Inhalt | Mit offenem Blick |
22 »Im Wald von Bistorco« und | 24 Die Hoffnung |
Ende 1986 hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das jene begünstigt, die dem Terrorismus »abschwören«. Du hast mir daraufhin ein Interview für l'Espresso gegeben und dein Schweigen gebrochen, das exakt achtzehn Jahre gedauert hatte. In dem Interview hast du deine Position als jemand, der »nichts bereut, nichts abschwört und nicht unbeugsam« ist, definiert und einen Appell für die »Freiheitskampagne« lanciert, zugunsten einer »umfassenden politischen Lösung«, die ein »Überwinden« der bleiernen Jahre ermöglichen sollte.
Warum hast du dich genau in diesem Moment entschlossen, aus dem »Bezirk des Schweigens« herauszutreten und deine neue Sicht öffentlich zu machen?
Es gab keinen »Bezirk des Schweigens«, wie oftmals behauptet. Es gab - und es gibt immer noch - das gezielte Interesse, alle jene, die nicht abschwören oder zu Kreuze kriechen, in der Stille zu beerdigen. Wenn ich mich bis dato nicht öffentlich geäußert hatte, so lag es daran, daß es zwischen den zwei kanonischen Kategorien, Reuige und Abschwörer, keinen Raum zum Reden gab, oder nur einen scheinbaren Raum. Über unsere Vergangenheit zu sprechen hieß, sich automatisch in einen Katalog einsortieren zu lassen, in dem ich mich nicht wiederfinden wollte. Als dann das Gesetz zum Abschwören verabschiedet wurde, war damit Raum für all die entstanden, die es wie ich nicht in Anspruch nehmen wollten.
Sicher, damals waren wir alle gezwungen, uns damit auseinanderzusetzen: »Es handelt sich doch nur darum, sich von einer Erscheinung zu distanzieren, die nicht mehr existiert«, meinten einige. Aber die Forderung nach der Distanzierung, dem Abschwören der eigenen Vergangenheit war dahinter klar erkennbar. Man konnte nicht so tun, als ob man dies nicht sah. Das Gesetz sollte auch all jene erniedrigen, die die »Lossagung« unterschrieben.
Viele Genossen freundeten sich mit der Vorstellung an, daß in einer Welt, in der der Zusammenbruch der Ideologie mittlerweile mehr oder weniger vollständig war, diese Erniedrigung kein übertriebener Preis sei. Immerhin sollten sich ja einige Vorteile damit verbinden, und was für welche! Bald wäre so ziemlich alles in Vergessenheit geraten. War es also der Mühe wert, auf das bißchen Stolz zu bestehen?
Verschiedene Freunde forderten mich diskret auf, endlich pragmatisch zu sein. Die »Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen«. Aber ich las in jenen Tagen gerade Roland Barthes. Eine seiner bitteren Thesen traf mich sehr: Im Namen welcher Gegenwart haben wir das Recht, über unsere Vergangenheit zu richten?
Das war es: Im Namen welcher Gegenwart? Meine konnte mir sicherlich keine ausreichende Motivation dazu bieten. Also hörte ich ausschließlich auf meine innere Stimme. Warum sollte ich mich jemals von den Tagen »lossagen«, die sicher tragisch und gnadenlos waren, aber auch in jedem einzelnen Atemzug authentisch? Warum hätte ich einer Vergangenheit abschwören sollen, die ich mit meiner ganzen Person gelebt hatte? War der Knast vielleicht der richtige Ort, um eine erste vorsichtige, provisorische Bilanz zu versuchen?
Ich zog es vor, integer zu bleiben und mich den schwierigen Zeiten, die folgen sollten, zu stellen. Schwierig nicht einmal so sehr wegen der Härte des Knastregimes, sondern weil ich nach und nach viele von den Genossen sich trennen und lossagen sah. Mit ihnen hatte ich Hoffnung auf Veränderung, harte Erfahrungen, Glücksmomente und eine große Niederlage geteilt. Schwierig auch, weil die Gesellschaft, die den Sieg verwaltete, nicht die Kraft besaß, sich den Besiegten gegenüber ebenso großzügig zu zeigen, wie sie es sich selbst gegenüber war.
Wie stehst du zu deinen Exgenossen, die öffentlich »abschworen«, sich lossagten?
Ich hege weder Neid noch Groll. Ich besitze keine so festen moralischen Sicherheiten, daß sie mir erlaubten, Verwünschungen oder festgefügte Urteile auszusprechen. Einmal den organisatorischen Pakt gelöst, der uns eine gewisse Zeit aneinanderband, bleibt mir von der gemeinsamen Vergangenheit dennoch die Erinnerung an die Selbstlosigkeit, mit der sich ein jeder ohne Zögern in den Kampf stürzte.
Das nur vorneweg gesagt. Dennoch habe ich wenigstens zwei grundsätzliche Kritikpunkte am Abschwören. Der erste ist politischer Art. Der Abschwörer verleugnet die gemachte Erfahrung, ohne sie überwinden zu können. Er reduziert die soziale Komplexität des subversiven Aufbegehrens auf eine juristische Angelegenheit, von der in der Sprache eines Rechtsverdrehers geredet wird. Der Lossager ist in Wirklichkeit ein »Zusager«. In dem Sinne, daß er sich einer präzisen politischen Linie zuordnet, ihr zusagt, der der Ex-PCI, die auf dem Geschichtsexorzismus besteht. Die PCI hat immer die Existenz eines politischen Raums links von sich negiert und jede Kampfform, die dort entstand, kriminalisiert. Und mit dem Fördern des Abschwörens hat sie weiterhin konsequent jene Position beibehalten und alles getan, um zu verhindern, daß man in freier und tiefgehender Weise über die Geschichte der siebziger Jahre reden kann. Jene Geschichte der klassenorientierten Linken und des Raumes, der sich links von der Kommunistischen Partei eröffnet hatte.
Die zweite Kritik ist kultureller. Es ist überraschend, mit welcher Leichtigkeit die bürgerliche Errungenschaft der Gedankenfreiheit über Bord ging, als der Gesetzesentwurf zum Abschwören durchgebracht wurde. Das Gesetz verlangte in der Tat, daß das eigentliche Abschwören »ausgesprochen« werden sollte: wo doch die westliche juristische Kultur dem Angeklagten immer das Recht zu schweigen eingeräumt hatte. Ein Recht, an dem eine zivilisierte Gesellschaft zu erkennen ist, ebenso wie am Recht auf das freie Wort. Und so wird, wer wie ich das Abschwören nicht aussprechen wollte, weiterhin schwer bestraft. Bestraft für sein Schweigen. Es ist die Rückkehr zu den Hexenprozessen.
Das Gesetz zugunsten der Reumütigen und der Abschwörer hat in der Tat jede Verbindung zwischen Straftat und Strafe aufgelöst. Denn während die, die sich gegen die Praxis des Abschwörens entschieden, ihre Strafe wie Schlagsahne auf den Kuchen bekamen und in ihrem Umfang zunehmen sahen, wurden die anderen maßlos belohnt. Geständige Angeklagte, die wegen zahlreicher Bluttaten vor Gericht standen, kamen nach einer Handvoll Jahren wieder raus. Die Rolle des Richters über Recht und Unrecht steht mir nicht zu, aber können die Väter und Garanten diese »Rechtsstaates«, von dem alle behaupten, daß sie ihn schätzen und verteidigen, ruhigen Gewissens schlafen?
»Die Verantwortlichkeit für die Geschichte des bewaffneten Kampfes in Italien ist politisch kollektiver Natur. Sie muß auf politischem Terrain gelöst werden. Damit meine ich, daß die Situation aller wegen des Vorwurfs der bewaffneten Bandenbildung einsitzenden Gefangenen, der Exilierten sowie die in diesem Zusammenhang mehr als 20000 Ermittlungsverfahren allgemein einer politischen Lösung harren.« Mit diesen Worten hast du in dem Interview im Dezember '86 die »Freiheitskampagne« initiiert.
Dieses Vorhaben hat eine individuelle Lösung deines Falles sicher nicht begünstigt?
Als alle Angeklagten im Moro-III-Prozeß in den Knast von Rebibbia verlegt wurden, habe ich Mario Moretti wiedergetroffen. Wir hatten uns genau zehn Jahre lang nicht mehr gesehen, also ab dem Zeitpunkt meiner Verhaftung in der Via Maderno. Inzwischen hatte sich viel verändert. Weder er noch ich waren noch dieselben, die sich Ende der 60er Jahre, im Mailand der großen Kämpfe, des außerparlamentarischen Brodelns, der Bomben auf der Piazza Fontana kennengelernt hatten. Trotz der harten Auseinandersetzungen, die es zwischen uns gegeben hatte, und der vielen Geschichten, die diese noch zusätzlich würzten, war die Begegnung herzlich und sehr intensiv. Um die gegenseitigen Ansichten zu begreifen, reichten ein Blick, eine Umarmung und wenige Worte.
»Die Geschichte der BR ist zu Ende, auch wenn sie noch nicht offiziell abgeschlossen wurde. Es liegt an uns, einen Schlußpunkt zu setzen. Sollen wir zusammen daran arbeiten?« Das war, was wir einander sofort sagten und wir kamen sofort überein, uns unverzüglich daran zu machen. Piero Bertolazzi, der wie wir ebenfalls aus der ersten Mailänder Brigade kam, war der gleichen Meinung. Und nach und nach kamen dann Maurizio Jannelli, Marcello Capuano, Barbara Balzani, Anna Laura Braghetti, Prospero Gallinari und viele andere hinzu.
Was ließ euch davon ausgehen, daß die Geschichte der BR wirklich zu Ende war wo doch außerhalb des Knastes irgend jemand noch weiter schoß und tötete und auch im Knast die sogenannten »Unbeugsamen« nicht aufhörten, den bewaffneten Kampf zu glorifizieren?
Die Tatsache, daß irgend jemand vom Gegenteil überzeugt war, war noch lange kein Grund, die Augen vor dem »Ende der Welt«, zumindest jener Welt, auf die wir uns bezogen, zu verschließen. Die Umkehrung jener Situation, vor der wir zu stehen glaubten, als wir uns in eine bewaffnete Auseinandersetzung hineinstürzten, nahm jeden Tag unversöhnlichere und grausamere Akzente an. Das politische System des Ostens brach in erbärmlicher Weise durch Selbstauflösung zusammen. Die kommunistischen Parteien des Westens hielten Wettrennen um Namens- und Fahnenwechsel ab. Italien hatte während der letzten zehn Jahre die radikalste sozioökonomische Transformation der Nachkriegszeit durchgemacht, und es hatten sich sowohl die sozialen und politischen Subjekte der Kämpfe verändert, aus denen die BR entstanden waren, wie auch die Voraussetzungen für unsere revolutionäre Strategie. Diese Transformationen anzuerkennen war eine historische Notwendigkeit, die ebenso für mich galt wie auch für all jene, die sich ernsthaft der Frage stellten, was sich mittlerweile verändert hatte.
An diesem Punkt beinhaltete das Wort »unbeugsam« keinerlei soziale Realität. Es war ein rhetorischer Trick. Inwiefern hätte man »gebeugt« werden sollen? Im Sinne der Macht, zum Abschwören. Entsprechend war man nicht mehr unbeugsam, wenn man abschwor. Eine Absurdität!
Was blieb von den alten strategischen Postulaten, außer einem Trümmerhaufen? Welchen Sinn konnte es haben, sich an fortdauernd postulierte Unvereinbarkeiten zu klammern?
Es war schon 1986 offensichtlich - und ist es heute noch viel mehr -, daß kein aus dem Knast entlassener Genosse der BR daran denken könnte, wieder so zu handeln wie zuvor.
Als wir davon sprachen, was am Spiotta-Hof geschehen war, hast du gesagt, daß du 1975, zum Zeitpunkt des Todes deiner Frau, noch geglaubt hast, daß der bewaffnete Kampf zu einem »Sieg« führen könnte. »Zumindest bis dahin, daß das politische Regime des Italiens der Nachkriegszeit in eine Krise gestürzt werden könnte«, sagtest du. Wann hast du bemerkt, daß dieses Ziel unerreichbar war und eure Aktionen kein erfolgreiches Ende haben würden?
Kurz nach der Moro-Entführung, Anfang der 80er Jahre. Damals war das Konzept des bewaffneten Kampfes in die Krise gekommen, und zwar genau durch jenes Parteiensystem, gegen das wir gekämpft hatten. Ich begriff, daß unser Kampf nicht in der Lage gewesen war, jenen monolithischen, wenn auch diversifizierten Machtblock anzukratzen. Der Ausgang der Moro-Aktion barg erste deutliche Anzeichen dieser Realität. Das sehr enge Bündnis zwischen DC und PCI, das in jenem Moment verwirklicht wurde, war das Anzeichen für die Fähigkeit des politischen Blocks, sich gegen die sozialen Pulsschläge als resistent zu erweisen.
Die Roten Brigaden waren unfähig, sich jener Situation zu stellen. Und die Widersprüche die zu ihrem Zerfall führten, traten immer deutlicher hervor: auf der einen Seite die Akkumulation von »Militärpersonal« und auf der anderen die Unfähigkeit, den Punkt definieren zu können, an dem man ansetzen mußte, um das politische System tatsächlich an der richtigen Stelle zu treffen.
Du warst also schon kurz nach der Moro-Affäre davon überzeugt, daß die Roten Brigaden unfähig seien, die Niederlage zu vermeiden. Warum hast du dich dann nicht schon früher in einer öffentlichen und entschlossenen Erklärung von ihnen abgewandt?
Ich habe viele interne Papiere geschrieben, in denen ich darstellte, daß bei dieser Ausrichtung des bewaffneten Kampfes kein positiver Ausgang mehr zu erwarten sei. Als Kinder des 20.Jahrhunderts hatten die Roten Brigaden so keinerlei Existenzberechtigung mehr, und jeder Rückgriff auf die Nostalgie sollte endlich aufgegeben werden. Der Tod war der langsam voranscheitenden Agonie eindeutig vorzuziehen.
Ich möchte aber noch einmal klarstellen: Ich möchte mich nicht aus der Verantwortung stehlen. Ich war an der Bildung der Stadtguerilla beteiligt, war Teil des bewaffneten Kampfes, von dem man sich nicht so einfach verabschieden kann, als wäre weiter nichts gewesen. Es ist nicht so, daß man heute davon überzeugt ist und morgen dann ganz unbefangen sagen könnte: »Schaut mal, Leute, also ich sehe jetzt alles ganz anders, und also sage ich Tschüß und verschwinde.« Ich glaube, ich muß nicht viele Worte verlieren, um zu erklären, daß dies meinerseits ein unverantwortliches Kasperletheater gewesen wäre.
Ich habe mich bis heute, 1993, noch nie so verhalten. Und genau deshalb sitze ich immer noch im Knast. Ich leugne weder meine Vergangenheit noch meine Verantwortlichkeit für Angelegenheiten, die nicht bagattellisiert werden können. Einst versuchte ich zwischen den in die bewaffnete Auseinandersetzung verwickelten Kräften zu vermitteln, einen Weg der Entdramatisierung zu finden. Es ist wie bei einem fahrenden Auto, es reicht nicht, das Steuer loszulassen, um es anzuhalten, es bleibt auch weiterhin in Bewegung und wird eine Reihe von Desastern provozieren. So ist es zum Teil auch geschehen.
Man konnte nicht - und man kann nicht - Leute, die in diese Geschichte verwickelt waren und im Knast landeten, fallenlassen. Meine Geschichte mit den Roten Brigaden wird in dem Moment abgeschlossen sein, sobald ich die Freude haben werde, alle Genossen, die in das Abenteuer der 70er Jahre verwickelt waren, außerhalb des Knastes und aus dem Exil zurückgekehrt wiederzusehen.
Aber in einem Interview vom März '92 hast du mir gesagt: »Das, was ich von mir gerne zu verstehen geben würde, ist, daß ich mittlerweile seit vielen Jahren das Problem der Roten Brigaden aus Lichtjahren Entfernung betrachte, aus einem Abstand, mit dem ich auch die Situation der Bengalen untersuche, wenn ich mich mit den Problemen der Migration beschäftige.« Gibt es kein Problem zwischen diesem Abstand und deinem Einsatz für eine Kampagne, die eine »generelle politische Lösung« verfolgt?
Ich sehe darin keinen Widerspruch. Die Aktionen mit ihrem revolutionären Credo sind die eine Sache, eine andere ist es, sich darum zu bemühen, unsere Niederlage mit ein wenig Würde abzuschließen und das Leben jener Genossen zurückzuerobern, die schon genug für die Analysefehler einer ganzen Generation bezahlt haben, die der Sünde des Dogmatismus verfallen war, aber oft auch sehr großzügig gewesen ist ...
Die »Analysefehler« eurer Generation haben viele Tote verursacht.
Wieviele Tote haben die weitaus schlimmeren Fehler der Generationen unserer Väter und Großväter verursacht?
Man sollte nicht einseitig aufrechnen, um solcherart Bilanzen zu ziehen. Der Vorzug der verfehlten Revolution liegt im übrigen darin, nicht die Mängel einer gelungenen Revolutionen in sich zu bergen. In irgendeiner Weise haben alle gelungenen Revolutionen ihre Versprechen verraten, während die gescheiterten nur in ihren analytischen Annahmen geirrt haben können. Eine Schuld, die mir alles in allem weniger drückend scheint.
Andererseits stellt die unbekümmerte Hoffnung, mit der sich ein Teil meiner Generation in das riskante politisch-ideologische Abenteuer gestürzt hat, auch einen positiven Wert dar. Das muß uns ab einem gewissen Punkt anerkannt werden. Ich kann ohne Scham heute sagen: Ich bedaure mich und meine besiegte Generation ... Ich bedaure, daß mir und meiner Generation kein Raum gelassen wurde, um unsere Vorstellung, die wir als Jugendliche hatten, leben zu können. Wir konnten nicht so leben, wie wir wollten, da die Generation vor uns den Weg brutal versperrt hatte und von uns die absolute Anpassung verlangte oder zu krepieren. So starben einige mit der Waffe in der Hand, viele mit Heroin in den Venen, und die Mehrheit lebte, indem sie den Wunsch nach Veränderung in sich selbst abgetötet hat.
Im Knast habe ich sehr viele Briefe von Gleichaltrigen bekommen, die mit unendlicher Bitterkeit über sich selbst reflektieren, gerade weil sie ein Bewußtsein über die umfassende Generationsniederlage haben, die kein individueller Erfolg ausreichend aufwiegen kann.
Was unsere spezifische Niederlage betrifft, die der BR, handelt es sich um eine Niederlage, die, ich wiederhole, ab Ende der Siebziger absehbar war und die ich 1986 öffentlich anerkannt habe. Sicher, für viele Genossen war die Vorstellung vom Ende der Roten Brigaden indiskutabel. 1986 setzte ich mich so wieder für etwas ein, daß ich bereits 1970 gemacht hatte: formell durch eine klare Entscheidung eine Erfahrung zu beenden, die aus Trägheit verlängert und dafür schon unerbittlich zur Rechenschaft gezogen wurde.
Und wer zu dem Zeitpunkt damit nicht einverstanden war, wurde sehr schnell von den Fakten davon überzeugt, seinen Irrtum einzusehen.
Wie erklärst du dir, daß alle Appelle für die »Überwindung« der Jahre des Terrorismus ins Leere gelaufen sind?
Anfänglich entstand eine gewisse Diskussion um den Begriff »Diskontinuität«. Rossana Rossanda, Mario Tronti, Ludovico Gemoyat, Franco Fortini und einige wenige andere sagten mehr oder weniger: »Es ist ein umfassender Begriff, er kann dazu dienen, die soziale Wahrnehmung der Ereignisse besser zu definieren.«
Es schien ein guter Anfang, aber leider blieb die Debatte dabei stehen. Die Professionellen unter den Politikern und Intellektuellen haben sich akkurat von diesem Problem ferngehalten. So blieben als Meinungsmacher nur die zirpenden Grillen und jene, die Francesco Cossiga einprägsam zu »Witwen des Notstands« deklariert hat.
In Frankreich und in Deutschland haben sich Persönlichkeiten wie Jean-Paul Sartre und Heinrich Böll in die Debatte um den bewaffneten Kampf eingemischt. Die italienischen Intellektuellen hingegen haben, abgesehen von dem isolierten Leonardo Sciascia, geschwiegen: eine Vorsicht, die vielleicht der Angst vor der Repression geschuldet war?23.1
Ich weiß nicht, ob Angst der angebrachte Schlüssel zur Analyse sein kann. Persönlich sehe ich in ihrer Abwesenheit niedere und tiefere Beweggründe. Irgend etwas, das wenig mit der bewaffneten Ausdrucksform der siebziger Jahre zu tun hat, sondern viel weiter zurückliegt und mit der historischen Entwicklung in Italien zusammenhängt. In unserer Gesellschaft, in der eine richtige bürgerliche Revolution ausblieb und es nicht einmal eine umfassende industrielle Revolution gegeben hat, sind die Intellektuellen der Macht des »Prinzen«, also der politischen Parteien, untertan geblieben. Sie haben die Tradition beibehalten, sich zu Meßdienern und Mägden zu machen. Die traurige Erbschaft einer von Machiavelli gezeichneten Kultur, verflüssigtes Gift, das jedes Wagnis einer davon divergierenden Vorstellung an der Wurzel absterben läßt.
Als die Regierung in Frankreich Anfang der siebziger Jahre die Gruppe Gauche Prolétarienne illegalisierte, verteilten viele Intellektuelle, Sartre vorneweg, La Cause du Peuple, die verbotene Zeitung. Im wesentlichen sagten sie: »Wenn ihr jede Stimme, jede Utopie, die andere Gesellschaftsmodelle propagiert ersticken wollt, dann verhaftet uns gleich mit.«
Das war, dessen bin ich mir sicher, eine wichtige Lektion und vor allem eine heilsame Intervention für die französische Gesellschaft. Dieses Umfeld von Intellektuellen stellte eine Art Toleranzkissen dar. Es dämpfte die soziale Anspannung zwischen einem starren politischen System und den neuen, subversiven extremen Bewegungen. Das ist etwas, was es in Italien nicht gegeben hat.
Das scheint mir der Punkt zu sein: Unsere Intellektuellen haben sich weder Anfang der 70er noch Ende der 80er Jahre getraut, autonom von den Vorstellungen der Parteisekretäre zu handeln. Eine große Abwesenheit, die viel Schaden verursachte und die in all den Betrachtungen gerne übersehen wird.
Sciascia hatte den Mut gehabt, sich gegen den Strom zu äußern.
Seine Stimme war, wie du selber schon sagtest, fast völlig isoliert. Vor vielen Jahren, wenn ich mich richtig erinnere, zu Zeiten der Sossi-Entführung, verursachte er einen riesen Wirbel, als er verkündete, daß bei einer intellektuellen unvoreingenommenen und politisch redlichen Interpretation unserer Absichten den BR zugestanden werden müßte, in Übereinstimmung der leninistischen Auffassung zu handeln. Die brave Linke, vollauf damit beschäftigt, uns zu kriminalisieren und herabzuwürdigen, um die eigenen Kompromisse zu überdecken, hat ihn in der Luft zerrissen.
Sciascia wurde isoliert und zum Schweigen gebracht. Und das ist ein schwerwiegender Fehler gewesen. Wenn damals anstatt der wahnwitzigen Bannflüche eine ruhigere und tiefgreifendere Reflexion über die Forderungen nach sozialer Veränderung, die die BR auf ihre Weise forcierten, überwogen hätte, wäre das Schicksal der Linken vielleicht besser verlaufen. So aber, auch weil man nicht auf die Worte des aufgeweckten sizilianischen Schriftstellers gehört hat, ist jeder stur seinen Weg weitergegangen, der, wie man später gesehen hat, nicht nur für uns eine Sackgasse war.
Ich will auch an Rossanda erinnern, die die Notwendigkeit gesehen hat, sich den von uns aufgeworfenen Fragen zu stellen. Sie hat es auf ihre Art getan, sie kam ein Dutzend Mal in den Knast, um mit mir zu reden und eröffnete in der Zeitung il manifesto eine Debatte über unseren Appell der Freilassung. Ein Versuch, der auch vom Schweigen beerdigt wurde. Soweit sie mir erzählte, scheint sie zu einem pessimistischen Schluß gelangt zu sein, der sich nicht sonderlich von meiner Einschätzung unterscheidet.
Warum zelebrieren die Intellektuellen dieses Schweigen über die durch den Brigadisten gewonnenen Erfahrungen? Warum diese offensichtliche Schwierigkeit der gesamten Linken, sich einer Diskussion über die siebziger Jahre zu stellen? Meine Interpretation habe ich gegeben. Es wäre interessant, die Antworten von Rossanda und den wenigen anderen kennenzulernen, die bereit sind, unseren Rufen in der Wüste Aufmerksamkeit zu schenken.
Alberto Astor Rosa hat kürzlich behauptet, daß du, obwohl du »die Unabwendbarkeit der Niederlage und die darüber hinausgehende Undiskutierbarkeit der terroristischen Lösung« zugegeben hättest, noch keine »offene Anerkennung des politischen Fehlers, der von Anfang an in der Strategie der Brigadisten enthalten war«, geäußert hättest. Hat er unrecht?
Eine ähnliche Frage hat Astor Rosa, glaube ich, auch seinen Exgenossen der PCI in dem Moment gestellt, als sie sich anschickten, Namen und Fahne zu wechseln. Und mir ist nicht bekannt, daß irgend jemand ihm Genugtuung verschaffte, indem er eine »offene Anerkennung des politischen Fehlers, der von Anfang an in der Strategie der Kommunistischen Partei enthalten war«, zum besten gegeben hätte.
Die von Astor Rosa aufgeworfene Frage könnte zweifellos Gegenstand einer interessanten Diskussion werden, wenn die Forderung aufgegeben würde, Hierarchien zwischen den Ausgangspositionen festzulegen. Es wäre eine anspruchsvolle Diskussion, an deren Vertiefung ich persönlich interessiert bin, sobald mein Wort endlich von der Hypothek der Knastsituation entkoppelt wäre.
Aber von mir lediglich eine öffentliche Verdammung der »Strategie der Brigadisten« zu verlangen, scheint mir auf ein politisches Wegegeld und letztendlich wieder auf das Abschwören hinauszulaufen.
Im Sommer '91 hat der damalige Präsident der Republik, Francesco Cossiga, erklärt, dich begnadigen zu wollen, als »emblematischer Akt, um die Jahre des Notstands abzuschließen und die Ära der Reformen zu eröffnen«. Aber nach langem Hin und Her ist die Initiative gescheitert. Wie hast du jene Zeit von Wortstreitereien und Polemiken über dein Schicksal verfolgt?
Es handelte sich um einen gemeinen Akt Willkür. Ich hatte in einem Brief an Minister Claudio Martelli - um den er mich nach einen Besuch in Rebibbia gebeten hatte - gefordert, ein kollektives Problem anzugehen, das alle politischen Gefangenen und Exilierten betraf. Ich hatte darauf bestanden, meine persönliche Lage nicht mit der allgemeinen »politischen« Angelegenheit zu verwechseln. Zurück bekam ich aber ein Gnadenangebot. Eine Gnade, um die ich niemanden gebeten hatte. Ich wurde zum Objekt einer Diskussion, die mit mir und unseren Problemen nichts zu tun hatte.
Cossiga hat aber erstmals die politische Natur des bewaffneten Kampfes anerkannt, indem er einen Gnadenerlaß anbot. Du hast in einem Beitrag zu einem Kongreß über die Frage der Inhaftierten geschrieben, daß du mit Oreste Scalzone und Toni Negri einer Meinung seiest, daß »die so hart attackierten Sätze des Präsidenten Cossiga im Grunde sehr begrüßenswert sind«.
Das stimmt. Ich habe den vollständigen Text seiner Äußerungen zu dem Thema aufmerksam gelesen, und ich muß sagen, daß es mir schien, als könnte man sie weitgehend teilen. Er begann damit, die Entscheidung des Gerichts von Cagliari zu kritisieren mir nicht die »Fortsetzung«23.2 der Vergehen, wegen derer ich verurteilt wurde, zu gewähren: eine Gewährung, die eine Verkürzung der Strafe und meine Haftentlassung mit sich gebracht hätte.
Es sei nicht bewiesen, daß jene Vergehen »im Rahmen eines einzigen verbrecherischen Plans« begangen worden seien, hatte jenes Gericht geurteilt. Eine lachhafte Begründung, hat Cossiga entgegnet, da ich gleichzeitig als Chef der Roten Brigaden ansehen wurde. Eine unhaltbare Begründung, fügte ich hinzu, da es mindestens drei weitere Genossen des historischen Kerns der Roten Brigaden gab, deren juristische Position mit meiner identisch war, denen die »Fortsetzung« von anderen Gerichten anerkannt wurde und die mittlerweile seit einiger Zeit frei waren.
Gemäß der Ansicht des Präsidenten hätte der Gnadenerlaß also vor allem eine offensichtliche Übertretung der Gleichheitsprinzipien wieder ausgleichen sollen. Und bis zu diesem Punkt waren auch bereits Ugo Pecchioli23.3 und Ferdinando Imposimato, einst Meister im Kampf gegen die BR, in den Spalten der Unità vorgerückt.
Wie erklärt sich deiner Meinung nach diese Ungleichheit der Behandlung?
Die Erklärung, die mir einfällt, ist einfach. Wenn man von mir spricht, geht es nicht um den Menschen Curcio, sondern um den Symbolgehalt der mit dem Namen Curcio verbunden ist. Meine Person ist in ein Symbol für die Roten Brigaden und für den »Terrorismus« verwandelt worden. Und so erhält ein juristisches Urteil gegen mich immer einen politischen Symbolcharakter. Andererseits könnte es auch sein, daß die Richter, die über mich urteilten, nicht für die Politiker die Kastanien aus dem Feuer holen wollten.
Aber kehren wir zu den Äußerungen Cossigas zurück. Der Diskurs, über den er seinen Gnaden-Vorschlag begründete, war auch aufgrund anderer Aspekte wichtig. Er hat einen neuen Blick auf die Geschichte des bewaffneten Kampfes geworfen und ihm eine soziale und politische Dimension zuerkannt. Er hat erklärt, daß sie uns kriminalisiert hätten, weil sie uns besiegen mußten, daß man aber jetzt, wo wir besiegt worden seien, die Bilanz ziehen müßte: Jeder sollte sich seiner eigenen Verantwortlichkeit besinnen, um somit zu einer politischen Lösung zu gelangen. Dies stimmte mit dem überein, was ich seit sechs Jahren sagte.
Die Männer der Macht hatten immer behauptet, der bewaffnete Kampf sei keine politische, sondern eine kriminelle Angelegenheit gewesen. Cossiga hingegen, das muß man anerkennen, hat den Mut gehabt eine ehrlichere und tiefer gehende Interpretation vorzuschlagen, eine unverzichtbare Voraussetzung, um eine ernsthafte Diskussion über die siebziger Jahre zu eröffnen, die bisher niemand unter den Politikern und Intellektuellen gewollt hat.
Minister Martelli, der Cossigas Gadenerlaß hätte gegenzeichnen müssen, sagte, eine Gewährung der Gnade sei unmöglich, da du keine Anzeichen von Reue zeigtest.
Martelli hat auch Cossiga einen Brief geschrieben, in dem er die Ablehnung des Gnadenerlasses begründete. Nachdem er mir eine lange »gereifte intellektuelle Distanz zu den Ereignissen« attestierte, merkte er in dem Papier an, daß mein Brief, den ich ihm am 29. Juli 1991 geschrieben hatte, an einem seiner Meinung nach entscheidenden Punkt »einzigartig zurückhaltend, um nicht zu sagen stumm« blieb: Dies betraf die Ablehnung einer »moralischen Legitimität, die den Rückgriff auf terroristische Mittel im politischen Kampf erlaubt«. Daß ich nichts abschwören wollte, entpuppte sich somit für Martelli und Konsorten als unüberwindbares Hindernis.
Persönlich gestehe ich keiner Macht die Autorität zu, mich zum Abschwören zu zwingen. Ich wundere mich, daß dies weltliche Menschen wie der ehemalige sozialistische Minister Guardasigilli von mir verlangten. Und das heute, an der Schwelle zum Jahr zweitausend.
Cossiga hat dich dann am 25. November 1992 in Rebibbia besucht: Er hat mir anvertraut, daß das Treffen »dramatisch im wahrsten Sinne des Wortes« gewesen sei und daß du ein Mann seiest, für den er einen »großen Respekt« hegt. Welche Bedeutung hat jenes Gespräch gehabt, und was habt ihr euch gesagt?
Von meinem Standpunkt aus gesehen, besaß jene Zusammenkunft eine gewisse »Dramatik«, da sich von Angesicht zu Angesicht die Besiegten zweier Lager gegenüberstanden. Cossiga war es nicht gelungen, einen Versuch voranzubringen, der die Überwindung einer Phase der Sozialgeschichte Italiens erlaubte. Ich stand ihm als Besiegter in der Funktion eines ehemaligen Anführers der Roten Brigaden gegenüber und als nicht erhörter Prediger, für die Geschichte der siebziger Jahre eine kollektive politische Verantwortung zu übernehmen.
Wir sprachen länger als eine Stunde, allein, in einem den Verhören der Staatsanwälte vorbehaltenen Raum. Ich glaube, daß Cossiga mir in irgendeiner Weise persönlich die miese Angelegenheit von der ausgebliebenen Gnade »erklären« wollte. Er sagte, daß er im Sommer 1991 - nach dem für mich nachteiligen Urteil des Gerichts von Cagliari - nicht nur aus Aspekten der »Gleichheit« die Absicht hatte, mich zu begnadigen, sondern auch aus Gründen des »politischen Realismus«. Die Gnade wäre seiner Absicht nach ein erster konkreter Schritt gewesen, eine »historisch überholte Zeitspanne zu überwinden« und die ungerechten Reste einer nachwirkenden Notstandsgesetzgebung zu beseitigen. Er hat mir auch den in einigen Sektoren der öffentlichen Meinung vorhandenen Widerstand gegen den Gnadenerlaß erläutert - im besonderen seitens der Vereinigungen der Angehörigen der Opfer. Dieser wurde allerdings aufgewogen durch die Zustimmung seitens der Führungsspitze der Polizei, der Cara-binieri und eines guten Teils der Staatsanwaltschaft. Er war zu dem Schluß gelangt, daß die Verhinderung des Gnadenerlasses »Hindernissen« geschuldet sei, »die aus dem Innern der Politik kamen«.
Ich habe daraufhin Cossiga zu verstehen gegeben, daß mir das auf einer Versammlung in Bologna vom Generalsekretär der PDS, Achille Occhetto, gegen den Erlaß ausgesprochene »Nein« keineswegs entgangen sei. Und er bestätigte mir gegenüber, daß für einige Militante jener Partei unsere vergangene Kampferfahrung wohl das darstellte, was sie sich heimlich immer gewünscht, aber nie offen getraut hatten.
Habt ihr nur über den Gnadenerlaß geredet?
Auch über die Roten Brigaden und die Moro-Entführung. Cossiga hat noch einmal unterstrichen, was er gerade der Wochenzeitung Panorama gegenüber erklärt hatte, daß alle Verschwörungstheorien und Unterwanderungsphantasien »davor flüchten zuzugeben«, daß »die BR eben die BR waren«, und keine an Fäden geführten Marionetten. Außerdem erklärte er, daß der Begriff Terrorismus nicht auf die bewaffnete Erscheinung in der Linken paßt, wegen ihrer sozialen Breite und Vorgehensweise. Besser sei der Begriff der »linken Subversion«. Er war davon überzeugt, daß die BR ein »politisches Subjekt« gewesen sind. Alles Dinge, denen ich natürlich nur zustimmen konnte.
Dann, in bezug auf Moro und in Erwiderung einer Äußerung in l'Espresso, in der ich erklärte, ich hätte während der letzten Tage der Entführung den Eindruck gehabt, daß der Willen der Regierung, das Leben des Staatsmannes zu retten, endgültig verschwunden war, äußerte Cossiga eine andere Ansicht. Seiner Meinung nach hatten die für den Tod Moros verantwortlichen Brigadisten nichts von dem verstanden, was sich hinter den Kulissen der DC abspielte. Er sagte zu mir: »Ich habe den Eindruck, daß sie nicht einmal die Zeitungen gelesen haben. Wenn sie sie gelesen hätten, hätten sie mitbekommen, daß genau an dem Tag, an dem Moro getötet wurde, eine Versammlung der christdemokratischen Führung stattfinden sollte, in der sich wahrscheinlich eine Orientierung auf irgendwelche Verhandlungen durchgesetzt hätte.«
22 »Im Wald von Bistorco« und | 24 Die Hoffnung |
Inhalt | Mit offenem Blick |