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6 Pecorile - der Wendepunkt | 8 Bewaffneter Kampf |
Kann man sagen, daß Feltrinelli dein Lehrer war?
Lehrer, das scheint mir etwas übertrieben, sogar falsch. Feltrinelli war ein wißbegieriger und lebhafter Mensch, dem ich auch freundschaftlich verbunden war. Dank der Mittel und Bekanntschaften, die er hatte, konnte er wichtige Kontakte und Informationen vermitteln.
Wann hast du ihn kennengelernt?
Im Frühjahr '68 hat er mich zu einer Diskussion in den Sitz seiner Stiftung in der Via Andegari in Mailand eingeladen. Ich ging hin, nahm Duccio Berio mit und war überrascht, der einzige von der Universität in Trento zu sein, der zu dem kleinen Abendessen eingeladen worden war. Anwesend waren noch vier oder fünf Jugendliche aus der Mailänder Bewegung, ein paar deutsche Genossen, zwei Franzosen von der Gauche Prolétarienne und ein Portugiese. Wir sprachen über die Situation in Europa, über den Pariser Mai und von den Verbindungen zwischen Studenten und Arbeitern. Feltrinelli bat mich um einen detaillierten Bericht über unsere Trentiner Erfahrungen. Sonst nichts. Dieses Treffen war nur eine erste Kontaktaufnahme zum Gedankenaustausch.
Wie war dein erster Eindruck?
Er schien mir ein sympathischer Mann zu sein. Mir gefiel sein lautes Gelächter, seine unbekümmerte Art, bestimmte Themen anzugehen, seine Fähigkeit zuzuhören. Im August '69 begab ich mich in die Büros seines Verlages, um ihm meine Studie über die Sozialstruktur der italienischen Armee zu zeigen. Wir sprachen nur ganz kurz über meinen Text, aber diskutierten lange über die Situation bei Pirelli und mein Engagement in Mailand.
Einige Monate später bestellte er mich in das ligurische Hinterland, in das Haus eines alten, mit ihm befreundeten Partisanen. Ich blieb ein paar Tage dort, und unsere Beziehung wurde enger. Er wollte genaue Informationen über den Fall Pisetta, den ich als Leiter des Ordnungsdienstes der Trentiner Studentenbewegung sehr genau verfolgt hatte.
Marco Pisetta war ein Bergführer in den Alpen, der mit den marxistisch-leninistischen Kreisen von Trento sympathisierte. 1968 wollte ich einmal »etwas Konkretes« gegen den Vietnamkrieg machen. Ich glaubte, es wäre nicht schlecht, eine kleine amerikanische Garnison in 2000 Meter Höhe, auf dem Gipfel des Paganella, in die Luft zu jagen. Ich bat Pisetta um seine Hilfe, und er war sofort bereit. Unser Vorhaben war undurchführbar, aber ich behielt diesen Tag, unsere Kletterpartie, als ein sehr schönes Bergerlebnis in Erinnerung.
Ein Jahr später, im April '69, agierte er auf eigene Faust und ließ einige Sprengsätze im Sitz des Inps7.1, in einem Supermarkt und nahe einer Carabinierikaserne hochgehen. Als sie ihn jagten, beschlossen wir, ihn von der Bewegung aus zu unterstützen. Wir stellten ihn in unserer kleinen Zeitung als den ersten verfolgten italienischen »Revolutionär« vor.
Ich kümmerte mich um ihn und half, seine Flucht zu organisieren. Ich beschaffte ihm ein kleines Zimmer in Mailand, aber nach einer Weile klagte er, daß er sich einsam fühlte. Also führte ich ihn in meinen Freundeskreis in Lorenteggio ein. Da gab es die »Scharfschützin«, den Alten, »die Bombe«, ein korpulenter Expartisan, der sich in einen ausgezeichneten Koch verwandelt hatte, und viele andere, die rund um die Piazza Tirana ihr malerisches Leben führten und ihren kleinen existentialistischen Abenteuern nachgingen. Marco fühlte sich in dieser Umgebung wohl. Hier konnte er sich außerdem kleine Jobs besorgen.
Feltrinelli war über meine Pro-Pisetta-Aktivitäten informiert und sagte, daß er diesen Seiten des revolutionären Lebens, die in der Regel zu sehr vernachlässigt würden, viel Bedeutung beimesse.
Erzählte er dir auch von den klandestinen Aktivitäten seiner GAP?
Nicht bei jener Gelegenheit. Aber er fragte mich, ob ich an der Debatte über die technisch-organisatorischen Probleme des bewaffneten Kampfes interessiert sei, und ließ mir die Broschüren der Tupamaros und das Handbuch des Stadtguerilleros von Marighella zukommen.
Ab dem Zeitpunkt, Ende '70, als wir begannen, die Roten Brigaden zu organisieren, wurden unsere Begegnungen häufiger. Ich traf ihn in der Regel zusammen mit Franceschini, manchmal aber auch alleine. Wir verabredeten uns immer in den kleinen Grünanlagen an der Piazza Castello und gingen von dort in eine seiner vielen mehr oder weniger geheimen Wohnungen.
Ich erinnere mich daran, daß er mir einen seltsamen Tarnnamen gab: »Gelber Pullover«.
»Aber warum gelber Pullover?«, fragte ich ihn, »ich trage nie etwas Gelbes.«
Er antwortete feixend: »Ich weiß schon warum, eines Tages werde ich es dir sagen.« Aber er starb an dem Strommast, ohne mir den Spitznamen erklärt zu haben.
Nach der Rückkehr von einer Kubareise erzählte er, daß er verschiedene bolivianische, uruguayische und brasilianische Revolutionäre getroffen habe, die ihm von ihren Erfahrungen in der Stadtguerilla berichtet hatten. Erfahrungen, die er uns weitervermitteln wollte. Und so gab er eine Reihe »Unterrichtsstunden« für uns.
Eine Akademie der Guerilla?
In einem gewissen Sinne. Ich verstehe, daß es leicht ist, ironisch darauf zu reagieren, und über Giangiacomo ist viel gelächelt worden. Aber sein Engagement war aufrichtig und einige seiner Hinweise auch nützlich. Er zeigte uns Techniken, um Ausweise zu fälschen, wie man Wohnungen anmietet, ohne Verdacht zu erregen, welches die Eigenschaften eines sicheren, geheimen Zufluchtsortes sein sollten ...
Ich lernte ihn als jemanden kennen, der sehr besorgt über die Möglichkeit eines putschistischen Kurswechsels in Italien war. Er nahm große Opfer in Kauf, damit die Linke schließlich nicht einer unumkehrbaren Situation unvorbereitet gegenüberstünde. Er analysierte die italienische und internationale Lage und kam zu dem Schluß, daß es unbedingt notwendig sei, auch in Europa die Stadtguerilla aufzubauen. Und da in Europa, wie er ständig erzählte, kaum eine Tradition oder gar Kenntnisse über Guerillamethoden und Strategien existierten, sah er sich in der Rolle des Vermittlers von Informationen und historischen Erfahrungen und als Initiator. Nicht nur im Hinblick auf uns Brigadisten, sondern auch für die deutschen Genossen der RAF und die Franzosen.
Einmal schenkte er uns einige Radiosender, die er in Deutschland besorgt hatte, und schlug uns vor, Piratensendungen zu machen, so wie er sie mit Radio GAP in Genua, Trento und Mailand organisierte. Wir versuchten uns von einem Haus am Mailänder Stadtrand aus in eine Radionachrichtensendung einzublenden. Es gelang uns, für wenige Sekunden in einem Dutzend Häuser der Umgebung empfangen zu werden. Ein anderes Mal brachte er uns Pläne und technische Daten für den Bau einer Panzerfaust. Er hatte sie von den Tupamaros bekommen. Wir haben sie allerdings nie gebaut. Die Unterlagen wurde einige Zeit später von der Polizei in einer unserer Wohnungen beschlagnahmt.
Im Rahmen seiner »Unterrichtsstunden« unterwies Feltrinelli eines Tages Franceschini und mich über die Notwendigkeit, den »kleinen Rucksack des Guerillero« immer bereitzuhalten.
»Was ist der kleine Rucksack des Guerillero?« fragten wir verblüfft. »Das ist ein überlebensnotwendiges Werkzeug, nach den Guerillaerfahrungen in Lateinamerika und den Lehren des Che Guevara etwas Unerläßliches«, antwortete er uns. »Er muß immer griffbereit liegen, so daß die Flucht immer möglich ist. Er muß Ersatzkleidung enthalten, Ausweise, Geld, all das, was bei einer Flucht aus der Stadt notwendig ist, sowie ein Tütchen Salz und Zigarren.«
»Entschuldige«, fragte ich, »aber wozu das Salz?« »Weil Salz in Lateinamerika ein knappes und wertvolles Gut ist.«
»Na gut, aber wir sind hier in Mailand, und Salz kann man überall bekommen.« »Das macht nichts, das Salz gehört zur Tradition des Guerillero, es muß dabei sein.«
»Und warum die Zigarren?« »Che Guevara sagte, daß in den Stunden der Einsamkeit die Zigarre der beste Freund des Guerillero ist. Das ist eine Tradition, die respektiert werden sollte.«
Diese Anekdote wurde über die Jahre weitererzählt, und sie ist uns ein wenig zum Symbol der Erinnerung an Feltrinelli geworden. Lange Zeit steckten viele von uns immer ein wenig Salz und ein paar Zigarren in die Köfferchen, die wir für eine plötzliche Flucht ständig bereithielten. Natürlich keine Havannas, sondern einfacheToscanellis.
Auch auf der Grundlage von Anekdoten wie dieser wurde Feltrinelli das Klischee des revolutionären Milliardärs angehängt, der ein wenig unbedarft und leicht überdreht einem naiven Extremismus anhing. Scheint dir dies völlig aus der Luft gegriffen?
Naja, er war schon ein kleiner Spaßvogel und besaß einen ausgeprägten Sinn für Humor. Aber er war keineswegs naiv oder leichtsinnig. Sicher, er war sehr reich, und das zog viele böswillige Bemerkungen nach sich.
Aber sein wirkliches Problem lag woanders. Meiner Meinung nach vertrat er in kohärenter Weise politische Standpunkte, die von verschiedenen Kräften zum Ausdruck gebracht wurden. Er vertrat ein Guerillakonzept, das dem bewaffneten Kampf einen guevaristischen Stempel aufdrückte. Demnach sollte der Aufbau von kämpfenden Zellen dazu dienen, die Kämpfe propagandistisch zu unterstützen, um später eine Sympathisanten- und Unterstützerfront aufzubauen. Er glaubte letztendlich an die Wirkung kleiner Avantgardegruppen. Das Paradoxe war, daß seine Position im Gegensatz zu jenen stand, die ihm am nächsten waren. Eine war die secchianische7.2 Vorstellung des »betrogenen Widerstandes«, die von vielen ehemaligen Partisanenkommandanten vertreten wurde, mit denen Feltrinelli in den Regionen Piemont, Ligurien und Emilia Beziehungen unterhielt. In der klassischen kommunistischen Tradition stehend, verstanden diese Genossen den Übergang zum revolutionären Kampf nur als Umsetzung einst aufgegebener Positionen. Dann gab es noch die Position von Potere Operaio, die sich ebenfalls radikal unterschied. Sie sah die Entwicklung der Kämpfe aus einer Optik, die vollkommen mit den Fabriken und der Arbeiterbewegung verknüpft war. Aus deren Mitte heraus sollten sich Zellen organisieren, die imstande wären, ihre Macht auszudehnen. Die dritte Position war die unsrige, die der Roten Brigaden, ziemlich nahe an der von Potere Operaio. Sie unterschied sich von ihr im wesentlichen in der Art, wie man sich den »bewaffneten Arm« vorstellte. Während PotOp eine Art Zweigleisigkeit vertrat, also eine politische Organisation und ein militärischer Kern, die voneinander getrennt sind, vertraten wir die politisch-militärische Einheit und gingen davon aus, daß die zwei Elemente untrennbar verbunden und wechselseitig wirken müßten. So fand sich Giangiacomo praktisch alleine wieder. Gefangen zwischen Diskussionen und Entwicklungen, die ihm nicht geistesverwandt waren. Ich würde sagen, er war durch seinen eigenen Internationalismus isoliert.
»Osvaldo«7.3 ist beim Anbringen eines Sprengsatzes an einem Strommast von Segrate am Abend des 14. März '72 ums Leben gekommen. Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen, und wie hast du von seinem Tod erfahren?
Ungefähr einen Monat zuvor. Damals trafen wir uns nicht mehr so oft, da zwischen den BR und den GAP ohnehin direkte Beziehungen bestanden, vor allem mit der Brigade Valentino Canossi, die Sabotageaktionen auf Baustellen durchführte, auf denen es »weiße Morde« gab. Es waren Jugendliche aus den proletarischen Stadtteilen Mailands, vor allem aus Lorenteggio, die sich in Feltrinellis Umfeld befanden und sich nach seinem Tod den Roten Brigaden annäherten.
Am Morgen des 16. März verließ ich mit Margherita unsere Wohnung in der Via Inganni. Wir kauften am Kiosk vor dem Haus Zeitungen. Im Corriere della Sera stand die Meldung, daß ein zerfetzter Körper gefunden worden sei. Dazu war das Foto eines Mannes abgebildet, der Maggioni heißen sollte.
Wir waren schockiert. Es handelte sich um einen Anschlag, von dem wir nichts wußten und der nicht in den gewohnten Rahmen paßte. Margherita schaute sich das Foto genau an und meinte, daß der Mann ganz wie Osvaldo aussah.
Wir setzten unsere Buschtrommeln in Gang. Wir versuchten die GAP und die Jungs der Canossi zu kontaktieren. Es war aber auf die Schnelle unmöglich, irgend jemanden zu erreichen. Daher wußten wir nicht genau, was wir glauben sollten, als die offizielle Bestätigung kam, daß es sich um die Leiche Feltrinellis handelte. Die Angelegenheit war aber auf jeden Fall aufsehenerregend. Es war der erste Tote aus dem Kreis der Genossen, die angefangen hatten, über den bewaffneten Kampf nachzudenken. Als Rote Brigaden konnten wir natürlich nicht schweigen. Wir beschlossen uns der Version der anderen Linken anzuschließen und schrieben in einem Flugblatt, daß der revolutionäre Verleger auf obskure Weise von der imperialistischen Bourgeoisie ermordet worden war.
»Potere Operaio« hingegen veröffentlichte in ihrer Zeitung einen langen Artikel, der die Wahrheit darlegte. Daß der »revolutionäre Genosse« Feltrinelli bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen war, bei der Vorbereitung eines Anschlags.
So ist es. Der Artikel von Potere Operaio erschien einige Tage später und ordnete die Fakten richtig ein.
Wir beschlossen auf der Stelle, eine genaue Untersuchung durchzuführen, um dahinterzukommen, wie die Dinge tatsächlich gelaufen waren. Wir sprachen mit Augusto Viel, einem Leitungskader der GAP, und suchten »Gunther« auf, einen alten Partisanen, der rechte Arm Feltrinellis bei dessen letzten Unternehmungen. Er war in alles eingeweiht und am Abend des 14. März ebenfalls unterwegs gewesen, um Strommasten zu sabotieren. Antonio Bellavita, Chefredakteur der Zeitschrift Controinformazione, zu der wir enge Beziehungen unterhielten, übernahm die Aufgabe, alle Aussagen zusammenzutragen, um sie dann in einem Buch zu veröffentlichen.
Aber das Buch erschien nicht. Einige Zeit später als Bellavita habe ich ebenfalls die Rekonstruktion von Feltrinellis Tod, wie es sich nach »Gunthers« Darstellung zugetragen hatte, aufgezeichnet: Meine Erzählung wurde dann im »Espresso« veröffentlicht. Warum habt ihr eure Untersuchung damals nicht öffentlich gemacht?
Die Recherche war langwierig und schwierig. Die GAP waren dabei zu zerfallen. Außer »Gunther« waren die wenigen Leute, die Feltrinelli während seiner letzten Aktionen nahestanden, panisch geflohen. Als die Untersuchung endlich abgeschlossen war, fielen die gesamten Unterlagen den Carabinieri in die Hände. Sie fanden sie in unserer Wohnung in Robbiano di Medigliana im November '74.
Die Version, die wir recherchiert hatten, stimmt jedenfalls exakt mit der Darstellung überein, die dir »Gunther« geliefert hat und die mittlerweile zur Genüge bekannt ist.
Wäre Feltrinelli zum Brigadisten geworden, wenn er '72 nicht umgekommen wäre?
Wie könnte ich das bejahen? Wie sollte ich das verneinen?
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