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Vorwort

»Der Aufschwung beginnt im Kopf« betitelten 1994 einige Topwerbeleute eine Plakatkampagne. Sie versuchten damit zu suggerieren, daß die von der Krise Betroffenen in einer Art Delirium vor sich hinsiechen und deshalb nicht auf den Gedanken kämen, ihre persönliche Situation selbst in die Hände zu nehmen und sich ganz einfach an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Die Botschaft war klar: Die Schuldigen an der Krise sind die von ihr Betroffenen. Damit wäre das Thema Krise endlich so positioniert, daß sich die Deregulierenden nicht mehr mit ihren Opfern auseinandersetzen müssen. Wer zum Beispiel keiner Erwerbsarbeit nachgeht, ist selber schuld und hat nicht automatisch Anrecht auf Arbeitslosengeld; dieser Logik folgend werden nun die betreffenden Gesetze verändert.

Das Kulturzentrum Rote Fabrik in Zürich hat im Herbst 1994 mit dem ersten Teil der Veranstaltungsreihe »Krise - welche Krise?« einige in Europa wichtige Krisentheoretiker und eine Krisentheoretikerin zu Wort kommen lassen. Diese Referate liegen hier in zum Teil überarbeiteter Fassung vor. Die fünf Referate sollen der Auftakt zu einer längeren, kontinuierlicheren Auseinandersetzung zum Thema Arbeit und Krise sein.

Uns ist klar, daß eine Diskussion über Krise und Widerstand auch konkrete Praxis beinhalten müßte. Davon ist zumindest im deutschsprachigen Raum wenig zu spüren. Die versprengte Restlinke ist notwendigerweise mit dem Thema Rassismus beschäftigt - sie vergißt dabei jedoch manchmal, daß der tägliche Rassismus gegen MigrantInnen sehr viel mit deren Ausbeutung als billige, schnell abschiebbare Arbeitskräfte zu tun hat. Bezeichnend ist, daß sich auch mal Unternehmerverbände gegen die Abschiebung spezifischer Gruppen von AsylbewerberInnen wehren (jüngst in der Schweiz z.B. der konservative Wirteverband gegen die Ausschaffung von TamilInnen). Das Gegeneinander-ausspielen von MigrantInnen und Eingesessenen mit mehr oder weniger klaren rassistischen Untertönen funktioniert bestens. Vor zehn Jahren war die Behauptung, Wohnungsnot oder Arbeitslosigkeit sei den vielen »AusländerInnen« anzulasten, noch vornehmlich in Programmen der rechtsextremen Parteien zu finden. Heute bedienen sich mehr und mehr arrivierte PolitikerInnen dieser Argumentationsweise. Daneben läuft der Sozialabbau schon fast reibungslos, werden einstige Tabus wie Lohnabbau und Rentenaltererhöhung mit bestürzender Leichtigkeit geknackt und mit der Erklärung verpackt, daß »wir« »uns« gegen den Rest der Welt zu behaupten hätten und daher »unsere« Wirtschaft abspecken müsse - Identitätsbildung noch beim Abzocken.

Die von uns eingeladenen ReferentInnen sind keine Wunderbringer. Was sie auslösen können, sind Diskussionen zur besseren Einschätzung aktueller Entwicklungen und Möglichkeiten von Organisierung der Ausgebeuteten. Zu hoffen ist, daß ihre unterschiedlichen Herangehensweisen und Schwerpunkte enge Blickwinkel ausweiten und innerlinke Widersprüche offenlegen. Eher uninteressant wäre dabei, wenn alles beim alten linken Spiel bliebe, sich gegenseitig Fehleinschätzungen vorzuhalten und Wortklauberei zu betreiben. Jede linke Krisenanalyse, die nicht der aktuellen Entwicklung hinterherhinken will, müßte sich eigentlich als Werkzeug zur Findung neuer Handlungsmöglichkeiten für einzelne und Gruppen, zum Widerstand gegen postfordistische Konzepte und deren eigendynamische Ausbeutungsgier bewähren, sich an der Praxis messen.

Res Strehle hat die Veranstaltungsreihe in der Roten Fabrik eröffnet. Sein Referat gibt einen Überblick über die neueren Krisentheorien in der Linken und seine Sicht der gegenwärtigen ökonomischen Situation in der Schweiz. Ernest Mandel, der unermüdliche Aktivist der vierten Internationalen, schickt seinem Referat ein erheiterndes »dieses Mal irre ich mich nicht« voraus und erklärt ein weiteres Mal in aktualisierter Form sein Modell der »langen Wellen« der kapitalistischen Entwicklung. Das entscheidende Problem der derzeitigen Wirtschaftspolitik sei, daß eine staatliche Kontrolle über den ungeheuren Umfang freischwebender Gelder praktisch unmöglich sei und eine Sanierung des Systems einen sehr hohen Preis verlange, so daß die »lange Welle« der kapitalistischen Depression anhalten werde. Maria Mies sieht die gegenwärtige Krise als Chance zum Ausstieg aus der Akkumulationslogik, da sie nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine politische, soziale und ethische sei. Den freien Markt bezeichnet Maria Mies als »Euphemismus für Gewalt, Armut, Macho-Gehabe, Ausbeutung und Hunger«, neue Konzepte für Wirtschaft und Gesellschaft sollten auf lokale und regionale Produktion sowie Subsistenzwirtschaft aufgebaut sein. Die Ausführungen von Robert Kurz über den unvermeidlichen Kollaps des kapitalistischen Systems und der Finanzmärkte hinterließen beim Publikum einige offene Fragen über die postkapitalistische Zeit und was eigentlich zu tun sei, um sich darauf vorzubereiten. Karl Heinz Roth versucht in seinem Beitrag die am Konkret-Kongreß 1993 und in seinem Buch »Die Wiederkehr der Proletarität« entwickelten Szenarien weiter auszubauen und setzt mit seinem Votum für den Aufbau und die Vernetzung der bestehenden oder neu entstehenden Bewegungen die Sache des Widerstandes gegen die kapitalistische Entwicklung wieder in den Vordergrund.

Wir hoffen, mit dem Abdruck der Referate die Diskussion etwas weiter voranzutreiben.

Konzeptgruppe Rote Fabrik, Zürich



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