um die Entschlossenheit unserer Praxis, über die sie selber so viel redeten, ohne jedoch zu handeln, nicht anerkennen zu müssen.
Und selbstverständlich war es einfacher, über eine fremde und mysteriöse Macht herumzuspekulieren, als dem in Italien real existierenden Übel ins Gesicht zu sehen. So kommt, es daß der große Alte mit dem roten Bart, der Davidstern oder der Zylinder des Uncle Sam durch unsere Geschichte geistern.
Mit den Palästinensern haben die BR aber Kontakte unterhalten. Moretti ist sogar mit einem Segelboot, der »Papago«, in den Libanon gefahren, um eine Ladung Waffen abzuholen. Seit wann gab es diese Zusammenarbeit?
Ich kann bestätigen, daß es Beziehungen zum palästinensischen Widerstand gegeben hat, die ich schätzte. Die Geschichte von der »Papago« kenne ich nicht aus erster Hand. Moretti hat mir nicht direkt davon erzählt. Ich hielt es auch nicht für nötig, ihn zu einer Angelegenheit, die nicht bemerkenswert war, zu befragen. Wir hatten bereits, bevor ich verhaftet wurde, auf der Ebene der politischen Propaganda mit den Palästinensern zusammengearbeitet und einige Schriften der Gruppen um George Habbash17.9 und Nayef Hawatmeh17.10 verbreitet.
Ich habe aber mit Moretti über einen anderen Aspekt, der mich persönlich mehr interessierte, geredet. Wie sich vielleicht manche erinnern, veröffentlichte die Presse irgendwann die Unterstellung, »der Alte«17.11 reise häufig nach Paris, um über Simioni und die Sprachschule »Hypèrion« die Kontakte zu den Palästinensern zu unterhalten. Angesichts der Härte, mit der wir vor Jahren den Dialog mit diesen Genossen abgebrochen hatten, war ich neugierig, ob es irgendeine Annäherung gegeben hatte. Tatsächlich fanden die Treffen mit einigen Vertretern der palästinensischen Gruppen wohl häufig in Paris statt, mit den Exgenossen der Hypèrion hatte dies aber nichts zu tun.
Wer außer den Palästinensern belieferte die BR mit Waffen? Du hast erzählt, daß eure Bewaffnung zunächst aus Geschenken ehemaliger Partisanen bestand. Die Skorpio-Maschinenpistolen und die Srcm-Handgranaten stammten dann aber wohl kaum aus den alten Lagern des Widerstandes ...
Waffen zu besorgen, ist, im Gegensatz zu dem, was man vielleicht glauben könnte, für die Roten Brigaden nie ein Problem gewesen. Pistolen und Gewehre besorgten wir uns auf die einfachste Weise: Wir erwarben sie in den Waffenhandlungen der verschiedenen Städte, mit von uns nach allen Regeln der Kunst gefälschten Waffenscheinen. Maschinenpistolen und Handgranaten kauften wir meist über ehemalige Partisanen, die mittlerweile in der Unterwelt der proletarischen Stadtteile Mailands gelandet waren. Zwischen 1972 und '75 haben wir auch ab und zu Blitzaktionen in der Schweiz durchgeführt. Wir haben unsere Bestände aufgefüllt, indem wir uns dort der vielen privaten Waffenlager, die den Schweizer Bürgern wegen des Milizsystems zur Verfügung stehen, bedienten. Unsere Schweizer Genossen zeigten uns die Verstecke, und es war außerordentlich praktisch, sich dort gratis zu versorgen.
Habt ihr zu den Separatisten der baskischen ETA oder der irischen IRA Kontakte gepflegt?
Nicht als Organisation. Die politische Ausrichtung der Roten Brigaden hatte kaum etwas mit ihrer Praxis des bewaffneten Kampfes zu tun. Sie führten den Kampf einer Bevölkerung, die ihr ehernes Recht auf politische, kulturelle, linguistische und religiöse Autonomie verteidigte, und sie wurden hierbei von allen sozialen Klassen unterstützt. Unser revolutionärer und klassenorientierter Kontext war aber ein entschieden anderer.
Ich hatte 1969 in Trento persönliche Beziehungen zu Aktivisten der ETA. Es handelte sich um zwei Jugendliche, die aus ihrem Land geflohen waren, um einem Todesurteil zu entrinnen. Ich kümmerte mich einige Tage lang darum, ihnen einen sicheren Zufluchtsort zu besorgen. Ich erinnere mich daran, daß einer von ihnen während einer Unterhaltung mal sagte: »Weißt Du was mich an euch wundert? Daß ihr nicht singen könnt. Unser Kampf ist hingegen ein einziger Gesang ...« Eine Bemerkung, der ich nicht viel Beachtung schenkte, die mir aber im Laufe der Jahre häufig durch den Kopf ging. Den Genossen anderer Gruppen bei Schwierigkeiten zu helfen, war jedenfalls Teil einer militanten internationalen Solidarität, die Ende der 60er Jahre sehr weit verbreitet war. Ich habe mich zwischen 1967 und '68 beispielsweise für den Befreiungskampf in Mosambik engagiert.
Kommen wir noch auf eine andere Art von Beziehungen in den Knästen zu sprechen. Ich meine die Beziehung zwischen den BR-Häftlingen und den Männern der Mafia. Tommaso Buscetta, der große Pentito gegen die Cosa Nostra, hat der parlamentarischen Antimafia-Kommission im November '92 erzählt, daß ihn »jemand« im Auftrag »eines Ministers« während der Moro-Entführung kontaktierte. Er hätte zu den im Knast von Turin inhaftierten Brigadisten gehen sollen, um »sie zu bitten, das Leben von Aldo Moro« zu retten. Was weißt du über diese Geschichte?
Unter den zahlreichen Anfragen nach einer Intervention zugunsten einer Freilassung Aldo Moros, die mich im Knast von Turin erreichten, gab es keine einzige von Vertretern der Cosa Nostra. Andererseits hat Buscetta selbst erklärt, daß er nicht nach Turin gekommen ist. Daher ist es verständlich, daß ich nichts von dieser Angelegenheit erfahren habe. Der interessanteste Punkt an seinen Aussagen scheint mir aber zu sein, daß die sizilianische Mafia eine gewisse Zeit lang gebeten wurde, sich für die Rettung des christdemokratischen Anführers einzusetzen, und später mit einem Gegenbefehl wieder zurückgepfiffen wurde. »Irgend jemand wollte Moro nicht befreien«, so Buscetta. Das ist auch der Eindruck, den ich während der letzten Tage der Entführung aus der Zelle heraus ganz deutlich gewonnen hatte.
Ich möchte auch hinzufügen, daß mir die Erzählung des sizilianischen Bosses nicht unwahrscheinlich erscheint und sie gewisse Einzelheiten enthält, die ich bestätigen kann. Es besteht kein Zweifel, daß Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre jemand aus dem Kreis der politischen Macht versucht hat, die Männer des organisierten Verbrechens zu benutzen, um in den Knästen einen Krieg gegen uns führen zu lassen, um unsere Vorgehensweisen zu beeinflussen.
Hast du dafür Beweise?
Das sind Dinge, die ich persönlich erfahren habe. 1979, gleich nach dem Aufstand von Asinara, wurde ich einen Monat lang in den Knast von Pianosa gesteckt. Dort wurde ich, anstatt in einen Trakt mit den anderen zu kommen, zusammen mit Bertolazzi in einem kleinen Bereich isoliert, in dem sich als einziger weiterer Insasse Francesco Turatello17.12 befand.
Ich weiß nicht, wer auf diese Idee gekommen war. Die Sache war gefährlich und hätte zu großen Problemen führen können. Turatello war nicht nur der unangefochtene Boss einer mächtigen Bande, er hatte auch rechtsextreme Vorstellungen und lief mit einem riesigen goldenen Hakenkreuz um den Hals herum. Darüber hinaus war er auch noch etwa doppelt so groß und breit wie ich. Eine wenig beruhigende Perspektive auch angesichts der Tatsache, daß es in den vergangenen Monaten in verschiedenen Hochsicherheitsknästen zu Reibungen um die Organisierung der jeweiligen »Lebensräume« gekommen war, zu Schlägereien zwischen unseren Genossen und den Männern seines Clans.
Ich überlegte, was ich tun sollte. Entweder ich würde in der Zelle eingeschlossen bleiben, ohne ins Freie zu gehen, und als ängstlich gelten, oder ich würde ins Freie gehen und mich der Konfrontation stellen. Ich entschied mich für die zweite Möglichkeit.
»Das Freie« war ein winziger Hof von wenigen Quadrametern. Er war bereits dort. Wir schauten uns einen Augenblick schweigend an, dann näherte er sich mir und ergriff die Initiative: »Ich bin ein enger Freund und Geschäftspartner eines Bekannten von dir, Renato Vallanzasca. Ich weiß, daß ihr ein ausgezeichnetes Verhältnis im Knast hattet, und es gibt keinen Grund, daß es zwischen uns anders läuft.« Das fing gut an, und es begann ein langer Dialog.
Er erzählte mir, daß das Hakenkreuz nur ein Schmuckstück sei, ein Geschenk Vallanzascas, daß er aber überhaupt kein Nazi sei. Er beschäftige sich gar nicht mit Politik und hielt sich einfach für einen »großen Händler«. Gerade weil er ein »Händler« sei, erklärte er, müsse er seine Geschäfte auch aus dem Knast heraus weiter abwickeln. Er müsse sich also den größtmöglichen Handlungsspielraum erobern, indem er alles kaufe, was es zu kaufen gab, und alle korrumpiere, die zu korrumpieren waren. »Ich weiß, daß ihr ganz anders denkt und vorgeht. Das hat zu einigen Reibereien geführt, aber das ist alles noch lange kein Grund, sich gegenseitig zu bekriegen ...« Wir vereinbarten eine friedliche Koexistenz, mit der Verpflichtung, diese auf alle anderen Hochsicherheitsknäste auszuweiten.
»Ich bin kein Verräter, ich bin keiner, der mit Knastdirektoren oder Regierungspolitikern verhandelt«, besiegelte Turatello den Knastfrieden. »Ich will dir das auch beweisen, indem ich dir von einem Vorfall erzähle.« Er berichtete mir, daß ihn kurz nach dem Ende der Moro-Entführung »einige wichtige Leute aus Rom« kontaktiert hatten und ihn fragten, ob er bereit wäre, in den Knästen einen Krieg gegen uns auszulösen. Natürlich im Tausch mit Hafterleichterungen und anderen Vorzügen für ihn und die Leute seines Clans.
Meinte er mit »wichtige Leute aus Rom« Personen aus der Politik?
Das hat Turatello nicht genauer erklärt. Aber so, wie er es erzählte, schien es, als spiele er mehr auf politische denn auf administrative oder polizeiliche Kreise an. Er sagte, er habe den Vorschlag abgelehnt, da er niemanden provozieren wollte und bei einer Auseinandersetzung unter Häftlingen noch nie etwas Gutes herausgekommen wäre.
Er lud mich an jenem Abend in seine Zelle zum Essen ein, um unsere »Übereinkunft« zu feiern und um mir all seine Macht zeigen zu können. Die Tafel war mit allen erdenklichen Gaben Gottes gesegnet: Rigatoni mit frischen Tomaten, gebratenes Zicklein, Wein, Cognac ...
Habt ihr auch mit anderen Mafiosi eine Übereinkunft für ein friedliches Leben im Knast getroffen?
Ja, und zwar von dem Zeitpunkt an, als sie uns gemeinsam in den Hochsicherheitsgefängnissen konzentrierten. Im Rahmen ausgeklügelter Provokationspläne hatten wir uns häufig mit Männern der Cosa Nostra, 'Ndrangheta17.13 und Camorra vermischt dort wiedergefunden. Nicht nur in den gleichen Trakten, sondern auch in den gleichen Zellen. Wir wußten genau, daß der Knast ein Universum mit eigenen Regeln ist, und wir begriffen schnell, daß eines unserer Probleme darin lag, uns von Gestalten fernzuhalten, die die Haftzeit in diametral entgegengesetzter Weise verlebten. Korruption und Vetternwirtschaft waren für die Mafiosi eine selbstverständliche Sache, während wir dies rigoros ablehnten.
Daher traf die knastinterne Leitung der BR - das sogenannte »Interne Zentrum,« zu deren Koordinatoren ich gehörte - 1977, zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme der Hochsicherheitsknäste, eine klare Entscheidung. Es wurde bestimmt, daß alle unsere inhaftierten Militanten um jeden Preis Konflikte mit dieser oder jener organisierten Häftlingsgruppe vermeiden sollten. Wir haben den verschiedenen Männern der Mafia, den verschiedenen Camorristen und Unterweltlern, die in unserer Nähe waren, immer wieder gesagt: »Wir sind hier alle eingesperrt: Tretet uns nicht auf die Füße, dann treten wir euch auch nicht auf die Füße.«
Ist dieser interne Frieden immer eingehalten worden?
Fast immer. Die Räume wurden gegenseitig respektiert, das war für alle praktisch. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, daß sie mich 1983/84 in Palmi in eine Zelle neben Luciano Liggio steckten. In den anderen Trakten saßen Männer der Neuen Camorra, die den großen sizilianischen Boss sicher nicht mit freundlichen Augen betrachteten. Es war eine sehr unangenehme Situation. Doch es gelang mir auch in dieser Situtation, mit allen neutrale und gleiche Beziehungen zu unterhalten.
Und nicht nur das. Wir Politischen führten in diesem Knast einen harten Kampf gegen die Administration und studierten auch die Möglichkeit eines Aufstandes. Überlegungen, die wir dann fallenließen, auch um Liggio nicht in ein gefährliches Abenteuer mit hineinzuziehen, mit dem er nichts zu tun hatte. Letztlich auch, um uns keine Probleme mit der Mafia einzuhandeln.
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