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3 In Genua: Russische Feuer im Zanzibar



Schauen wir uns dieses Kapitel an. Was beinhaltete deine Zeit in Genua?

Ein etwas blödes Jahr als Herumstreuner, in dem ich mich auf einem sehr schmalen Pfad bewegte. Ich hätte auch leicht abrutschen können. Doch das geschah letztlich nicht.

Als ich in Genua ankam, war es Abend. Ich hatte den aufdringlichen Österreicher abgeschüttelt, meiner Mutter die Nachricht geschickt und saß nun auf einer Bank am Bahnhof Principi. Ich übernachtete dort und war überzeugt, daß ich am nächsten Tag eine Arbeit als Kellner finden würde.

Am darauffolgenden Tag sah ich aber schmutzig und unrasiert aus, meine Kleidung war zerknittert und mein Gesicht aufgedunsen. Ich stellte mich in einigen Lokalen vor, und alle antworteten mir: »Nein danke.«

So schlief ich auch die zweite Nacht auf der Bank. Und auch die dritte. Ich hatte einen Bärenhunger, nicht eine Lira in der Tasche und wußte überhaupt nicht, was ich nun tun sollte.



Verspürtest du nicht die Versuchung, nach Hause zurückzukehren?

Nein, ich wollte auf keinen Fall aufgeben. Schließlich kam mir wie so oft in der folgenden Zeit der Zufall zur Hilfe.

Ich lag auf der Bank, und ein Jugendlicher näherte sich mir: »Ich beobachte dich schon seit drei Nächten. Du siehst schlecht aus. Wenn du Hunger hast, wenn du etwas trinken willst, komm, ich lade dich ein.« Ich war mißtrauisch, doch der Hunger beseitigte jeden Zweifel. Er brachte mich in eine kleine Trattoria hinter der Piazza dell'Annunziata. Ich aß wie ein ausgehungerter Wolf, und wir wurden Freunde.

Er war von zu Hause abgehauen, da er seinen Vater haßte. Er lebte von der staatlichen Nothilfe und kleineren Jobs. Er war auf dem besten Wege Alkoholiker zu werden. Er schluckte alles. Am liebsten das sogenannte Russische Feuer, eine Art roter Grappa mit sehr hohem Alkoholgehalt. Nachts lief er durch Genua, da er bei einer Hure wohnte, die zu Hause arbeitete.

Als es dämmerte, brachte er mich in die Wohnung der jungen Frau. Ich wusch mich, ordnete meine Sachen und ließ mich dort ebenfalls häuslich nieder, als wäre es die normalste Sache der Welt.



Konntest du eine Arbeit finden?

Eine Woche lang suchte ich erfolglos. Mein Aussehen war damals wohl nicht gerade vertrauens erweckend. Irgendwann hat mir mein neuer Freund dann ausgeredet, unbedingt als Kellner arbeiten zu wollen: »Welcher Zwang besteht denn zu arbeiten? Es gibt doch noch andere Möglichkeiten, sich durchzuschlagen.« Seine Methode waren kleinere Diebstähle und Betrügereien, halsabschneiderische Kreditvergaben, Zigarettenhandel ...

Nachts waren unsere Stützpunkte das Cantinone, das Zanzibar und andere Kneipen im Hafenviertel. Er betrank sich fortwährend, und ich leistete ihm dabei Gesellschaft. Aber irgendwann machten auch die letzten Kneipen zu. Dann setzten wir uns in den Zug nach Mailand, fuhren zum Hauptbahnhof, tranken einen Kaffee und fuhren wieder zurück nach Genua. Wir konnten im Warmen sitzen, rauchen, schwätzen und schlafen.



Hast du in dieser Zeit auch von Diebstählen und Gaunereien gelebt?

Nein, ich hatte etwas legalere Möglichkeiten gefunden, um mir den Lebensunterhalt zu verdienen. Ich lieferte Zeitungspacken an die Kioske aus, arbeitete illegal, also ohne Mitglied der Gewerkschaft zu sein, als Packer im Hafen und gelegentlich auch in Restaurants bei Hochzeitsfeiern und ähnlichen Gelegenheiten.

Das Problem war allerdings, daß ich auch langsam in den Alkoholismus abrutschte. Ich hatte zwar eine robuste Gesundheit, begann aber besorgniserregende Symptome festzustellen. Meinem Freund hingegen ging es richtiggehend schlecht. Ein Arzt hatte ihm Metedrin verschrieben, um das Verlangen nach Alkohol zu dämpfen. Das Ergebnis war aber, daß er nicht mehr schlafen konnte. Er zwang mich, ebenfalls wach zu bleiben. Und so begann ich auch, Metedrin zu nehmen.

Es war eine höllische Zeit, in der ich fast durchdrehte. Ich spürte, daß ich mich ans Schreiben klammern mußte, um mich zu retten. Ich machte seltsame Erfahrungen. Ich wollte sie in mich hineinsaugen und darüber nachdenken. Ich begann viele Hefte zu füllen, mit all dem, was ich machte und fühlte. Mein damaliges Leben hatte natürlich auch angenehme und interessante Aspekte. Ich wohnte in der Via Pré, einer Straße mitten im Viertel der Schmuggler und Prostituierten. Ich war mit vielen von ihnen bekannt. Sie waren freundlich, geradezu liebevoll. Sie betrachteten mich als ein Lebewesen aus einer anderen Welt, einen komischen Typen, der schrieb und Stunden mit Büchern zubrachte. Denn außer meine Hefte vollzuschreiben las ich damals alles mögliche, von Koestler bis Kerouac, von Baudelaire bis zum Diario minimo von Eco.

Ich war auch sehr in eine Studentin verliebt, die Tochter eines sizilianischen Hafenarbeiters. Maria war ein schmächtiges Mädchen mit langen duftenden Haaren und tiefen dunklen Augen. Oft wartete ich auf sie am Ausgang der Abendschule. Ich glaube, ich war fast ein Jahr lang in sie verliebt.



Wie hast du aus dieser Phase des Existentialismus in Genua wieder herausgefunden?

Es kam der Tag, an dem mein Freund den Alkohol zusammen mit dem Metedrin nicht mehr verkraftete. Er wurde mit einem Kollaps ins Krankenhaus eingeliefert. Ich mußte in dieser Nacht alleine durch Genua ziehen und fragte mich, welcher Sinn in einer Lebenssituation läge, die nur noch destruktiv ist. Ich sagte mir: »Gut, das, was ich wissen wollte, habe ich jetzt erfahren.« Ohne lange zu zögern, beschloß ich, dieses Kapitel nun zu beenden.



Zusammengefaßt: Was waren deine wichtigsten Erfahrungen aus dieser Zeit?

Ich hatte vieles kennengelernt: die Realität der Marginalisierten und die Kunst des Durchwurschtelns, die gefährliche Faszination der Selbstzerstörung und, vor allem, das tiefgreifende Gefühl der Solidarität, das man Leuten in einem verzweifelten Moment ihres Lebens vermitteln kann.



Du wolltest also noch einmal in eine andere Richtung gehen. Gelang es dir auf Anhieb?

Innerhalb weniger Stunden. An dem Punkt, an dem ich mich befand, war das nicht sehr schwierig. Ich erinnerte mich an ein Gespräch, das ich mit einem Landvermesser von Italsider in einer Kneipe in der Nähe des Hafens hatte. »Du bist doch ein Typ mit sehr komischen Interessen«, hatte er gesagt. »Weißt du, daß sie in Trento eine neue Uni für Soziologie eröffnen? Meiner Meinung nach solltest du dorthin gehen, das ist genau das Richtige für dich.« Ich mußte an diese Unterhaltung denken, und die Idee mit Trento gefiel mir. Ich wußte nicht einmal genau was ''Soziologie'' bedeutete, aber Trento verband ich mit den Bergen, und außerdem war es weit weg von Genua.

Ich lief zum Krankenhaus und verabschiedete mich von meinem Freund. Ich wußte, daß es für ihn, der außer seiner enormen Großzügigkeit über keine weiteren Gaben verfügte, nicht viele andere Möglichkeiten gab. »Ich will damit abschließen und gehe. Ich weiß nicht genau wohin und weiß nicht genau, was ich tun werde, aber ich gehe«, sagte ich zu ihm. Wir umarmten uns liebevoll und versprachen uns, daß wir uns wiedersehen würden. Leicht wie eine Feder stieg ich in den Zug nach Trento.



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