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Opfer der Opfer

Eine verschworene Gemeinschaft zeichnet sich u.a. dadurch aus, daß sie bestimmten Worten und Begriffen eine Bedeutung zuschreibt, die für Außenstehende ohne Erklärung nicht nachvollziehbar ist. Wie weit sich Deutschlands gute Menschen auf dem Weg dieser augenzwinkernden Kumpanei befinden, läßt sich daran ablesen, daß jeder weiß, wer mit den »Opfern der Opfer« gemeint ist: die Palästinenser. Obwohl der Begriff aus Empörung geboren wurde, kann man nicht behaupten, daß diejenigen, die die Wendung gerne und häufig gebrauchen, nicht wissen würden, wovon sie reden.

Ausgerechnet die Juden, so lautet die Botschaft, die doch aus ihrem »Schicksal« gelernt haben und doch wissen müßten, was es heißt, Opfer zu sein, machen mit den Palästinensern das gleiche wie die Nazis mit ihnen. Obwohl die Lektion der Deutschen nicht eindeutiger hätte ausfallen können, scheint sie aus ihnen keine besseren Menschen gemacht zu haben. Die mit großem Interesse die Ereignisse in Palästina verfolgenden ehemaligen Täter verstehen die nationalsozialistische Behandlung der Juden als Läuterungsprozeß. Da haben sich die Nazis so viel Mühe gegeben, und jetzt werden ihre Erziehungsmethoden von den Juden einfach kopiert.

Man weiß nicht so recht, ob es sich um eine Verwechslungskomödie handelt oder um einen verunglückten Kostümschinken: die Palästinenser in der Rolle der von den Nazis verfolgten Juden, die Juden in der Rolle der Nazis. Warum sich die Deutschen als ehemalige Täter besonders verpflichtet fühlen, in diesem Stück Regie zu führen, hat eine Vorgeschichte, in der die Linke alten antisemitischen Klischees im neuen Gewand zum Durchbruch verhalf, die heute zum guten Ton der Betroffenheit gehören.

Nicht daß es nach 1945 keinen Antisemitismus mehr gegeben hätte, aber antisemitische Äußerungen waren in der Öffentlichkeit dank Springer verpönt. Die Deutschen hielten den Mund, und das war gut so. Erst als die radikale Linke ihr Herz für die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt entdeckt hatte und damit auch für das kämpfende palästinensische Volk und erst als Dieter Kunzelmann in den in Schöneberg geschriebenen »Briefen aus Amman« seine Genossen aufforderte, endlich den »Judenknax« zu überwinden und »eindeutige Solidarität mit AL FATAH« zu zeigen, »die im Nahen Osten den Kampf gegen das Dritte Reich aufgenommen hat«, kam langsam Bewegung in das Nachkriegsarrangement, die Frage nach der Schuld am besten gar nicht erst zu stellen. Jetzt wurde sie neu gestellt.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1969 legten die »Schwarzen Ratten Tupamaros Westberlin« eine Brandbombe in das jüdische Gemeindehaus und verkündeten in einem Bekennerschreiben: »Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst Faschisten geworden, die ... das palästinensische Volk ausradieren wollen.« Und Ulrike Meinhof und Horst Mahler begrüßten das Attentat auf die israelische Olympiamannschaft durch den »Schwarzen September« als »mutiges Kommando ... gegen zionistische Soldaten, die in München als Sportler auftraten.«

Vor allem aber der israelische Feldzug gegen die PLO im Sommer 1982 machte aus der minoritären Position linksradikaler Gruppen eine populäre Meinung. War es bisher der Deutschen National- und Soldatenzeitung vorbehalten, von »Völkermord« und »Holocaust an den Palästinensern« zu schreiben, machte ihr die taz an der Beiruter Front nun Konkurrenz. Redakteur Reinhard Hesse warf »Millionen von Israelis« vor, den mit »rassistische[r] Perfektion« verübten »Völkermord an den Palästinensern« zu billigen. Und der alternative Grüne Kalender forderte seine Leser auf: »Kauft nicht bei Juden.«

Jürgen Reents von den Grünen brachte das raunende Vorurteil schließlich auf die griffige Formel von den »Opfern der Opfer«, die dann zum Gegenstand einer ergreifenden Rede Dieter Kunzelmanns im Berliner Abgeordnetenhaus wurden, zu der ihm parteiübergreifend Landowski von der CDU gratulierte. Der Begriff gehörte zum Allgemeinwissen des pathologisch reinen Gewissens, und die Intifada sorgte in Zeiten der Flaute für Konjunktur. Wenn nach dem Abkommen zwischen israelischer Regierung und Arafats PLO der Begriff der Geschichte angehört, dann nicht deshalb, weil er sich historisch erledigt hätte, sondern weil er seine Funktion erfüllt hat.

»Opfer der Opfer« diente der Entlastung der Deutschen. Niemand braucht sich mehr Vorwürfe wegen der Judenvernichtung zu machen, denn schließlich sind die Juden auch nicht besser. Aus den Opfern wurden Verfolger, und niemand weiß das besser als die Verfolger, die in Wirklichkeit Opfer sind. In Abwandlung einer Zeitdiagnose Horkheimers von 1960 könnte man sagen, daß sich die Deutschen vom »kleinlaut[en] und formell gewordene[n] Schuldbekenntnis« verabschiedet haben, um sich »zum rechten Patriotismus wieder das gute Gewissen zu machen«.



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