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6 Pecorile - der Wendepunkt



Ihr seid vierzehn Tage auf Hochzeitsreise gewesen. Habt ihr dann, als ihr wieder in Mailand wart, sofort mit dem Aufbau des Collettivo Politico Metropolitano6.1 begonnen?

Das Kollektiv existierte noch nicht. Es hat sich erst gegen Mitte September gebildet. In Mailand nahmen wir zunächst die Diskussionen mit De Mori wieder auf. Er stellte uns die Strategien der nächsten Arbeiterkämpfe vor und führte uns in einen größeren Kreis von Arbeitern und Technikern bei Pirelli, Sit-Siemens und verschiedenen anderen Fabriken ein. Ich lernte Mario Moretti kennen, ebenso Pierluigi Zuffada6.2 und Carletta Brioschi, die sich später alle den Roten Brigaden anschließen sollten. Ich machte die Bekanntschaft mit Gaio Silvestro. Dieser Ingenieur führte die Bewegung der Techniker bei Sit-Siemens und arbeitete, bis wir in den Untergrund gingen, mit uns zusammen ...



Kannst du Näheres zu dieser Bewegung der Techniker sagen?

Im Kielwasser einiger amerikanischer Essayisten hatte in Italien vorwiegend im Umfeld von Potere Operaio6.3 eine Diskussion darüber begonnen, daß auch die Techniker, also die Angestellten, die »weißen Kragen«, Ausgebeutete waren und ihren Platz im Klassenkampf finden mußten. Während die Blaumänner an den »dreckigen« Fließbändern standen, begannen die Techniker ihrerseits zu verstehen, selbst in ihren weißen Kitteln Gefangene zu sein. Sie sammelten sich, um ebenfalls eine andere Arbeitsorganisation zu fordern.



In jener Zeit hast du Kontakte zu einem Kreis von Jugendlichen hergestellt, die dann die ersten Roten Brigaden bildeten.

Ja, diese waren aber nicht auf die Mailänder Fabriken beschränkt. In Reggio Emilia hatte ich einige Jungs kennengelernt, die in Verbindung zur Federazione Giovanile Comunista6.4 standen: Tonino Paroli6.5, einen Arbeiter; Prospero Gallinari6.6, einen Bauern, und Alberto Franceschini, der sofort sehr entschlossen war. Eines schönen Tages tauchte er mit seinem verschmitzten Lächeln in der kleinen Wohnung in der Sarca-Allee auf, in der Margherita und ich lebten, hundert Meter von Pirelli entfernt, und sagte: »Ich glaube, daß Mailand heutzutage das Zentrum Italiens ist und man darauf die politische Arbeit konzentrieren muß. Also, hier bin ich. Ich bin gekommen, um zu bleiben, gebt mir ein Bett ...« Und von diesem Augenblick an verließ er uns nicht mehr.

In jenen Tagen traf ich in Mailand auch Corrado Simioni6.7, der in einem Arbeiter- und Studentenkollektiv tätig war. Er lud mich ein, in ihrem Sitz eine Versammlung abzuhalten. Ich war »einer, der aus Trento kam«, und genoß daher ein gewisses Prestige. So fand ich mich plötzlich vor einer Menge von mindestens hundert jungen Leuten wieder, Arbeiter, Techniker, Lehrer, Arbeiter-Studenten ... Es entwickelte sich eine sehr lebhafte Diskussion. Am Ende machte ich folgenden Vorschlag: »Ich habe in der letzten Zeit unterschiedlichste Leute aus den verschiedensten Kollektiven kennengelernt. Es wäre schön, einen Ort zu haben, an dem wir uns treffen, unsere Ideen diskutieren und uns gegenseitig helfen könnten.«



Wie wurde darauf reagiert?

Voller Begeisterung. Das Bedürfnis, »zusammen zu sein«, war zu diesem Zeitpunkt sehr stark. So mieteten wir das alte leerstehende Theater in der Via Curtatone, zwei Schritte vom römischen Tor entfernt, und gründeten das Collettivo Politico Metropolitano.

Das Gebäude war eine riesige Katakombe, und wir verwandelten es schnell in einen freundlichen Ort, an dem so ziemlich alles gemacht wurde. Durch die Buschtrommel der radikalen Linken wurde unsere Adresse zu einer enormen Anlaufstelle. Es kamen Dutzende von unterschiedlichen Gruppen, Sänger, Arbeiter, Techniker, Grafiker, Schauspieler, Lehrer und Musiker, die unterschiedlichsten Leute. Am Ende war es ein riesiger pulsierender bizarrer Haufen, ungeheuer witzig, dessen tragende politische Säule die Arbeiterzelle vom CUB Pirelli war. Zu jener Zeit hieß die in erster Linie von Rostagno und mir verbreitete Losung: »Fröhlichkeit in die Revolution bringen«. Alles, was ich machte, stand unter dieser Prämisse.



Wie lange habt ihr so gelebt?

Einige Monate lang hat es funktioniert. Im Collettivo wurde gesungen, Theater gespielt, Ausstellungen wurden organisiert ... Es herrschte eine ausgelassen explosive und fröhlich anregende Stimmung. Bis zum 12. Dezember '69. Mit dem Bombenanschlag, dem Massaker von der Piazza Fontana, schlug die Stimmung jäh um.



Dieses Bombenattentat bedeutete einen abrupten Einschnitt ...?

Ja, an jenem Nachmittag ging ich gerade zu Fuß zu dem Treffpunkt in der Via Curtatone, als ich plötzlich von Polizisten umstellt wurde, die ihre Maschinenpistolen auf mich richteten und riefen: »Halt, ergib dich.«

Sie schleppten mich auf die Wache, in der sie mich zusammen mit anderen Pechvögeln für eine Ewigkeit in einem Raum einschlossen. Ich hatte vage etwas von der Explosion und den Toten aufgeschnappt: Ich phantasierte, fürchtete eine Provokation gegenüber dem Kollektiv. Ich wußte nicht, wie es den anderen Genossen ergangen war. Nach fünf oder sechs Stunden rief mich ein Beamter. Er fragte, ob ich Renato Curcio sei, und teilte mir ohne weiteres Verhör mit, daß ich gehen konnte.

In den darauffolgenden Tagen war die Anspannung in der Stadt sehr groß. Und aus meiner Besorgnis wurde Erschrecken. Es hätte alles mögliche passieren können. In den Straßen und auf den Plätzen wurde »Staatsmassaker« gerufen, während die politische Macht und die Staatsanwaltschaft die Verantwortung für den Terrorakt ganz offensichtlich den Gruppen der radikalen Linken unterzuschieben versuchten.

Diese Ereignisse lösten einen qualitativen Sprung aus. Erst in unserem Denken und dann in unserem Handeln. Wir bewerteten das Bombenattentat und dessen Instrumentalisierung als eine Kriegserklärung an die linke Bewegung, wodurch deutlich wurde, daß wir uns auf einem sehr hohen Konfrontationsniveau befanden. Es handelte sich um einen Wendepunkt, der uns nur zwei Wege offen ließ: alles fallenzulassen und die Geschichte des Kollektivs abzuschließen, da es in der neuen Situation keinen Sinn mehr machte, oder weiterzumachen, aber unter der Bedingung, daß wir uns komplett neu organisierten.



Was hieß denn, sich »komplett neu zu organisieren«?

Wir mußten völlig neue Überlegungen anstellen. In unseren Treffpunkt in der Via Curtatone konnte jeder problemlos gelangen, ohne irgendeine Kontrolle. Wir trafen keine Vorsichtsmaßnahmen, weder gegen mögliche Polizeiinfiltrationen noch gegen faschistische Provokationen. Es war unmöglich, mit solcher Naivität weiterzumachen. Es begannen lange Diskussionen, die zu einigen - auch etwas krampfhaften - Veränderungen führten. Gegen Ende Dezember versammelten sich der harte Kern, etwa sechzig »Delegierte« des Collettivo Politico Metropolitano, in der Pension Stella Maris in Chiavari. Nach der zweitägigen Debatte in einem kleinen, kalten Saal beschlossen wir, uns in eine zentralisiertere Gruppe zu verwandeln. Wir nannten uns fortan Sinistra Proletaria.

Ein Problem war die richtige »Organisation unserer Kräfte«. Es gab eine verzwickte Diskussion über die Rolle und die Methoden des Ordnungsdienstes, also über den militanten Kern, den jede außerparlamentarische Gruppe in ihrer Mitte gebildet hatte. In Chiavari arbeiteten wir auch ein Papier aus, das sogenannte Gelbe Büchlein6.8. Vor dem Hintergrund unserer Diskussionen über die Arbeiterautonomie führten wir darin erstmals Überlegungen über die Möglichkeit des bewaffneten Kampfes ein.

Wenn man von Sinistra Proletaria redet, darf man aber keine Mißverständnisse aufkommen lassen. Es handelte sich nicht um eine wirklich geschlossene Gruppe, sondern um eine Art Konglomerat von Hunderten von Aktivisten, organisiert über fünfzig Kollektive. Es war noch eine sehr heterogene Organisation, die die verschiedenen Aktionsfelder der Bewegung, proletarische Stadtteile, Fabriken, Schulen und Krankenhäuser als Basis hatte.

In diesem großen Gemisch suchte niemand eine einheitliche ideologische Definition, sondern jeder brachte seine ideologisch-kulturelle Erfahrung mit. Insgesamt ergab das ein ziemlich bruchstückhaftes und heterogenes Puzzle.



»Sinistra Proletaria« gab auch eine Zeitschrift heraus.

Wir publizierten zwei Ausgaben unter dem Namen unserer Gruppe. Aber wesentlich interessanter waren die etwa vierzig verteilten »Kampfblätter«, die sich verschiedenen Themen widmeten. Die Flugschriften handelten von den Fabriken, der Ausbeutung der Arbeiter, der Rolle der Techniker, den tödlichen Arbeitsunfällen. [Curcio spricht hier von »omicidi bianchi«, weißen Morden, Anm.d.Ü.], Hausbesetzungen ...

Wir produzierten dreitausend, manchmal auch sechstausend Exemplare dieser »Blätter«, die zu einem symbolischen Preis von zehn Lire verteilt wurden.



Wie habt ihr euch finanziert? Hattet ihr schon die ersten Überfälle verübt?

Von Überfällen war nicht einmal die Rede. Das Geld stammte von Spenden einiger Künstler und Intellektueller, vor allem aber von den Mitgliedsbeiträgen: Unter uns gab es viele Techniker von IBM und Sit-Siemens, die gut verdienten, und die akzeptierten, einen Teil ihres Gehalts in die gemeinsame Kasse zu zahlen.



Wie kamt ihr dann zu der Entscheidung, zu bewaffneten Aktionen überzugehen?

Es hat keinen konkret benennbaren Zeitpunkt gegeben, an dem jemand am grünen Tisch entschieden und angeordnet hätte, daß jetzt geschossen würde, daß man jetzt Anschläge zu verüben hätte. Diese Entscheidung reifte im Kontext bestimmter Notwendigkeiten und einer allgemeinen Zuspitzung schrittweise und langsam heran. Der Weg, der uns zur Guerilla führte, wurde nach dem Treffen von Pecorile im September '70 eingeschlagen.



Was geschah dort?

Nun, Pecorile ist ein Dörfchen mit sieben Häusern im Hinterland von Reggio Emilia, mit einer Gastwirtschaft, die die Genossen aus der Gegend gut kannten. Wir luden etwa achtzig Genossen als Delegierte der verschiedenen Kollektive ein, die sich auf Sinistra Proletaria bezogen, sich dort zu versammeln. Es war nötig, die Widersprüche innerhalb von Sinistra Proletaria zu lösen. Die verschiedenen Orientierungen waren mittlerweile nicht mehr zu vereinen. Zentral waren hierbei die unterschiedlichen Ansichten über die Notwendigkeit, zu einschneidenderen und klandestineren Kampfformen überzugehen. Eine Entscheidung, auf die Margherita, Franceschini, ich sowie einige andere Genossen massiv drängten. Dies konnte natürlich nicht in einer für jeden offenen Versammlung diskutiert werden. So versammelten wir nur mehr oder weniger sorgfältig ausgewählte Gruppen in Pecorile.



Wurde die Entscheidung in Pecorile getroffen?

Formell nicht. Aber während jener Debatten trat offen zutage, daß die Politik von Sinistra Proletaria praktisch an ihrem Ende angelangt war.

Zwar ergriff niemand von uns inmitten einer Versammlung von achtzig Personen das Wort, um öffentlich vorzuschlagen, zum bewaffneten Kampf überzugehen. Aber innerhalb einiger kleinerer Zirkel diskutierten wir darüber. Es waren aber noch unkonkrete und vage Diskussionen, ohne direkte Folgen und ohne einen organisatorischen Vorschlag.

Offen hingegen diskutierten wir darüber, den Ordnungsdienst in eine gut organisierte Zelle umzuwandeln, die imstande wäre, in verschiedenen Städten zu intervenieren. Dort, wo der Konflikt ein hartes Auftreten erforderlich machte.



Sollte der Ordnungsdienst bewaffnet sein?

Nicht mit Schußwaffen. Damals benutzte man noch Mollis, Zwillen und Eisenstangen. Aber eine gewisse »bewaffnete Präsenz« begann schon damals, sich ihren Weg in der Bewegung zu bahnen. Die ersten bewaffneten Gruppen tauchten auf, der 22 Ottobre in Genua, die GAP von Feltrinelli. Ich traf mich seit '68 gelegentlich mit Giangiacomo Feltrinelli, und wir diskutierten lange über unsere entsprechenden Projekte.

Schon in Pecorile zeichnete sich deutlich ab, daß unsere Pflichten als Mailänder Aktivisten bald eine ganz andere Wendung nehmen könnten. Ich wußte noch nicht genau welche, aber ich fühlte, daß eine Entscheidung bevorstand. Und bei der angespannten Stimmung, den Zusammenstößen in der Fabrik bei Pirelli, sollte es nicht mehr lange dauern.



Die Entscheidung für den bewaffneten Kampf wird getroffen und ein engerer Kreis gebildet, aus dem später die Roten Brigaden hervorgehen?

Ja. Aber man sollte schon deutlich festhalten, daß zu diesem Zeitpunkt der konkrete Inhalt des sogenannten »bewaffneten Kampfes« sehr bescheiden war. Die Autos der Chefs niederzubrennen, das waren kleine Aktionen. Aus den Demonstrationen der Bewegung auf der Straße wurden ganz andere Sachen verübt, als irgendeinen alten Fiat 600 anzuzünden. Die Frage war weniger die Höhe des dem Feind zugefügten Schadens, sondern die neue Position innerhalb der Arbeiterkämpfe, in die uns diese Aktionen stellten.

Unser Diskurs über den bewaffneten Kampf und die ersten Aktionen der »bewaffneten Propaganda« entstanden aus der Unmöglichkeit, nach den alten Methoden der Kollektive und Vollversammlungen weiterzumachen. Wir verspürten die Notwendigkeit, uns mit neuen Werkzeugen auszustatten, um unsere Präsenz in der sich verschärfenden sozialen Auseinandersetzung sichtbar zu machen.

Die Mini-Anschläge dienten also dazu, unsere Präsenz zu unterstreichen. Sie bezweckten aber auch, die politischen Debatten, die wir durch unsere Flugblätter und die Arbeit in der Fabrik vorangebracht hatten, effektiver und glaubwürdiger zu gestalten. Die Zeit war reif, etwas Neues zu versuchen.

Wir haben uns weniger von den Partisanenaktionen und der traditionellen Arbeiterbewegung, auch nicht der revolutionären, inspirieren lassen, wie immer wieder behauptet wird. Wir schauten vielmehr auf die Black Panthers, die Tupamaros, nach Kuba und auf Che Guevaras Fokus in Bolivien, auf das Brasilien von Marighella6.9. Daher weckten die Erzählungen von Feltrinelli, der durch die ganze Welt reiste und direkte Beziehungen zu Führern verschiedener Guerillas unterhielt, zweifellos großes Interesse und übten eine nicht zu unterschätzende Faszination auf uns aus.



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