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21 Palmi und die Spaltung der | 23 Im Namen welcher Gegenwart? - |
Im Knast von Palmi ließest du den fünfzackigen Stern endgültig hinter dir liegen und stelltest dich deiner »neuen« Existenz. Was waren die wichtigsten Etappen dieses Weges für dich bis heute?
Eines Nachts hatte ich einen Traum ...
Wie Martin Luther King?
Ach nein, das hat nichts damit zu tun! Ich rede nicht von einem Traum als Metapher, sondern von einem echten Traum, einer von denen, die man im Bett hat, wenn man schläft.
Da war ein schneebedeckter Berg. Von oben hing ein rotes Seil herunter. Ich stieg hinauf und kletterte mit Hilfe des Seils die steilen Felswände hoch. Trotz einiger Schwierigkeiten erreichte ich den Gipfel und richtete mich an alle, die im Basiscamp geblieben waren und zuschauten, mit euphorischen Siegesgesten. Ich hatte das Seil weiterhin fest umschlungen, hielt es aber nicht für opportun, auf der gleichen Seite wieder abzusteigen. Ich schaute die andere Seite des Berges hinunter und sah viele Leute, die gespannt und interessiert die Details der Unternehmung erfahren wollen.
Am nächsten Morgen besprach ich mit Nicola Valentino diese Geschichte. Er war ein Genosse aus den Formazioni Comuniste Combattenti, mit dem ich mich im Knast angefreundet hatte. Er hörte mir zu, ohne überrascht zu sein: »Ich habe den Eindruck, daß ich diesen Traum auch schon geträumt habe«, sagte er zu mir. Er war überhaupt nicht beeindruckt. Im Gegenteil, meine Vertraulichkeit stärkte bei ihm wohl einige Intuitionen, die er seit geraumer Zeit sorgsam hegte.
»Ich saß im Auto«, erzählte er nun seinerseits, »und fuhr am Fuße eines hohen Berges entlang. Je weiter ich fuhr, desto schmaler wurden die kleinen Straßen, Erdrutsche versperrten den Weg. Mit Mühe grub ich mit bloßen Händen den Weg frei. Plötzlich aber, hinter einer Kurve, ein Gefühl der Frische: In der Mitte eines Tempels stand ein großer Brunnen ... Und dann verwandelte sich der Tempel in einen Wald.« Nach einer Pause sagte er: »Weißt du, Renato, wir haben unsere Augen daran gewöhnt, viele Dinge nicht zu sehen. Diese Träume sagen uns, daß es Zeit ist, woanders hinzuschauen. Sie laden uns ein, neue Erkundungen zu unternehmen.«
Mir war nicht auf der Stelle klar, was er genau meinte, aber seine Interpretation ließ mich nicht los. Jeden Morgen, bevor die Milch ausgeteilt wurde, trug ich fortan die Träume der vergangenen Nacht in ein Heft ein. Ich schrieb sie nieder, und das war's, ohne großartig darüber nachzudenken. Je mehr Träume ich aufschrieb, desto mehr, so schien mir, träumte ich. War es denn möglich, daß ich in den vorhergehenden Jahren nie geträumt hatte?
In den vorhergehenden Jahren hattest du den wütenden Traum von der »Revolution« gelebt, den du nun verlassen hattest, um dich privaten nächtlichen Träumen zu widmen: Etwas bescheiden, findest du nicht? Hattest du dich bereits früher für psychoanalytische Studien oder ähnliche Dinge interessiert?
Eine Zeitlang hatte ich mich an der Universität von Trento für die Kurse in sozialer Psychiatrie von Beppino Disertori begeistert und hatte auch ein Psychoanalyse-Seminar von Professor Franco Fornari besucht. Ich erinnere mich noch mit Wehmut an einige private Gespräche, in denen mich beide zu Lektüren animierten, die mich faszinierten. Dennoch war mir in meiner Zelle in Palmi auf seltsame Weise bewußt, daß Freud, Jung und Adler wenig mit den Erfahrungen zu tun hatten, die ich gerade machte.
In einem schönen Buch von Morton Schatzmann stieß ich dann auf die Senoi. Als ich davon las, wie dieses melanesische Volk mit den Träumen kommunizierte, blitzte eine Idee in mir auf. Was wäre, wenn wir uns im Knast von Palmi ebenfalls kurz nach dem Aufwachen unsere Träume der letzten Nacht erzählten und darüber diskutieren würden?
Ich sprach Nicola Valentino und Stefano Petrelli darauf an, und wir beschlossen, gemeinsam dieses Abenteuer zu wagen. Wir fragten, natürlich mit gewisser Diskretion, herum, ob noch andere Gefangene daran interessiert seien, Teil des Traum-Zirkels zu werden ...
War das Interesse groß?
Am Anfang kam nur von wenigen zurückhaltende Zustimmung, ansonsten kamen eher besorgte oder ironische Kommentare. Viele dachten, wir hätten einen Sprung in der Schüssel. In einem gewisse Sinne hinderte gerade der große Traum der Ideologie viele Genossen daran, ihren privaten Träumen Aufmerksamkeit zu schenken, denn die waren ja scheinbar bescheidener und frivoler. Sie schafften, wie du es ausdrücken würdest, den »Übergang« nicht.
Wir stießen aber auch nicht auf offene Ablehnung. So begannen wir zu sechst oder zu siebt, unsere nächtlichen Träume zusammenzutragen und sie uns während der Gemeinschaftszeit am Morgen zu erzählen. Es quoll eine beunruhigende Lava hervor, und der kleine Kreis gewann Tag um Tag neue Proselyten. Unser sexuelles Elend, die beeindruckende Breite sensorischer Deprivation, die Tausend existentiellen Einsamkeiten und der Verlust des Körpergefühls brachen gnadenlos aus uns heraus. Die Träume erzählten uns eine Geschichte, die wir bis zu dem Moment nicht beachtet hatten. Sie deutete auf eine Szenerie, über die wir viele Male hinweggeschaut hatten. Sie gaben die Bilder von verstümmelten Körpern preis, die an tausend Stellen verletzt und in schrecklicher Weise mit Narben bedeckt waren.
Eine wirklich außergewöhnliche Entdeckung, die meinen Horizont ohne Zweifel erweitert hat.
Sind eure selbstanalytischen Sitzungen außerhalb der Haft auf Resonanz gestoßen?
Pietro Fumarola, ein Soziologe und Forscher von der Universität von Lecce, hörte von dem, was wir machten, und schrieb mir eines Tages im Jahr 1985 und bot mir die Möglichkeit an, unsere Erfahrungen im Rahmen eines Seminars seinen Studenten zu erzählen. Er war es, der mir neue Perspektiven eröffnete und mich mit den Untersuchungen von Georges Lapassade über Bewußtseinsveränderung und Trance bekannt machte. Im Laufe unserer Untersuchungen stellten wir fest, daß die materiellen Haftbedingungen oft Gegenstand großer Aufmerksamkeit der Forscher waren, wohingegen kaum Untersuchungen zu Techniken der Bewußtseinsveränderung existierten, auf die die Gefangenen zurückgreifen, um in der Isolation und Entbehrung zu überleben. Als ich mit Petrelli und Valentino darüber sprach, faßten wir erneut den Entschluß, uns auf neue Wege zu begeben, die uns dann dazu führten, das Material zu sammeln und in einem Buch zu veröffentlichen.
Ein dicker Band, in dem ihr Hunderte von Zeugnissen über die obskursten und privatesten Aspekte des Lebens von Häftlingen zusammengetragen habt. Im Wald von Bistorco, was bedeutet der Titel?
Wald ist eine Metapher, um Zustände ohne Form zu beschreiben, die Vermischungen und Metamorphosen, die der Knast auslöst. Bistorco, mit den Suggestionen, die das Wort enthält - l'orco (der Menschenfresser, das Ungeheuer), la torchiatura (das Auspressen, z.B. von Wein oder Oliven), la bistorsione (die Verdrehung, Verwachsung z.B. von Pflanzen) - schien mir ein sehr geeigneter und alles umfassender Begriff.
Bis zum Buch dauerte es allerdings eine Weile. Da zogen erst einige Jahre der Selbstanalyse und eine endlose Lektüre von Haft- und Irrenhaus-Literatur, die in der verzweifeltsten Einsamkeit produziert wurde, ins Land. Es folgten Unterredungen mit Leuten, die in den Tiefen der Knäste vergessen wurden oder seit Jahrzehnten in den Sälen und Gummizellen der Irrenhäuser begraben waren. Und auch Gespräche mit Spezialisten wie dem Neurologen Giorgio Antonucci, der sich mit großer Intelligenz und Pietät gegen die psychiatrische Vorverurteilung und für das »aus den Fesseln lösen« dieser unglücklich Verstoßenen bemüht hat.
Während dieser endlosen Reisen wuchs Tag für Tag ein immer monströserer Berg von Schriften, Briefen, Gedichten, Bildern und Gekrakel jeder Art an. Der Berg wuchs ständig weiter, und momentan sind wir dabei, ein Archiv dafür zu organisieren. Ein Archiv der »irritierten Schriften«, wie wir es nennen, um durch das Wortspiel die soziale Sprengkraft deutlich zu machen.
Du hattest zuvor aber auch schon andere Bücher veröffentlicht.
Im Knast von Palmi hatte ich Wkhy geschrieben. Ein Buch mit einem unaussprechlichen Titel, nach der Bezeichnung Gottes in der hebräischen Religion. Es handelt sich um eine Parodie und eine Provokation. Eine Parodie auf die unmenschliche Sprache von Politik und Ideologie der gesamten radikalen Linken, die einige meiner Genossen immer noch benutzten, als es schon längst nichts Reales mehr gab. Ich wollte den Bruch und die semantische Explosion darstellen und zeigen, daß es sich um eine Sprache handelte, die ihre Grammatik und Syntax verloren hatte. Ein provokanter Schritt, um meine Geschichte und die der Roten Brigaden anders zu betrachten als immerfort rein ideologisch und abstrakt, ohne daß bislang im mindesten die menschliche und reale Seite des Lebens zum Vorschein kam, die die Leidenschaften, Widersprüche, Leiden und Freuden in sich barg.
Ist Wkhy auch eine Selbstkritik an der Sprache, die gerade auch du jahrelang in den Flugblättern der BR benutzt hattest?
In einem gewissen Sinne schon. Während meiner Zeit als Militanter der BR habe ich unterschiedliche Sprachen gesprochen, nicht nur die der Erklärungen, die leider am stärksten in der Erinnerung bleibt. Andererseits gab es in jenen Jahren einen spezifischen Hang, sich in dieser Weise auszudrücken. Die Sprache war, sosehr sie auch heute verschmäht wird, bestimmt nicht häßlicher und kryptischer als die der Parteizeitungen, der Unità oder von il Popolo.
Ein anderes Buch schrieb ich 1987: Das Alphabet von Esté. Daran erinnere ich mich gerne. Es ist die Geschichte von Sebastiano Tafuri, der sein ganzes Leben in einem Irrenhaus Neapels verbringen muß und sich schließlich, um »rauszukommen«, die Geschichten vom »gefiederten Flugtier« ausgedacht hat, die er mit sehr schönen Bildern versehen hat.
Aber während der letzten Jahre habe ich auch viel Kraft auf die Untersuchungen verwendet, um das »Projekt Gedächtnis«22.1 zu einem Ende zu führen.
Was beinhaltet das »Projekt Gedächtnis«?
Es ist ein erster analytischer Versuch, jene soziale Erscheinung, die der bewaffnete Kampf darstellte, mit einer gewissen Strenge anzugehen. Wir haben festgestellt, daß fast alle die Kämpfe der 70er Jahre ausführlich beschreiben, ohne genau zu wissen, von was sie reden, da seriöse und grundlegende Informationen fehlen. In der Praxis haben wir eine digitale Datenbank erstellt, die imstande ist, präzise und überprüfte Informationen über Organisationen, Schriften und Personen, die sich um den bewaffneten Kampf gruppierten, zu liefern. Die Studie ist vollständig und detailgetreu. Sie umfaßt das Feld, gegen das polizeilich ermittelt wurde, d.h. etwa 7000 Personen, die seit Anfang der 70er bis Ende der 80er in Verfahren wegen »Mitgliedschaft in einer subversiven Vereinigung«, »bewaffneter Bandenbildung« und »Aufstands« angeklagt wurden. Wir haben zu jedem einzelnen die grundlegenden Informationen zusammengetragen, wie Geburtsort, Alter im Moment der Anklageerhebung, den Schul- oder Universitätsabschluß, die Tätigkeit vor der Verhaftung, die Gruppe, in der sie aktiv waren, usw. Das Ergebnis dieser Arbeit ist eine komplette Röntgenaufnahme der sozio-politisch-kulturellen Zusammensetzung der linken subversiven Bewegungen Italiens.
Mit Queranalysen im Computer kann man z.B. herausfinden, welches die Gruppe mit dem höchsten Arbeiteranteil ist, welche die mit dem höchsten durchschnittlichen Bildungsgrad, oder welche Stadt in Italien die höchste Anzahl an Subversiven hervorgebracht hat ...
Eure Verlagskooperative heißt Sensibili alle foglie, sensibel gegenüber den Blättern, der Name ist ja schon Programm. Wieviele Leute arbeiten dort mit, und was wurde bisher produziert?
Die Kooperative wurde von Petrelli, Valentino und mir zusammen mit einigen Professionellen und Wissenschaftlern, die nicht im Knast sind, gegründet. Dem liegt die Idee zugrunde, ein reales Arbeitsfeld zu entwickeln, das uns auch erlaubt, so zu leben, wie wir es wollen; unsere Tätigkeiten kreisen um Chroniken und Analysen betreffs der existierenden Lebensproblematiken und die Möglichkeiten, diese anzugehen.
In den letzten zwanzig Jahren haben wir merkwürdige Welten durchlebt und die Tragik der Menschheitsgeschichte erblickt: jene Mauer, die die Existenz knechtet und ihr jedes Lächeln nimmt. Nun gut, wir haben uns entschlossen, ein Loch in diese Mauer zu graben, durch das die Stimmen dringen können, um vom Horror der Isolation zu berichten. In welcher Form auch immer diese sich manifestiert: geschlossene Anstalten, Einsamkeit, Vorurteile ...
Auf den Namen hat uns eine Frau gebracht, die seit Jahren auf der Straße oder in Irrenhäusern lebte und mir eines Tages schrieb: »Wer sensibel ist, kann daran zugrunde gehen, kann sterben. Ich bin sensibel gegenüber den Blättern, den Armen, dem Leid.« So erzählen unsere Bücher vom Inneren der Welt der Eingesperrten, Verschlossenen, Behinderten, den Transsexuellen, den Drogenkonsumenten ...
Für gewöhnlich hebst du die »Diskontinuitäten« deines Lebens hervor. Findest du aber nicht, daß es einen roten Faden gibt, von deiner vergangenen bewaffneten Rebellion gegen eine Gesellschaft, die dir »inakzeptabel« erschien, zu deiner gegenwärtigen Aufmerksamkeit gegenüber extremen Zeugnissen, der »Schwierigkeit zu leben«?
In einem gewissen Sinne hast du recht, aber es gibt auch tiefgreifende Unterschiede zur Vergangenheit. Die Probleme, die mich interessieren, sind immer jene, die aus dem Scheitern im sozialen Zusammenleben entstehen, aus dem Schiffbruch realer Personen in realen Machtkonflikten. Während ich aber vor Jahren davon überzeugt war, daß der grundlegende Zwang ökonomisch-politisch bedingt ist und es daher notwendig sei, in einer marxistischen Sichtweise auf die radikale Veränderung der Produktionsverhältnisse zu zielen, bin ich heute gegenüber persönlichen und tragischen Zwangssituationen sensibler, in denen wir alle in irgendeiner Weise leben. Heute besteht meine Aufgabe darin, den Individuen, die diese Gesellschaft bilden, »zuzuhören«. Nur zuzuhören, denn Lösungen habe ich, ehrlich gesagt, keine mehr anzubieten.
Ich höre den extremen Stimmen zu, da sie mir das Durcheinander der Zeiten und Ideen mit der größten Klarheit vermitteln. Es sind die Stimmen, die mir existentiell am nächsten sind, die mich täglich fragen, ob ich denn irgendeinen guten Grund weiß, weiterzuleben. Auch wenn ich ihnen darauf keine Antwort geben kann, fühle ich, daß es meine Aufgabe ist, ihnen aufmerksam zuzuhören, sie aufzunehmen und wiederzugeben.
Die Wahrheit ist, daß achtzehn Jahre Knast22.2 keine Abstraktion sind und zu einer realen Distanz führen. Ich empfinde zum Beispiel zu allen Personen, die in diesen Jahren meine persönliche und politische Geschichte analysiert und erforscht haben, eine sehr große Distanz. Genauso geht es mir mit dem, was ich in den Zeitungen lese oder im Fernsehen sehe. Hingegen bin ich berührt, von all jenen, die neben mir dieser Stille und Einsamkeit unterworfen sind, die leiden, schreien, sich verstümmeln, Selbstmord begehen. Von den Schreien, den Tausenden von Stimmen, der »Schwierigkeit zu leben«.
In den ersten Jahren Knast habe ich begriffen, daß ich tiefgreifende Veränderungen meiner Person zu akzeptieren hatte und radikale Entscheidungen treffen mußte. Anstatt in eine durch die Vergangenheit blockierte Rolle zu schlüpfen, beschloß ich mein Leben neu zu organisieren und mich dabei möglichst nah von alltäglichen neuen Erfahrungen leiten zu lassen. Anstatt mich vom Gefängnis auffressen zu lassen, zog ich es vor, es meinerseits Happen für Happen zu verspeisen.
Das heißt auch, daß ich, nachdem ich den Brigadistenrock einmal an den Nagel gehängt hatte, meine Haut als einzige Kleidung akzeptierte.
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