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Inhaltsverzeichnis Inhalt Maria Mies: Die Krise als Chance Aufwärts

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Was ist das für eine Krise?

Ehe ich mich den - hoffnungsvollen - Alternativen zuwende, ist es notwendig, über den Charakter der derzeitigen Krise nachzudenken. Worin besteht sie, welche Dimensionen unseres Lebens betrifft sie, wie weit reicht sie?

Zunächst ist festzustellen, daß es sich bei dem, was hier und heute Krise genannt wird, um eine ökonomische Krise handelt, allerdings nicht nur um eine jener zyklischen wirtschaftlichen Talfahrten, die nach der Lehre der neoklassischen Wirtschaftstheorie wieder durch einen Aufschwung abgelöst wird. So wie uns die Ökonomen - rechtzeitig vor der Bundestagswahl - versicherten, es ginge wieder aufwärts mit der Weltwirtschaft. Die Krise, von der hier die Rede ist, geht tiefer und reicht weiter.

Sie ist auch nicht erst jetzt hier aufgetaucht, sondern ist im Grunde genommen schon eine Dauerkrise, seit es den Kapitalismus gibt. Sie ist natürlich zunächst eine ökonomische Krise, die sich trotz wieder steigenden Bruttosozialprodukts im Zusammenbruch von Firmen manifestiert, in der wachsenden oder stagnierenden Erwerbslosigkeit, schrumpfenden Märkten für langlebige Wirtschaftsgüter und einer wahnsinnig gestiegenen Konkurrenz auf allen Märkten. Obwohl die Politiker und Ökonomen das Volk zu beruhigen versuchen, die Krise sei eine vorübergehende und werde durch Investitionen in »Zukunftstechnologien« wie die Biotechnologie überwunden, glauben die Menschen das nicht mehr. Es wird immer deutlicher, daß das Paradigma des unbegrenzten Wachstums nicht nur ökologisch eine Katastrophe ist, sondern auch ökonomisch nicht »nachhaltig« ist, weder im Süden noch im Norden.

Die Armut ist allzu sichtbar in die Zentren des reichen Nordens zurückgekehrt. In Deutschland beispielsweise ist die Zahl der Obdachlosen auf eine Million Menschen gestiegen. Im Winter 1992/93 sind in Deutschland 30 Menschen erfroren, und es gibt immer mehr Bettler. In London übernachten Menschen in Pappkartons. Die Zahl der Erwerbslosen ist in den letzten Jahren - besonders in Ostdeutschland - enorm angestiegen und stagniert mehr oder weniger trotz angeblichen Konjunkturanstiegs. Das neue Phänomen dieser Krise ist das Andauern des wirtschaftlichen Wachstums in den Industrieländern; gleichzeitig ist die Verschuldung der »Dritten Welt« ins Unermeßliche gestiegen: 1992 wurde sie auf 134, 3 Milliarden US-Dollar beziffert. In der Subsahara war die Verschuldung viermal so hoch wie das Bruttosozialprodukt aller Drittweltländer zusammen.

Natürlich sind Frauen von Erwerbslosigkeit und dieser »neuen« Armut in den Industrieländern stärker betroffen als Männer, und ältere stärker als junge. Vor allem viele alleinlebende Mütter leben bereits unter der Armutsgrenze, d.h. sind Sozialhilfeempfängerinnen - und wir werden daran gewöhnt, daß dies »normal« sei. Die Prognosen für die Zukunft, wie sie beispielsweise das Prognos-Institut bis zum Jahr 2000 errechnet hat, sehen zwar ein Wirtschaftswachstum vor, aber auch die Fortdauer der Erwerbslosigkeit und Unterbeschäftigung. Es entsteht das, was die Ökonomen »jobless growth« nennen. Doch selbst diese Erwartungen bezeichnen Hickel und Priewe noch als zu optimistisch, da sie von einer erfolgreichen Reindustrialisierung Ostdeutschlands ausgehen, die ihrer Meinung nach nicht stattfinden wird.5.1 Sie erwarten vielmehr eine weitere Spaltung der Gesellschaft nach dem Muster der Zweidrittelgesellschaft mit etwa 6 Millionen Erwerbslosen.5.2 Die Rückkehr der Armut in die Industrieländer hat noch drastischere Formen im reichsten Land der Welt angenommen, nämlich in den USA. Hier spricht man schon von einer »Drittweltisierung« des Landes.

Erstaunlicher als diese Tatsache ist jedoch, daß den »Verantwortlichen« in Wirtschaft und Politik auch keine anderen Strategien einfallen als die, die sie bisher - auch ohne Erfolg - der »Dritten Welt« vorgeschlagen haben. Da nämlich der Keynesianismus und die Vollbeschäftigung endgültig am Ende zu sein scheinen, soll die »informelle Ökonomie« ausgeweitet werden. Der deutsche Wirtschaftsminister Rexrodt hat vor einiger Zeit die Bildung eines Billiglohnsektors innerhalb Deutschlands vorgeschlagen, wo die Löhne niedriger, die Arbeitszeiten länger, der Arbeitsschutz geringer sei als das, was die Gewerkschaften für den formellen Sektor durchgesetzt haben. Dies entspricht dem sogenannten Deregulierungsmodell, das wir seit langem schon in der »Dritten Welt« beobachten können. Wie dort empfiehlt der Minister, daß vor allem Frauen in diesem Billiglohnsektor arbeiten sollen. Denn gleichzeitig erfolgen die Kürzungen der staatlichen Ausgaben vor allem im Sozialbereich, in dem nicht nur viele Frauen tätig sind, sondern von dem sie auch abhängig sind: Gestrichen werden Gelder für Kindergärten, Frauenhäuser, Wohngeld u.a. Wie in den verschuldeten Ländern des Südens, die unter dem Regime der Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds leiden, sind die Betroffenen dieser Strategie hauptsächlich ärmere Frauen.

Rexrodt schlägt nicht nur einen Billiglohnsektor in Deutschland vor, um so der Konkurrenz aus den Billiglohnländern des Südens - und jetzt des Ostens - und der Abwanderung des deutschen Kapitals in andere Billiglohnländer entgegenzuwirken, er progagiert nicht nur eine duale Ökonomie mit einem formellen und einem informellen Sektor, sondern er schlägt - wie in der »Dritten Welt« auch - den privaten Haushalt als Standort für die neuen Jobs vor, die vor allem im Dienstleistungsbereich angesiedelt werden sollen. Natürlich denkt er auch nicht an Männer als Arbeiter in diesem Bereich, sondern an Frauen, Hausfrauen. Der private Haushalt sei, so Rexrodt, »ein attraktiver Arbeitsplatz, besonders für Frauen mit kleinen Kindern, wo sie ihre Erfahrung voll nutzen können«.5.3

Dieses Statement zeigt, daß Politik und Wirtschaft heute in den reichen Ländern keine andere Strategie verfolgen als die, die wir (Veronika Bennhold-Thomsen, Claudia von Werlhof und ich) bereits 1982 in unserer Ansalyse der Kapitalakkumulation, vor allem in der »Dritten Welt«, die »Hausfrauisierung der Frauen« genannt haben.5.4

Frauen werden durch diese Strategie nicht nur aus dem formellen Sektor verdrängt, es wird auch sichergestellt, daß die notwendigen Sozialen Dienste für Kinder, Kranke, Alte usw. den Wohlfahrtstaat nicht zu viel kosten. Allerdings ist zu erwarten, daß mit dem Andauern der Krise in Zukunft auch mehr Männer hausfrauisiert werden.

Claudia von Werlhof schrieb schon Anfang der achtziger Jahre in ihrem Aufsatz »Der Proletarier ist tot, es lebe die Hausfrau«, daß »nicht die Verallgemeinerung der Hausarbeit der Traum aller Kapitalisten« sei. »Es gibt keine billigere, produktivere, fruchtbarere menschliche Arbeit, und man kann sie auch ohne Peitsche erzwingen. Die Umstrukturierung der Ökonomie wird ein Versuch sein, das weibliche Arbeitsvermögen auch den Männern anzuerziehen ... Denn der Lohnarbeiter macht zu wenig und kann zu wenig. Er kann nur tun, was bezahlt wird und was vertraglich vereinbart wurde. Er tut nichts darüber hinaus, und er hat keine Ahnung von Menschenproduktion. Er funktioniert als Roboter, als Anhängsel der Maschine, entemotionalisiert ... Er arbeitet zu kurz und ist zu schnell erschöpft. Er hat keinen Grund, innovativ zu werden, und kein Motiv für die Arbeit, er ist nicht rundherum, als ganze Person, als ganzer Mensch mobilisierbar. Das männliche Arbeitsvermögen ist viel zu unflexibel und ''unfruchtbar''«.5.5

Was uns auf der Grundlage der Nicht-Lohnarbeit der Hausfrau und damals der SubsistenzproduzentInnen der »Dritten Welt« klar wurde, trifft heute voll auch für die reichen Länder des Nordens zu: die Hausfrauisierung der Arbeit.

Die heutige Krise ist jedoch nicht nur eine ökonomische. Sie ist vielmehr verknüpft mit einer Reihe weiterer Krisen; oder anders ausgedrückt, die derzeitige Krise hat verschiedene, miteinander verbundene Dimensionen: neben der ökonomischen die ökologische, die soziale, die politische, die ethische und die psychologische Dimension. Nicht zuletzt sind wir mit einer enormen Krise des Denkens, einer Erosion des gesunden Menschenverstandes, einer Konfusion des Erkennens und mit einem Mangel an Orientierung und Perspektiven konfrontiert.

Die ökologische Krise wurde in den letzten Jahren in den Vordergrund gerückt, und es wurde genug über ihre Ursachen geschrieben. Inzwischen wird weltweit auch zugegeben, daß diese Krise durch das wachstums- und fortschrittsorientierte Industriesystem, verbunden mit Ressourcenverbrauch, der Ausbeutung der »Dritten Welt« und einem verschwenderischen Lebensstil im Norden, verursacht wird. Doch anstatt das Dogma des permanenten Wachstums abzuschaffen und den Konsumstil drastisch zu ändern, setzen Wirtschaft und Politik unter dem Schlagwort »sustainable growth« auf weiteres Wachstum, auf mehr »quantitatives« Wachstum im Süden und mehr »qualitatives« Wachstum im Norden. Das ist natürlich die Quadratur des Kreises innerhalb eines begrenzten Planeten. Auch der Club of Rome vertritt dieses Wachstumsmodell in seinen aktuellen Positionen. Der Begriff »sustainable growth« wurde zudem von den multinationalen Konzernen sofort vereinnahmt, um den Anschein einer Lösung der ökologischen Krise zu vermitteln. Der deutsche Multi Hoechst hat beispielsweise kürzlich in der »Frankfurter Rundschau« ein ganzseitiges Inserat publizieren lassen mit dem Titel: »Sustainable growth - damit unsere Kinder noch eine Zukunft haben.«

Dieser »grüne Kapitalismus«, der auf umweltfreundliche Technologie setzt, soll der Wirtschaft neues Wachstum und den Erwerbslosen neue Arbeitsplätze bescheren. An den ausbeuterischen Verhältnissen zwischen Männern und Frauen, Klassen, reichen und armen Ländern soll nichts geändert werden: eine typische Strategie des weißen Mannes zur Lösung der Krise. Die ökonomische Krise verführt zudem dazu, die bescheidenen Anfänge einer ökologischen Umkehr vom traditionellen Wachstumsmodell wieder zu blockieren oder sogar rückgängig zu machen.

Die soziale und psychologische Dimension der Krise kann vor allem im Zusammenbruch des sozialen Friedens in den Metropolen der Industrieländer beobachtet werden. Dies wird meist mit Stichworten wie Zunahme der Kriminalität, der Gewalt, der Selbstmordraten, des Drogenkonsums u.a. belegt. Die sogenannte »civil society« ist heute der Ort einer enormen Brutalisierung des Alltagslebens, einer zunehmenden »Ramboisierung« der Männer, die vor allem Frauen und Mädchen betrifft, und einer Abstumpfung gegenüber grundlegenden menschlichen Werten und Empfindungen. Die zwei Jungen, die in Liverpool ein zweijähriges Kind töteten, ahmten nach, was sie in Gewalt- und Horrorvideos gesehen hatten. Die Unterhaltungselektronikindustrie hat in ihrer Konkurrenz um Märkte keine Bedenken, die Phantasie der Erwachsenen und Kinder zu vergiften und so ein Klima des Sozialdarwinismus zu schaffen, in welchem nur die Brutalsten überleben. Die Philosophie von Hobbes, Darwin und Adam Smith wird am Ende dieses Jahrhunderts nicht nur »draußen« in den Kolonien, sondern mitten in der »Zivilgesellschaft« praktiziert. Werte wie Solidarität, Achtung, Verantwortung, Mitgefühl oder Sorge um andere verschwinden aus dem Alltagsleben. Übrig bleibt der Kampf aller gegen alle - die Hobbessche Grundannahme.

Dieser Kampf muß nun zunehmend von atomisierten Einzelnen geführt werden, denn die bisher noch funktionierenden Gemeinschaften - Familie, Nachbarschaft, Verwandtschaft, Gemeinde - sind zum großen Teil zerfallen. Das heißt, dem harten Konkurrenzkampf im Arbeitsleben steht nicht einmal mehr ein mehr oder weniger intaktes Rückzugsgebiet zur psychischen Reproduktion der Menschen zur Verfügung, wie es z.B. die traditionelle Familie mit der Hausfrau für die Reproduktion der männlichen Arbeitskraft darstellte.

Die politische Dimension der Krise ist engstens verknüpft mit der ökonomischen und ökologischen. Sie ist vielfältig und vielschichtig. Besonders in den Industrieländern wird mehr und mehr deutlich, daß das »Volk«, die Wählerschaft, immer weniger Macht hat, das politische Geschehen mitzugestalten. Nicht nur wegen einer immer undurchschaubareren Bürokratie, sondern auch wegen der neuen ökonomisch-politischen Blockbildungen wie EU, NAFTA, APEC, welche die nationalen Demokratien quasi außer Kraft setzen. Hinzu kommen die neue mafiaartige Politik und die Korruption in den Parteiendemokratien, wie es vor allem in Italien der Fall ist. Die Machtspiele derer »da oben« werden für viele immer undurchschaubarer, und sie wenden sich angeekelt gänzlich von der Politik ab mit der Haltung: »Da kann man sowieso nichts ändern.«

Diese Ohnmachtsgefühle werden noch deutlicher im Zusammenhang mit den sogenannten neuen Zukunftstechnologien wie z.B. der Gentechnologie.



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