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Voherige Seite 3 In Genua: Russische Feuer im 5 Hochzeit in San Romedio Nächste Seite

4 Trento, das Berkeley Italiens



Man sagt, daß die Universität von Trento das Vorzimmer der '68er und die Schmiede der Subversion gewesen sei, aus der dann die Roten Brigaden entstanden: Kannst du das bestätigen?

Nur zum Teil. Das Jahr '68 habe ich dabei gar nicht so intensiv in Erinnerung. Außerdem flossen noch ganz andere Komponenten in die BR ein, die nichts mit Trento zu tun hatten. Aber darauf kommen wir später noch zurück.

Ich kam an einem Juni-Abend des Jahres '62 in Trento an. Ich hatte 50000 Lire in der Tasche, hatte eine gewisse Leidenschaft für Literatur, wußte nichts über Politik und noch weniger über Soziologie. Da ich es inzwischen gewöhnt war, nachts nicht schlafen zu gehen, zog ich durch die Stadt, die im Unterschied zu Genua außergewöhnlich sauber und ordentlich war. Die Häuser waren gestrichen, die Blumenbeete gepflegt und die Berge vom Mond beleuchtet. Es schien mir das Paradies zu sein. Ich glaubte sofort, daß dies der richtige Ort für mich sei.



Hast du dich sogleich für Soziologie eingeschrieben?

Als erstes mußte ich meine Existenz absichern. Am Morgen bestellte ich einen Cappuccino in der Bar Italia und erzählte dem Kellner, daß ich Arbeit suchte. »Wenn du fit bist, gibt es hier soviel Arbeit, wie du willst.« Er riet mir, im Hotel Panorama am oberen Rand des Stadtzentrums nachzufragen: »Sag, daß dich Ermes schickt, du wirst sehen, sie werden es mit dir versuchen ...«

Im »Panorama« wurde ich mit offenen Armen empfangen: »Sie kommen gerade richtig. Die Kleidung stellen wir. Sie können sofort anfangen.« Ich ließ mich nicht lange bitten: ein Dach über dem Kopf, Essen und ein optimales Gehalt. Dort als Kellner zu arbeiten, war wie im Schlaraffenland und ich blieb einige Monate dort.

An der Universität lief es gleich noch besser. Als ich mich einschreiben wollte, erklärte mir die Angestellte, daß ich mit meinem Notendurchschnitt ein Stipendium beantragen könnte. Ich fragte an und bekam das Stipendium.

Kostenfreie Universität, kostenfreie Wohnmöglichkeit in einer wunderbaren Jugendstil-Villa im Stadtteil Villazzano und rundherum die Berge, in denen ich große Wanderungen plante. Mein erster nächtlicher Eindruck sollte noch übertroffen werden: Das war wirklich das Paradies.



Im Herbst '63, in einer von neuen Impulsen überschäumenden Akademie, begann dein erstes Studienjahr. War das nicht ein schwerer Schritt für jemanden, der schon halb in den Schenken Genuas versunken war?

Die erste Zeit löste ich das Problem, indem ich sehr viel zuhörte und wenig sprach. Vom Standpunkt der Bildung her war es die wichtigste Phase meines Lebens in dem Sinne, daß diese Umgebung eine außerordentliche Herausforderung für mich darstellte. Die Herausforderung, es zu schafffen, in einem intellektuellen Wettstreit, aus dem man emporsteigen oder in den Hintergrund abgedrängt werden konnte, Schritt zu halten.

Der effektivste Auftrieb für mich war die ständige Konfrontation mit Studenten wie Mauro Rostagno, Marco Boato, Marianella Sclavi, die in der Universität Spitzenpositionen in der intellektuellen Auseinandersetzung einnahmen.



Hattest du besonders intensive Freundschaften?

Die erste Zeit mit Marianella. Wir hatten ein gemeinsames Interesse für Sartre und eine Leidenschaft für Psycho- und Soziodramen. Sie lachte in unnachahmlicher Weise, mit dem ganzen Körper, und das entdramatisierte unsere intellektuellen Abenteuer. Dann lernte ich Mauro Rostagno kennen, der ein lebender Mythos war. Ich mußte mich unbedingt mit ihm vergleichen und messen.

Er lebte in Mailand, und jedesmal, wenn er kam, um die Examen abzulegen, zog er mit der ihm eigenen Faszination alle in seinen Bann. Er war imstande, die Grenzen des Diskurses immer weiter auszudehnen, mitreißend zu gestalten, und wenn ihm gerade danach war, haute er Hammerdinger raus, ohne mit der Wimper zu zucken. Er war der Sohn eines Metallmechanikers von Fiat und mit der Arbeiterkultur der Quaderni Rossi4.1 aufgewachsen, in der Schule von Raniero Panzieri, Mario Tronti und Vittorio Rieser.

Bald hatte ich das Glück, ihn besser kennenzulernen und einige Jahre mit ihm zusammen in der »Commune« zu leben, die wir in Trento aufbauten. Einmal, als ich in Mailand in der Feltrinelli-Buchhandlung war, traf ich Paolo Sorbi, einen anderen Soziologie-Studenten. Er lud mich ein, ihn zu einer Versammlung bei Rostagno zu begleiten. Ich ergriff die Gelegenheit mit Freude. Ich erinnere mich noch daran, daß über ein Buch von Koehler diskutiert wurde, Die Intelligenz der antropoiden Affen. Schweigend habe ich an der großen Show teilgenommen.

Am Ende des Abends näherte sich mir Rostagno und fragte, warum ich nichts gesagt hätte. »Na, weil ich ehrlich gesagt sprachlos bin«, antwortete ich, »in dem Sinne, daß ich mich hinsichtlich meiner kulturellen Bildung als sehr weit im Rückstand betrachte und mich außerstande sehe, in eine Diskussion auf dieser Ebene einzugreifen.« Er lachte und sagte: »Schau, hier ist vieles nur ein Spiel, du mußt nicht alles ernst nehmen ...« Und er bot mir an, einige Zeit bei sich zu Hause in Mailand zu bleiben. An diesem Abend begann eine wirkliche Freundschaft, die bis zu dem Tag im September 1988 hielt, an dem sie ihn umgebracht haben.4.2



Habt ihr euch weiterhin getroffen, auch nach der Phase in Trento, als ihr verschiedene Wege eingeschlagen hattet? Hat er jemals deine Entscheidung für ein Brigadisten-Dasein in Frage gestellt?

Wir haben uns bis zu meiner Verhaftung 1974 noch öfter in Mailand getroffen. Danach haben wir uns geschrieben, vor allem in den letzten Jahren.

Mit Rostagno verbinde ich die mehr als zwanzigjährige Erfahrung einer wirklichen Freundschaft und starken Zuneigung, gemischt mit der provokativen Anziehungskraft seiner polymorphen Intelligenz. Er hat meine Entscheidung nie in Frage gestellt, so wie ich niemals seine. Wir haben uns immer vorbehaltlos respektieren. Wir hatten in fünf Jahren eine intensive menschliche Beziehung aufgebaut, die auch nicht durch meine Entscheidung, den bewaffneten Kampf aufzunehmen, tangiert wurde. Eines Tages, es war im Jahr '74, begegneten wir uns in der U-Bahn in Mailand. Ich wurde bereits gesucht, und es wäre riskant gewesen, in eine Bar zu gehen. Also fuhren wir hin und her, von Endstation zu Endstation, um uns zu unterhalten und ein bißchen zusammensein zu können.

In einem seiner letzten Briefe stand, daß er hoffte, mich bald bei ihm zu sehen, in der Gemeinschaft Saman, in Trapani. Damit wir über uns und über unsere scheinbar so unterschiedlichen und doch so verwobenen Existenzen reden könnten, über die sehr traurigen Schicksale, die so viele Freunde und nahestehende Leute erlitten hatten. Es wäre schön gewesen, sich in die zu Augen sehen und sich dabei über die unterschiedlichen Verläufe unseres Lebens unterhalten zu können.



Hat dich der Tod deines Freundes sehr getroffen?

Ja, mit ihm starb etwas in mir. Dann machte ich einige bittere Feststellungen. Die Gewehrsalven gegen Sanatano4.3 richteten sich auch gegen den immer noch rebellischen Teil meiner Generation. Es sind Schüsse auf die Genossen, die trotz all dem, was in den letzten 20 Jahren geschehen ist, oder vielleicht gerade deshalb, dem Leben noch immer mit einer Sehnsucht nach Veränderung begegnen. Die lernen, helfen und dabei lächeln können.

Meine Freundschaft zu Rostagno bedeutete auch, über die Verantwortung nachzudenken, die meine Generation bezüglich seines Todes hat.



Von welcher Verantwortung sprichst du?

Daß unsere Generation besiegt wurde, ist ja nun ein Allgemeinplatz. Das, was mir nicht klar ist, ist, wer denn das Spiel gewonnen hat. Eins scheint aber sicher: Es existiert unsererseits eine weitverbreitete Unfähigkeit, die erlittene Niederlage zu verarbeiten. Eine Unfähigkeit, Vergangenheit wie Gegenwart in die Augen zu sehen. So macht jeder einfach weiter, genauso wie »Sanatano« es geschrieben hat, »ohne Gespenster der Vergangenheit heraufzubeschwören, zu verjagen oder von ihnen gestört zu werden«.

Dieses ruhige Leben einer seinerzeit unruhigen und auch wütenden Generation müßte hinterfragt werden. Man will wieder ohne Schwierigkeiten leben, sucht eine bestimmte Ruhe. Darin können wir die Gründe finden, die Rostagno alleine in seine letzte mutige Schlacht gegen die Heroin-Bosse führten.



Kommen wir auf die Jahre an der Universität von Trento zurück: Du hast gesagt, du hättest eine Kommune gegründet.

Eine Freundin bot uns ein halb einsturzgefährdetes Haus am Ufer des Adige an. Zusammen mit Rostagno und Paolo Palmieri, der heute Anthropologie an der Universität von Padua unterrichtet, beschlossen wir, eine Kommune daraus zu machen, oder besser gesagt, ein »offenes Studienhaus«. Wir restaurierten und befestigten das Gebäude ein wenig. Wir wurden von vielen Helfern unterstützt und halfen uns auch durch einige kleine Diebstähle. Von einem Platz schleppten wir den runden Stehkreisel der Verkehrspolizei weg und verwandelten ihn in einen großen Arbeitstisch.

Wir übernachteten nur zu dritt dort, aber tagsüber kam, wer wollte. Auch Gruppen von zwanzig Jungs und vereinzelt einige junge Frauen. Wir hielten kleine Seminare ab, organisierten kleine Gegenkurse über Themen, die an der Universität nicht oder, wie wir meinten, schlecht abgehandelt wurden, mehr Wittgenstein als Marx, aber auch Fanon, Marcuse, Benjamin. Ein seltsames Spiel begann. In der immer noch sehr rigiden Atmosphäre der Gesellschaft in Trento bedeutete unser »offenes Haus« zu frequentieren, sich auch schwerwiegenden Kritiken und Verdächtigungen auszusetzen. Hinzu kam, daß Marianella Sclavi und ich damals begannen, die Techniken des Soziodramas in den Kneipen Trentos auszuprobieren. Wir provozierten dramatisch-erheiternde Situationen, die natürlich einige Gerüchte nährten.

Eine der ersten Studentinnen, die begann, regelmäßig unsere »Räuberhöhle« zu besuchen, war Margherita Cagol. Und einer der Gründe, warum ich mich sofort in sie verliebte, war der große Mut, den sie bewiesen hatte, indem sie die Brücke über den Adige zu uns überquerte. So begann unsere Liebe, die niemals endete.



Wie war dein Verhältnis zu den Professoren?

Für gewöhnlich respektierte ich sie. In guter Erinnerung ist mir der Kurs Ökonomie II geblieben, der von Nino Andreatta und seinem Assistenten Romano Prodi gehalten wurde: Wir waren nur zu fünft in ihrem Kurs. Der Lehrinhalt war solide, und die beiden galten als sehr rigoros und anspruchsvoll. Meine Anerkennung gehört immer noch Beppino Disertori, Autor eines zeitüberdauernden Traktats über Neurosen und Professor für soziale Psychiatrie. Auch wenn er sich dessen niemals bewußt geworden ist: Durch seine leidenschaftlichen Lehrstunden begann ich, jene Interessen zu pflegen, die ich in den letzten Jahren nun wiederaufgenommen und intensiviert habe.

Ein anderer Professor, der für mich eine wichtige Rolle gespielt hat, ist Francesco Alberoni. Er traf 1969, als die Seminare schon verhindert wurden, in Trento ein. Nach einem langen Gespräch schlug er uns vor, Trento in eine Art Frankfurt zu verwandeln: eine experimentelle Universität, in der alle in der Luft liegenden Spannungen und Bedürfnisse der Erneuerung ausgedrückt werden sollten.



Kam mit Alberoni auch der politische Kampf nach Trento?

Der war schon eine Weile im Gange und hatte in traditioneller Weise begonnen. Die Schubkraft war der korporative Geist. Unsere Universität war privat und noch nicht staatlich anerkannt. Als das Problem der Gleichstellung und Anerkennung aufkam, beschloß das Ministerium, daß der Abschluß von Trento dem der allgemeinen politischen Wissenschaften gleichgestellt würde. Wir sind fuchsteufelswild geworden: Was denn, wir haben so lange studiert, um einen völlig gewöhnlichen Abschluß der politischen Wissenschaften in den Händen zu halten, der auf dem Arbeitsmarkt wenig oder nichts wert war! Wir wollten mehr, wir wollten, daß unsere Einzigartigkeit anerkannt würde, wir wollten Soziologen sein. Im Kielwassser dieser Kleinkrämerforderungen begannen wir einen wütenden Kampf.

Eine Delegation, bestehend aus Rostagno, Duccio Berio und mir, fuhr mit Unterstützung von Flaminio Piccoli, dem Trentiner Christdemokraten, der die neue Universität gewollt hatte, nach Rom. Ich erinnere mich, daß wir alle Parteibüros abklapperten. Im Namen der PSI4.4 empfing uns ihr Vorsitzender De Martino, im Namen der PCI waren es Rossanda und Pintor,4.5 die damals im Zenit ihrer politischen Karriere standen. Piccoli begleitete uns durch die Flure des Parlaments und stellte uns vor, wem er konnte. Er verteidigte unser Anliegen. Die Streitfrage stand das ganze Jahr 1967 auf der Tagesordnung. Letztendlich gewannen wir, und die ersehnte Doktorwürde der Soziologie wurde anerkannt.



Aber der politische Diskurs an eurer Universität endete ja nicht mit dieser Schlacht um die Doktorwürde?

Sicher nicht. Neben dieser korporativen Auseinandersetzung reifte im kulturellen Umfeld von Zeitschriften wie Quaderni Rossi, Quaderni piacentini4.6 und Classe operaia4.7 bereits ein neues politisches Bewußtsein heran. Trento war eine Universität, in der es auch Studenten gab, die nicht vom Gymnasium kamen. Das war beispielsweise ein fruchtbarer Boden für die Forderung nach einem Übergang von der Elite- zur Massenschule.

Das stärkste Element, welches die verschiedenen brodelnden Bereiche einte und den Startschuß zu den Aktionen gab, war das Echo der Rebellion gegen den Vietnamkrieg, das wir aus den US-amerikanischen Universitäten vernahmen. Als Fachbereich der Soziologie standen wir mit Berkeley in direktem Kontakt. Im Einklang mit der Wut der kalifornischen Studenten begann unsere Mobilisierung. Im Herbst 1967 besetzten wir die Universität.



Es war die erste Institutsbesetzung in Italien, wenn ich mich nicht irre?

Das stimmt. Ich war »Kulturminister« unseres kleinen Studentenparlaments. Im Verlauf einer hitzigen parlamentarischen Diskussion schlug Rostagno die Besetzung vor. Nicht alle waren dafür. Am Ende des Plenums zählten wir durch. Sieben von uns waren bereit, diese Kampfform, die uns damals äußerst gewagt schien, anzuwenden. Kurze Zeit später waren wir zu elft.

Es war mittlerweile bereits Abend geworden, und die Universität wurde gerade geschlossen. Wir rannten los und kamen gerade noch rechtzeitig, bevor der Hausmeister das Tor verriegelte. »He, wir schlafen heute hier«, sagten wir ihm, »du kannst gehen und brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Er starrte uns mit riesengroßen Augen an, als hätten wir ihm gerade mitgeteilt, daß wir eine Atombombe in den Händen hielten.

Wir nahmen einige Möbel und verbarrikadierten uns. Das Universitätsgebäude lag genau gegenüber der Zeitung l'Adige, die im Sinne Piccolis arbeitete. Wir hängten große Laken aus den Fenstern mit Schriftzügen wie »Besetzte Universität«, »Stop the war in Vietnam«.

Die Aktion wirbelte viel Staub auf. In den folgenden Tagen wurden aus den elf, die wir in der ersten Nacht waren, gute Tausend. Natürlich schliefen nicht alle in der Universität. Wir teilten uns in Schichten auf, aber es herrschte ein bemerkenswertes Durcheinander. Jedenfalls organisierten wir Versammlungen, Diskussionen, Abstimmungen ... Am Ende beschlossen wir, die alten akademischen Strukturen, die den Vorzug hatten, einen hart arbeiten zu lassen, nicht rundum abzulehnen. Wir beschränkten uns darauf, Gegenkurse zu organisieren, die so waren, wie sie uns gefielen, über Themen, die uns begeisterten. Wir luden auch Persönlichkeiten aus dem kulturellen Leben ein, die weit entfernt waren vom akademischen Ambiente: zum Beispiel Lelio Basso, der in Vietnam gewesen war und uns die Splitterbomben zeigte, die gegen den Vietcong eingesetzt wurden; und die Gruppe Living Theatre von Julian Beck. Sie blieben fünfzehn Tage in der Stadt, und es gab dadurch einen großen Skandal und viel Aufregung.

Wir gaben das erste Beispiel der »negativen Universität« wie sie sich später auch in der Uni in Turin und an vielen anderen entwickelte.

Natürlich dauerte die erste Besetzung der Universität nur wenige Tage. Eines Morgens rückten einige Einheiten der Polizei vor und warfen uns raus. Wir leisteten nur passiven Widerstand, der damals in der Tradition der amerikanischen Protestler stand. Und wir haben einen Haufen Knüppelschläge kassiert. Wir wurden verhaftet und nur dank des Einsatzes einiger kommunistischer Abgeordneter wieder freigelassen.

So begann eine turbulente und bewegte Zeit. Die Initiativen der »negativen Universität« hatten sich entfaltet, und die Uni wurde regelmäßig besetzt und wieder gestürmt.



Es gibt ein Gründungsdokument der »negativen Universität«, das Anfang ‘68 in ganz Italien zirkulierte: Stammt es von dir?

Während der ersten Tage der Besetzung hatte ich einen groben Entwurf geschrieben. Ich ließ mich hierbei von den Studenten in Berkeley inspirieren. Mein Rohentwurf wurde dann in vielen Versammlungen unserer Kommune diskutiert, bis es endlich eine endgültige Fassung gab, die den Titel »Manifest für eine negative Universität« trug.

Es handelte sich um ein Dokument, das noch in einer Sprache geschrieben war, die sich innerhalb der Institutionen bewegte und sicher nicht revolutionär war. Zwei Punkte waren darin am wichtigsten: die Kritik am Technokratentum als eine Denkweise, die das Wissen von der Alltagserfahrung abkoppelte, »dem Leben«, wie wir es nannten, sowie die Kritik an der negativen Rolle, die die italienische Universität unserer Meinung nach in der Gesellschaft spielte, also die Reproduktion der herrschenden Kultur. Als Konsequenz aus jener Analyse schufen wir den »Antisoziologen«, der mit den marginalisierten sozialen Kräften zusammenarbeiten sollte, um ihnen zu mehr Mitsprache und Eingriffsmöglichkeiten zu verhelfen.



Währenddessen explodiert '68. In Trento wart ihr ja schon seit einiger Zeit in Bewegung. Wie hast du dieses Jahr, das symbolische Jahr des Protestes, erlebt?

Ende '67 war Trento, auch wegen seiner geographischen Lage, ein Knotenpunkt für die Aufnahme internationaler Impulse. Außer nach Berkeley schauten wir auch nach Berlin, Brüssel, Paris ...

Durch unseren Frühstart hatten wir, als anderorts die Revolte von '68 ausbrach, gerade den ersten Kampfzyklus abgeschlossen.

Unsere Debatten waren bereits stark ideologisch geprägt, und wir schlugen schon sehr unterschiedliche Wege ein: Rostagno etwa orientierte sich an einer guevaristischen Dritte-Welt-Ideologie ähnlich der Psiup4.8; Boato war Aktivist der katholischen Linken, bevor er bei Lotta Continua landete; ich orientierte mich in Richtung China, der Kulturrevolution und des maoistischen Marxismus-Leninismus; Marianella Sclavi näherte sich der PCI und der Gewerkschaftsbewegung.

Zum ersten Mal sollte ich die spaltende Kraft der Ideologie kennenlernen. Wir erfuhren eine ziemlich traurige Zersplitterng, die sich auch unmittelbar geographisch auswirkte: Jeder ging seinen Weg. Ich unternahm eine Art Giro d'Italia. Ich hielt mich vor allem in Kalabrien und Sizilien auf, wo ich eine Untersuchung über die Agrarreform, den Großgrundbesitz und die Mafia durchführte.



Die Trentiner Zeit war aber noch nicht zu Ende ...?

Nein, es gab noch ein zweites Kapitel. Nach dem Sommer '68 kehrte ich voller Nostalgie nach Hause zurück, in die alte Kommune nach Trento, um zu schauen, was sich tat. Zu meiner Überraschung traf ich dort auch Rostagno und die anderen Freunde. Alle waren heimgekehrt, so wie ich!

Glücklich, wieder zusammen zu sein, umarmten wir uns und begannen über die Möglichkeit einer antiautoritären Bewegung zu debattieren. War Rudi Dutschkes Vorschlag eines langen Marsches durch und gegen die Institutionen auch für Italien ernst zu nehmen? Die Aufregung des ersten studentischen Protestes hatte sich mittlerweile gelegt. Ich war aus der Kommunistischen Marxistisch-Leninistischen Partei Italiens wieder ausgetreten, nachdem das absurde interne Tribunal zwischen roter Linie und schwarzer Linie seinen Anfang nahm4.9. Die Probleme mußten abgeklärter und tiefgreifender angegangen werden.

Als Soziologen sahen wir es als unsere Aufgabe an, einen Vorschlag zur kritischen Transformation der italienischen Gesellschaft zu erarbeiten. Wir nahmen erneut das Studium der Frankfurter Schule auf, Adorno, Horkheimer, Benjamin, Marcuse, aber auch Reich. Nicht den Reich der sexuellen Revolution, die hatten wir '67 schon erlebt - wenn auch mit einiger provinzieller Schüchternheit -, sondern den Analytiker der Massenpsychologie des Faschismus.

Alberoni, zu dem wir seit einiger Zeit ein hervorragendes Verhältnis hatten, nahm uns unter seine Obhut. Im März '69 lud er Rostagno, Vanni Molinaris, mich und vier oder fünf weitere Jungs zu sich nach Hause ein. Er sagte, der Moment sei gekommen, zu entscheiden, was wir als Erwachsene tun wollten. Im wesentlichen bot er uns an, gleich zu lehren, unsere Seminare also in richtige Uni-Kurse mit entsprechendem Abschlußexamen umzuwandeln. Wir nahmen das natürlich begeistert auf. Ich hielt in dem Jahr einen Kurs über das Konzept des Klassenbewußtseins bei Lukács. Der Kurs wurde von siebzig Studenten besucht.



Was hat dich dann letztendlich doch von der vielversprechenden Karriere eines Universitätsprofessors abgebracht?

Das läßt sich nur schwer kurz zusammenfassen. Entscheidend war meine Verbindung zu Margherita und die zufällige Begegnung mit Raffaello De Mori vom CUB4.10 bei Pirelli. Er war einer der eindrucksvollsten Anführer der Arbeiterbewegung, berühmt für seine Überzeugungskraft, wenn es um die Frage der Militanz ging.

Margherita und ich waren unzertrennlich, auch wenn wir auf einige Schwierigkeiten stießen. Ihre Familie war sehr traditionell und ihr Vater total eifersüchtig. Im Sommer '69 haben wir beschlossen zu heiraten. Sie hatte zuvor ihr Studium mit summa cum laude abgeschlossen. In ihrer Doktorarbeit hatte sie sich mit den Grundrissen von Marx beschäftigt, die damals noch nicht ins Italienische übersetzt worden waren.

In diesen Tagen hatte Rosetta Infelise, eine ehemalige Studentenführerin, die gleich einer Rosa Luxemburg die Fabrikkämpfe verfolgte, eine Delegation von vier oder fünf Arbeitern des CUB von Pirelli, unter ihnen den berühmten De Mori, nach Trento gebracht. Im nachhinein kann ich sagen, daß das Zusammentreffen mit dieser entschlossenen und utopischen Gestalt für mich zu einem erneuten radikalen Bruch in meinem Leben führen sollte. Seine Rede gab mir die Richtung, die mich in den nächsten zwei Jahren zu den Roten Brigaden brachte.



Ohne De Mori wären deine Geschichte und auch ein Teil der italienischen Geschichte anders verlaufen. Was war denn das Faszinierende an diesem Pirelli-Arbeiter?

Nichts, was ich sofort hätte sagen können. Aber vieles schien interessant, und es machte neugierig, wenn er sprach:

»Liebe Jungs, ich sage im wesentlichen, daß das, was ihr hier in Trento macht, sehr lobenswert ist. Eure kritische Universität kann in der Debatte, die die Kämpfe der Studenten und Arbeiter in diesen Monaten eröffnet haben, einen Bezugspunkt darstellen. Aber bei einer eurer Grundannahmen irrt ihr euch gewaltig: Es stimmt nicht, daß in Italien die Zeit für einen revolutionären Zusammenstoß der Klassen noch nicht reif ist. Es stimmt nicht, daß man, wie ihr meint, noch den kulturellen Boden bereiten muß, auf dem die zukünftigen Kämpfe wachsen. Die Zeit ist jetzt reif. Ihr könnt das nicht wissen. Um das zu verstehen, müßtet ihr euch ansehen, was bei Pirelli, Fiat und anderswo passiert. Wer sich heute in Italien tatsächlich mit dem Problem der sozialen Tranformation beschäftigt, kann nicht darauf verzichten, sich der Realität der großen Fabriken zu stellen.«

Ich war beeindruckt. Ich dachte, entweder übertrieb De Mori mit der Stärke der Arbeiterbewegung und der Reife der Zeit, dann wäre es richtig, mit der kritischen Universität weiterzumachen; oder er hatte recht, und wir verspielten hier nur unsere Zeit. Jedenfalls mußte die Sache überprüft werden. Ich beschloß, nach Mailand zu fahren.

Jedoch nicht, bevor Margherita und ich heirateten und eine schöne Hochzeitsreise unternahmen.



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