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20 Gefängnisaufstand auf Asinara | 22 »Im Wald von Bistorco« und |
In dem Prozeß von Florenz wurdest du wegen »Beleidigung von Staatsorganen« und »Aufstachelung zum Bürgerkrieg« zu weiteren zehn Jahren Haft verurteilt. Nach einem kurzen Aufenthalt auf der Gefängnisinsel Pianosa wurdest du wegen der Berufungsverhandlung des früheren Prozesses zusammen mit den anderen Brigadisten des historischen Kerns wieder nach Turin gebracht. Die juristischen Prozeduren gingen also weiter. Schritten währenddessen der Zerfall der BR und deine Konflikte mit der externen Leitung weiter voran?
Die Meinungsverschiedenheiten wurden immer größer, bis es zu einem radikalen Bruch kam.
Wie ich bereits erzählte, hatten wir in Florenz diese enttäuschende Antwort auf unser »Riesenpapier« bekommen und den Rücktritt der Leitung gefordert. Als wir in Turin schließlich wieder alle zusammen waren, konnte die interne Diskussion wieder massiv fortgesetzt werden. Damals fühlten wir uns als Häftlinge eher außerhalb als innerhalb der Organisation stehend und von der Leitung, die unsere Einschätzungen und Forderungen nicht einmal ernst nahm, erniedrigt und schlecht behandelt.
Wir beschlossen, diesen Konflikt öffentlich zu machen, äußerten uns aber nur indirekt. Das geschah durch die letzten Kommuniqués, die wir im Gerichtssaal der Turiner Berufungsverhandlung verlasen.
Was habt ihr von diesem Schritt in die Öffentlichkeit erwartet?
Die Externen gingen offensichtlich davon aus, daß die inhaftierten Brigadisten des historischen Kerns nicht mehr imstande seien, an der politischen Diskussion der Organisation teilzuhaben. Ihrer Meinung nach hatten wir mit der konkreten strategischen Entscheidung und der weiteren Ausrichtung der militärischen Aktionen, denen sie die weitaus größte Bedeutung beimaßen, nichts mehr zu tun. Am liebsten hätten sie uns auf die Aufgabe allgemein theoretischer und kultureller Zuarbeit beschränkt. Eine Rolle, auf die wir uns nicht festlegen lassen wollten. Was mich betraf, wollte ich mich schon allein deswegen nicht auf Eis legen lassen, da ich davon ausging, daß der von der Leitung eingeschlagene Weg nur zum Zerfall und zu einem Desaster führen konnte.
Konntet ihr eure Erklärung im Prozeßsaal in Turin ungestört vortragen?
Was unsere Kommuniqués betraf, geschah nichts. Der Gerichtspräsident ließ sie uns seelenruhig verlesen. Wahrscheinlich war er auch nicht gerade traurig, daß unsere internen Differenzen anfingen, ans Tageslicht zu kommen.
Auf juristischer Ebene war es allerdings hart. Sie verurteilten mich zu fünfzehn Jahren Haft, zehn Jahre wegen des Aufbaus einer bewaffneten Bande und fünf für all das, was ich als Brigadist getan hatte. Außerdem fing ich mir noch eine Verurteilung zu weiteren sechzehn Jahren Haft ein wegen der verschiedenen Beleidigungen, die wir in den Prozeßerklärungen verlesen hatten.
Da begriff ich endgültig, daß Worte die Macht mehr stören konnten als die Überfälle und Attentate.
In welches Gefängnis brachten sie dich nach der Urteilsverkündung im Turiner Revisionsprozeß?
Wir waren alle in sehr großer Sorge. Als der Prozeß zu Ende war, verlebte ich Tage großer Unsicherheit: Ich fürchtete, daß sie mich wieder auf Asinara verlegen könnten. Von dort hatte ich diverse Drohbriefe erhalten. Die Schließer, die mit Vor- und Nachnamen zeichneten, schrieben mir: »Wir warten auf dich«, »sobald du wieder hier bist, machen wir dich fertig« und ähnliche Späße.
Die Carabinieri holten mich ab, und niemand sagte ein Wort, wohin wir verlegt würden. Sie machten ein großes Geheimnis daraus. In einem Transporter brachten sie uns nach Genua. Am Hafen luden sie uns in Militärhubschrauber, und es begann ein langer Flug kreuz und quer durch Italien. In meinem Fall wurde es ziemlich ungemütlich. Der Hubschrauber fing Feuer und mußte auf dem Feld eines völlig verdutzten Bauern notlanden, der überhaupt nicht begriff, was das sollte.
Schließlich erreichten wir unseren Bestimmungsort, und ich stellte dem Himmel sei Dank fest, daß ich mich nicht auf Asinara, sondern in dem neuen »Superknast« von Palmi wiederfand.
Dort saßen auch die ganzen Autonomen ein, die im Zuge der Massenverhaftung vom 7. April 197921.1 in ganz Italien festgesetzt wurden.
In der Tat, ich traf Toni Negri, Emilio Vesce, Oreste Scalzone, Libero Maesano und viele andere.
Am meisten freute ich mich, Scalzone wiederzusehen, mit dem mich eine herzliche Freundschaft verband, auch wenn sie nicht gerade sonderlich gepflegt worden war. Der erste Eindruck war erschreckend, es ging ihm schlecht, er hatte schrecklich abgenommen, und obwohl er sich drei, vier oder auch fünf Pullover übereinanderzog, schien er nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen.
Scalzone war in den 70er Jahren ein Anführer von Potere Operaio gewesen. Hattet ihr jemals gemeinsame Aktionen durchgeführt?
Wir waren nicht in der gleichen Organisation. Aber 1969/70 hatten wir uns auf vielen Demonstrationen und Dutzenden von Versammlungen Seite an Seite wiedergefunden.
Ich hatte - und habe - großen Respekt vor Oreste. Er war sehr großzügig und immer bereit, das Wort zu ergreifen, auch in den schwierigsten Situationen. Ich erinnere mich an eine ganz explosive Versammlung an der Universität Statale. Wir von Sinistra Proletaria und die Genossen von Potere Operaio hatten uns zusammengetan, um der totalen Kontrolle von Capanna und den »Katanga«21.2 an der Universität entgegenzutreten.
Wir hatten Scalzone einstimmig zu unserem Sprecher bestimmt. Heldenhaft schaffte er es eine ganze Zeit lang, seinen konfrontativen Beitrag zu halten. Er wurde nicht nur lautstark unterbrochen, sondern auch mit Tritten und Faustschlägen bedacht, die die äußerst brutalen »Katangas« dem Sprecher erteilten, um ihn aus der Fassung zu bringen.
Das letzte Mal hatte ich ihn um das Jahr 1972 gesehen. Wir begegneten uns zufällig, und er kritisierte mit freundlicher und leicht verträumter Miene, die er selbst bei ernsthaftesten Auseinandersetzungen beibehielt, daß wir die Gruppe Sinistra Proletaria zu früh aufgelöst hätten. Ich entgegnete, daß sich die soziale Situation tiefgreifend verändert hätte und die Bedingungen nicht mehr existierten, um offen zu agieren. Er hörte mir, ohne daß ich ihn überzeugen konnte, zu, aber einige Zeit später stand Potere Operaio vor den gleichen Schwierigkeiten.
Welches Verhältnis herrschte in Palmi zwischen euch Brigadisten und den Autonomen vom 7. April?
Ein Verhältnis des Mißtrauens und in einigen Fällen wie etwa zwischen Negri und Franceschini offene Konfrontation. Die Spannungen hingen vor allem damit zusammen, daß die Brigadisten einigen Anführern der Autonomia unterstellten, während der Moro-Affäre versucht zu haben, die politische Kontrolle über die BR zu erlangen. Hinzu kamen kleinere und größere Rivalitäten über die vermeintliche politische Transparenz der Autonomen und die operativen und militärischen Kompetenzen der Brigadisten.
Schließlich trafen wir uns und bildeten ein gemeinsames Lagerkomitee, um eine übermäßig angespannte Situation im Knast von Palmi zu vermeiden. Das Komitee bestand aus Repräsentanten der verschiedenen politischen Gefangenengruppen und hatte die alltäglichen Beziehungen des Gemeinschaftslebens zu regeln. Es wurde von allen akzeptiert und erfüllte seine Funktion. Ich war Delegierter der BR und, ich glaube, Vesce für die Autonomen vom 7. April.
Im Dezember 1980 entführten die BR den Staatsanwalt Giovanni D'Urso. Wußtet ihr, daß die Leitung eine derartige Aktion vorbereitete?
Wir wußten von nichts. Ich lag schon im Bett, als ich von der Aktion aus den Abendnachrichten erfuhr.
Die Aktion zielte ganz offensichtlich darauf, das Problem der weiterhin bestehenden Gefängnisinsel Asinara wieder auf den Tisch zu bringen.
Als euch das Flugblatt erreichte, in dem stand, D'Urso würde lebend freigelassen, sofern der Knast auf Asinara geschlossen würde, habt ihr bestimmt gejubelt.
Gejubelt nicht, aber erleichtert hat uns das schon. Nicht nur, weil es eine Revanche für den gescheiterten Ausbruch und all die Prügel darstellte. Wir waren auch in großer Sorge um die zehn Genossen, die als Geiseln des Staates auf Asinara zurückgeblieben waren und, soviel wir wußten, allen vorstellbaren Schikanen ausgesetzt waren.
Einige Tage später brachte die Strategische Leitung - vielleicht hatte sie ein wenig Schuldgefühle wegen der Art, wie sie uns aus der Organisation herausgehalten hatten - eine Erklärung in Umlauf, in der sie uns, die »politischen Gefangenen«, aufforderten unsere Meinung zum Schicksal D'Ursos zu formulieren.
Sie fragten euch, ob er getötet werden sollte oder nicht?
Sie fragten: »Falls wir das politische Ziel der Aktion, die Schließung des Knastes auf der Asinara, erreicht haben, was soll dann mit D'Urso geschehen?«
Eine rhetorische Frage, wenn sie denen gestellt wird, die im Knast sitzen. Hättet ihr die Tötung des Staatsanwaltes gefordert, hättet ihr alle automatisch einmal Lebenslänglich dafür erhalten.
In der Tat brachte uns diese Nachfrage in große Verlegenheit, da sie eine tiefgreifende Diskontinuität der Beziehungen zwischen drinnen und draußen aufzeigte. Wir hatten immer darauf bestanden, zwischen der Verantwortung der draußen Agierenden und der der Gefangenen strikt zu trennen. Wir versuchten, Zeit zu gewinnen, und berieten uns. Wir bekamen auch Besuch von meinem Anwalt Edoardo di Giovanni und von Marco Pannella, die darauf bestanden, daß eine Stellungnahme unsererseits für D'Ursos Leben ausschlaggebend wäre.
Eine Stellungnahme war unvermeidbar geworden. Ich schlug aber vor, nicht als Brigadist zu reden, sondern als Vertreter der »Gefangenengruppe des Knastes Palmi«. Wir schrieben ein Papier, das alle Genossen unterzeichneten und Pannella übergeben wurde. Wir sagten das einzige, was wir sagen konnten: Die Schließung vom Knast auf Asinara sei für uns ein grundlegendes und äußerst wichtiges Ziel, aber der Staatsanwalt sei auf jeden Fall besser lebend freizulassen.
D'Urso wurde Mitte Januar '81, kurze Zeit nachdem die Spezialabteilung im Knast auf Asinara geschlossen wurde, freigelassen. Konnte man die Angelegenheit damit als erledigt betrachten?
Nicht ganz. Für mich gab es ein unangenehmes Nachspiel. Viele Jahre später zog man mich in den »Moro III«-Prozeß hinein. Die Richter folgerten aus der Tatsache, daß wir in dem Papier geschrieben hatten, die Schließung von Asinara sei eine dringliche Angelegenheit, daß ich die Brigadisten zu der Entführung von D'Urso animiert hätte. Das Resultat: eine weitere Verurteilung zu sechzehn Jahren Haft. Ein weiterer Schlag, aber zu diesem Zeitpunkt war ich bereits daran gewöhnt, mich nicht mehr über die zirkusreifen Kapriolen dieser Justiz zu wundern.
Du sagtest, daß es einen Punkt gab, der zum endgültigen Bruch mit den BR geführt hat. Um was ging es dabei?
Das letzte Ereignis, aus dem Zweifel und schließlich die Ablehnung resultierte, war die Geschichte mit Natalia Ligas. Aber die Differenzen waren schon lange Zeit vorher deutlich, und der Zerfall der BR schien unaufhaltsam. Der letzte Schlag gegen die Einheit der Roten Brigaden war die Abspaltung der Kolonne Walter Alasia. Nach Walter Alasia nannte sich die erste historische Kolonne der BR in Mailand. Sie war im Umfeld der großen Fabriken entstanden und tief in den Arbeiterkämpfen verwurzelt.
Aus der Kolonne Walter Alasia wurde im Sommer 1980 harte Kritik an Politik und Strategie der Leitung geübt. Sie warfen ihr vor, die Fabriken im Stich zu lassen, einseitig »den direkten Angriff auf das Herz des Staates« zu favorisieren, also die militärischen Aktionen gegen Politiker und Staatsanwälte. Im Herbst 1980 weigerten sie sich dann, eine Flugschrift der Leitung zur Situation der Arbeiter in Mailand zu verteilen. Das war ein Akt offener Rebellion. Damit nicht genug, verteilten sie auch noch ein eigenes Papier, das sie auch an uns Häftlinge schickten, indem sie uns aufforderten, Stellung zu beziehen. Ich stimmte im großen und ganzen mit ihrer Ausrichtung überein.
Und das hast du auch öffentlich gemacht?
Ja, ich verfaßte einen offenen Brief, der auch von anderen inhaftierten Genossen unterschrieben wurde. In dem schrieb ich, daß die Anfänge der Roten Brigaden um die Arbeiterkämpfe zentriert waren und die Initiative, wieder eine Diskussion über diese Themen aufzunehmen, absolut legitim und richtig sei.
Die Sache mißfiel der Leitung natürlich. Sie setzte den Militanten der Kolonne Walter Alasia im Dezember eine Art Ultimatum und forderte von ihnen, nichts zu unternehmen, keinerlei Aktion durchzuführen, bis die Diskussion beendet sei.
Sie setzten sich über die Autorität der Leitung hinweg und führten zwei schwere Attentate durch. Sie töteten den Leiter von Alfa Romeo, Manfredo Mazzanti, und den Leiter von Marelli, Renato Briano.
Damit war der Bruch endgültig. Die Leitung verbreitete zum ersten Mal in der Geschichte der Roten Brigaden ein offizielles Ausschlußkommuniqué: »Die Genossen, die diese Aktion durchführten, haben sich außerhalb unserer Organisation gestellt ...«
So ging die Walter Alasia ihre eigenen Wege?
Ja, aber nicht lange. Es kam zu verschiedenen Verhaftungen. Nach einer Schießerei mit zweien ihrer Militanten - Roberto Serafini und Walter Pezzoli, die von einer Spezialeinheit der Carabinieri in einer Bar überrascht wurden - löste sie sich auf.
Wichtig war aber, daß diese Spaltung erst der Anfang vom Ende war. Die neapolitanische Kolonne und die Knastfront um Giovanni Senzani21.3 entfernten sich schrittweise ebenfalls von Morettis Leitung. Sie führten ohne Absprachen die Entführung des Christdemokraten Ciro Cirillo21.4 durch und töteten Roberto Peci21.5, der beschuldigt wurde, mit den Ordnungskräften kollaboriert und damit für die Gefangennahme einiger Genossen aus den Marken sowie seines eigenen Bruders Patrizio verantwortlich zu sein. Dann riefen sie eine neue Gruppe ins Leben, die sich Guerilla-Partei21.6 nannte.
Die Roten Brigaden zerfielen also in drei Gruppierungen: die Walter Alasia, die Guerilla-Partei von Senzani und die alte Hauptströmung unter Führung von Moretti.
Stimmt genau. Aber die alte Hauptströmung, die zu der Zeit in Venetien den Ingenieur Giuseppe Tagliercio entführte, beschloß, sich fortan Rote Brigaden - Kämpfende Kommunistische Partei zu nennen, um allen die neue Situation zu verdeutlichen. Im Namen hatte sie somit einen alten Slogan aufgenommen, der unter vielen Flugblättern gestanden hatte: »Für den Aufbau der kämpfenden Partei«.
Es waren Monate härtester Diskussionen, in denen eine mittlerweile unlösbare politische Krise drohte, in eine militärische Krise auszuufern. Verhaftungen, Abkehr und Verrat häuften sich. In der Atmosphäre allgemeiner Konfusion ging jegliche Linie verloren. Die bewaffneten Aktionen folgten einander ohne erkennbare Zielsetzung. Oft hatten sie nicht mehr im Sinn, als die Existenz derer zu beweisen, die sie durchführten.
In dem Chaos geschah etwas sehr Schlimmes: der klassische Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt. Zumindest war es für mich so.
Die Affäre mit Natalia Ligas. Um was ging es?
Ligas war eine BR-Militante, die zu der Knastfront gehörte und daher in Kontakt zu uns in Palmi und zu anderen inhaftierten Genossen stand. Nach den Spaltungen fand sie sich in der Gruppe von Senzani wieder. Die Turiner Leitung der Guerilla-Partei hegte aufgrund nicht nachprüfbarer Indizien den Verdacht, daß sie eine Agentin sei und eine enorme Gefahr für die Organisation darstellte. Sie überlegten, wie sie ihre Militanten in ganz Italien vor ihr warnen könnten. Da fiel ihnen nichts Besseres ein, als einen Banküberfall durchzuführen und dabei einen Wachmann zu töten. Mit dem einzigen Ziel, vor Ort ein Flugblatt zurückzulassen, welches die Zeitungen abdrucken würden, in dem sie vor dem »wilden Tier Natalia Ligas« warnten, der man nicht trauen dürfe.
War Ligas eine Undercover-Agentin oder nicht?
Es handelte sich um ein aus der Paranoia jener Zeit und den Fehlanalysen anderer Verhaftungen resultierendes Märchen. Sie war ja später sogar wieder in der Gruppe um Senzani aktiv. Als ich in Palmi im Knast von dieser Geschichte erfuhr, lief es mir wirklich kalt den Rücken herunter. Für mich war endgültig der Moment gekommen, um zu sagen, »es reicht«. Ich rief die Genossen zusammen und forderte zur Reflexion auf. Es war unmöglich, eine solche Praxis weiterhin zu akzeptieren. Das hatte nichts mehr mit Politik und unserer Vorstellung von Guerilla zu tun. Sosehr die Zeiten auch härter geworden sein mögen, und sosehr zuvor der Tod nicht immer mit genug Aufmerksamkeit vermieden wurde, es war nicht hinnehmbar, daß ein Mann getötet wurde, nur um ein Flugblatt zu verbreiten, in dem haltlose Verdächtigungen gegen eine Genossin formuliert wurden.
Die Grenzen des Zumutbaren waren erreicht. Jeder Sinn für das Maß zwischen dem zu erzielenden Ergebnis und dem Wert des menschlichen Lebens war verlorengegangen. Ich sagte allen, daß das ein inakzeptabler Preis sei und ich nicht mehr bereit sei, derartige Aktionen zu decken.
Ab dem Moment betrachtetest du dich nicht mehr den Roten Brigaden zugehörig?
Ich stand nie außerhalb der Geschichte der Roten Brigaden. Ich verließ die Gruppierungen, in die die Organisation zerfallen war.
Aber zu diesen Ablegern gab es organisatorisch keine Alternativen.
Das stimmt, es gab keine Alternativen. Nur die Möglichkeit, sich selbst treu zu bleiben, einer Vorstellung von Militanz, die nicht zu Formen militärischer Organisierung verflacht. Persönlich hatte ich das Bedürfnis nach einer authentischen Auseinandersetzung unter den alten Genossen, mit denen wir die Roten Brigaden ins Leben gerufen hatten: an erster Stelle mit Moretti und dann vielen anderen, die nicht in Palmi saßen.
Ich schrieb ein Papier mit dem Titel »Das ist nichts weiter als der Anfang«. Darin kündigte ich das Ende einer Entwicklung an und warf die Forderung nach einer allumfassenden Diskussion auf, um herauszufinden, welche tiefgreifenden Veränderungen wir vorzunehmen hätten, und ob wir dazu überhaupt noch in der Lage wären.
In diesen Tagen gelangte ich auch zu der Überzeugung, daß ich für vieles eine direkte Verantwortung trug. Ich hatte die Organisation Rote Brigaden propagiert und mit gegründet. Ich konnte mich nicht einfach distanzieren, ohne detailliert meine Sichtweise erklärt und alles Mögliche versucht zu haben, um diese Organisation, die keinen triftigen Existenzgrund mehr hatte, zu einem geordneten Ende zu bringen.
Hast du auf dein »Das ist nichts weiter als der Anfang« eine Antwort erhalten?
Nein, meine Stimme und die der zwanzig inhaftierten Genossen, die das Papier mit unterzeichnet hatten, verhallte ungehört. Mittlerweile waren die drei aus den BR hervorgegangenen Ableger in sich völlig hermetisch verschlossen und agierten militärisch ohne jegliche Diskussion. Es war nichts mehr zu machen.
Ich war ab diesem Zeitpunkt nur noch ein Gefangener, ein Militanter der ehemaligen Roten Brigaden, der zu keiner existierenden Gruppierung mehr gehörte. Ich hatte mit jeder organisierten Militanz gebrochen und war völlig isoliert.
Das war Ende 1982. Von dem Moment an begann für mich eine völlig neue Knastperiode. Eine andere Art von Arbeit, neue Verpflichtungen und neue Interessen.
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