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Res Strehle: Marktwirtschaft auf freier Wildbahn - Achtzehn Thesen zur Krise

  1. Jede ökonomische Analyse muß sich vorgängig ihrer beschränkten Reichweite bewußt sein: Sie ist ein kleiner Ausschnitt von Theorie, vorläufiger Stand des Irrtums und nur begrenzt mobilisierend. Versuche, sie zwecks Mobilisierung zu forcieren und mit endzeitlichen Begriffen wie »Spätkapitalismus« zu unterlegen (Ernest Mandel, 1972), erscheinen gut zwanzig Jahre später als gutgemeinte Aufbruchshoffnungen - am untauglichen Objekt. Das Verhältnis zur politischen Ökonomie darf andererseits aber auch kein Konsumverhältnis sein. Minimalziel muß eine aktive Beteiligung aller von Verwertung Betroffenen an der kollektiven Analyse unter gleichzeitiger Abkehr von gesamtgesellschaftlichen »Wir-alle-Perspektiven« sein. Zu vermeiden sind vorab die gängigsten Fragestellungen: Was will die BRD? Droht der Schweiz die Isolation? Liebt Liechtenstein sein Fürstenhaus? Auch vor allzu platten, unversöhnlichen Wir-sie-Gegensätzen ist zu warnen, etwa jenem zwischen Kapitalisten und lohnabhängigem Proletariat. Maximalziel ist eine differenzierte Klassenanalyse in der weltwirtschaftlichen Dimension. Wer sind die Jäger? Wie haben sie sich mit den Löwen arrangiert? Wie sind die Reviere aufgeteilt? Welche Rolle spielt der ken(es)yanische Staat? Der Internationale Währungsfonds (IWF)? Und wie steht's mit dem Mut der Antilopen? Müssen Vegetarier zeitlebens Opfer bleiben? Marktwirtschaft auf freier Wildbahn ist keine Sonntagsschule.

  2. Der Begriff Krise ist so, wie er im folgenden verwendet wird, nicht moralische, sondern ökonomische Kategorie. Er bezeichnet damit weder Hunger, Elend noch Umweltkatastrophen, noch Sinn- oder Staatskrisen, sondern einzig und allein eine tiefgreifende, langandauernde Infragestellung von rentabler Kapitalverwertung. Er bezeichnet mehr als einen kurzfristigen, vorübergehenden Einbruch der Wirtschaft (»Rezession«) und deutet in letzter Konsequenz den möglichen Zusammenbruch von Kapitalismus an. Ausgangspunkt der Verwertungskrise ist nach wie vor die produktive Sphäre (Wertschöpfung und -aneignung, Akkumulation), abgeleitet davon betroffen und ihrerseits neue Ursache die Zirkulationssphäre (Überakkumulation). Mathematisch läßt sich die Frage der Krise auf die Höhe des Strichs in der alten Marxschen Formel G (ursprüngliches Geldkapital) - W (damit produziertes Warenkapital) - G'' (neues Geldkapital nach Verkauf des produzierten Warenkapitals am Markt) reduzieren.

  3. Krise ist aber nicht nur einfach ökonomisch-technisches oder gar mathematisches Ergebnis stockender Kapitalverwertung, sondern Ergebnis eines tendenziell gegensätzlichen Verhältnisses zwischen den Subjekten (TrägerInnen) und den Objekten (Betroffenen) von Kapitalverwertung. Ob sich ein Phänomen wie etwa der im großen Stil geplante Massentourismus in der Südtürkei durchsetzt, entscheiden letztlich weniger die Preisstruktur des Weltmarkts und die Konsumkraft von MetropolentouristInnen (wie etwa Robert Kurz meint) als die praktische Ausdrucksweise des Einverständnisses bzw. der Verweigerung mit dieser Art von Verwertung hier und dort - und zwar weit gefaßt (mit inbegriffen jeder Widerstand nationaler, sozialer und ökologischer Bewegungen dort wie auch die moralischen Skrupel möglicher KonsumentInnen hier).

  4. Wir haben, wie alle lebendigen Objekte von Kapitalverwertung, zusätzlich eine von der Kapitalbewegung unabhängige, eigene Subjektivität und Handlungsfähigkeit. Ob Krise oder nicht, geölte oder harzige Kapitalverwertung hängt entscheidend auch von unserem Verhalten ab zwischen den Polen Komplizenschaft/Anpassung bzw. Verweigerung/Widerstand - je kollektiver wir uns verhalten, um so spürbarer.

  5. Die Krisentendenz ist keine Folge ungeschickter staatlicher Eingriffe, sondern mit Marktwirtschaft untrennbar verbunden und hängt mit dem Widerspruch zwischen dem Rationalisierungswettlauf der Kapitalisten und dessen gesamtgesellschaftlichen Folgen zusammen. Je freier der Markt in den Metropolen, um so kapitalintensiver die Produktion, um so größer auch das Mißverhältnis zwischen der stark wachsenden Nachfrage nach Investitionsgütern und der vergleichsweise zurückbleibenden Nachfrage nach Konsumgütern. Je mehr Markt also, um so mehr Effizienz kompetitiver Unternehmer, um so mehr aber auch gesamtwirtschaftliches Ungleichgewicht.

  6. Krise hat aus Sicht der Kapitalverwertung ein Doppelgesicht: ständig drohender Betriebsunfall bis zur langfristigen Zusammenbruchsperspektive einerseits, Krisenangriff im Sinne der Nutzung oder gar Provokation des Abschwungs als Voraussetzung zur Wiederherstellung neuer Verwertungsbedingungen andererseits (sogenannte »entgegenwirkende Tendenzen«). Kapital geht damit ähnlich halb-freiwillig und mit demselben behaglichen Schaudern in die Krise wie Kinder auf eine Geisterbahn. Denkbar genauso, daß es am Ende gestärkt herausfährt, wie daß es eines Tages nicht mehr herausfährt.

  7. Seit der Weltwirtschaftskrise von 1857/59 hat der Krisenangriff seinerseits das Doppelgesicht von Neuordnung der Art und Weise, wie die Werte angeeignet werden (Akkumulation) sowie der Art und Weise, wie diese Wertaneignung reguliert wird (Regulation). So wichtig es ist, diese beiden Bereiche gedanklich zu trennen, so kurz greift es, ein politisches Programm als Programm anderer (sozialer oder ökologischer) Regulation zu formulieren (wie es etwa Ernest Mandel schon 1972 macht). Ohne fundamentale Änderung der zugrundeliegenden Akkumulationsweise sowie der Geldorganisation sind solche politischen Programme weder sonderlich aussichtsreich noch konkretutopisch, eben höchstens »solare« statt »soziale« Revolutionen (Elmar Altvater).

  8. Jede Krisenanalyse, die den Blick nur auf Markt, Lohnarbeit, formelle Ökonomie, formellen Rechtsstaat richtet, sieht nur die helle Seite des Mondes und wird in ihrem »Verständnis« des Mondes zwischen Sichel und Scheibe stehenbleiben. Sie wird die Spitze des Eisbergs für den Eisberg halten und böse Überraschungen erleben, wenn sie die kleine Scholle nur mal rasch beiseite schieben will. Sie wird insbesondere das »Geheimnis der ursprünglichen Akkumulation« nicht oder (wie Karl Marx) nur historisch verstehen, bemerkt wohl die erlöschenden »Lichter des Marktes« (Robert Kurz), nicht aber das schon immer fehlende Licht in der Rumpelkammer. Das ist nicht bloß historische Lücke, sondern verstellt den Blick auf einen Bereich mit ökonomisch weitreichender Bedeutung (Oligarchie, Religion, Mafia, externe Kosten usw.). Gäbe es nur Markt (also etwa für die Arbeitskraft nur Arbeitsmarkt), wäre Kapitalismus längst in der Krise »kollabiert« oder zerbrochen. Nun gab es aber neben der Akkumulation aus Lohnarbeit (»Mehrwertaneignung«, äquivalenter Tausch) stets eine Parallelakkumulation aus Zwangsarbeit, gebundener Arbeit, Abhängigkeits- und Zuneigungsarbeit wie auch aus anderen Formen von Wertraub (Parallelakkumulation, nicht-äquivalenter Tausch). Rosa Luxemburg hat dazu schon 1912 in ihrer Schrift »Die Akkumulation des Kapitals« die theoretische Grundlage gelegt, die Bielefelderinnen haben daraus ihre Theorie des »blinden Flecks« der orthodoxen politischen Ökonomie entwickelt (Veronika Bennholdt Thomsen, Maria Mies, Claudia v. Werlhof). Gerade die Dialektik von Mehrwertaneignung aus Lohnarbeit und Wertraub aus unfreier Arbeit hat historisch zur Durchsetzung neuer kapitalistischer Gesellschaftsformen geführt (siehe dazu etwa die Kriegsaktualität im Aufschwung nach dem Kriseneinbruch von 1857/59, den Zusammenhang zwischen Fordismus, Prohibition und 1. Weltkrieg in den USA, Nationalsozialismus, 2. Weltkrieg und nachholender Fordisierung Europas oder auch zwischen Stalinismus und Staatsfordismus in der Sowjetunion).

  9. Im Unterschied zu früheren Kriseneinbrüchen (und belehrt durch sie) hat sich Kapital mittels einer »Glocalism«-Strategie (global denken und planen, lokal handeln) unempfindlicher gemacht gegen regionale Kriseneinbrüche, gleichzeitig beweglicher in der Ausnützung regionaler Booms und in der Rentenabschöpfung auf »aufstrebenden Märkten« (»emerging markets«). 140 Jahre Krisenerfahrung und Bestrafung von Dinosaurier-Verhalten haben Beweglichkeit und Flexibilität gefördert und damit jenes Kapital laufend gestärkt, das schon der Form nach die höchste Beweglichkeit hat: weder branchenmäßig noch regional abhängiges, noch stoffwertgebundenes Finanzkapital. Wichtiger und damit höher belohnt wird die richtige Erwartung des zukünftigen Ertrags (Boom der Finanzmärkte) sowie der zu erwartenden Differentialrente von Boden (»Immobilienspekulation«).

    Dem Rationalisierungswettlauf der in der produktiven Verwertung tätigen Realkapitalisten entspricht der Wettlauf der Finanzkapitalisten um die möglichst frühzeitige Abschöpfung der Erträge aus der realen Verwertung - in Form von den die Erträge so frühzeitig wie möglich vorwegnehmenden Kursgewinnen auf Finanztiteln und abgeleiteten Finanzinstrumenten (Derivativen). Die Dividende (eigentlicher Beteiligungsertrag der Eigentümer) wird so zum wenig interessanten, letzten Beutezug des Kleinaktionariats auf das leere Bärenfell. Der frühzeitigen Beteiligung am Verwertungsertrag eines einzelnen kapitalistischen Betriebes entspricht die frühzeitige Abschöpfung veränderter Verwertungserträge in ganzen Währungsregionen (Devisenspekulation).

  10. Das Anti-Krisen-Instrumentarium von Staat, Verbänden und Konzernen läßt sich auf der Ebene der Regulationsweise im Spannungsfeld zwischen Regulierung (Eingriffe in den Markt, nachfragestützend) und Deregulierung (Marktschub, angebotsstützend) fassen. Regulierende und deregulierende Anti-Krisen-Strategie haben sich historisch abgewechselt. Beide Strategien können Krisen entschärfen und aufschieben, beide können sie langfristig aber auch verschärfen. Wie lange und in welchem Maß staatliche Regulierung möglich ist, ist letztlich ein Problem ihrer Finanzierung: Sie scheint in den EG-Metropolen etwa auf halbem Weg ausgereizt (durchschnittlich 70 Prozent Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt). Ab 100 Prozent Staatsverschuldung in Höhe des Bruttoinlandprodukts muß rund eine Stunde eines achtstündigen Arbeitstages zur Finanzierung der Schuld (Zinsen, Amortisationen) aufgewendet werden, nach eineinhalb Stunden dürfte eine »Schmerzgrenze« für rentable Kapitalverwertung überschritten sein.

  11. Die aktuelle Situation in den Metropolen, z.B. in den USA, Japan, Großbritannien, der BRD oder der Schweiz, läßt sich kennzeichnen durch die Überlagerung der seit Mitte der siebziger Jahre virulent gewordenen Weltwirtschaftskrise mit verschiedenen konjunkturellen Aufschwüngen und Einbrüchen seither. Der Krise wurde weltweit vorrangig mit angebotsorientierten Deregulierungsmaßnahmen begegnet (IWF, Reganonomics, Thatcherismus, Europäischer Wirtschaftsraum, Europäisches Währungssystem), in den Metropolen sekundär regulierend nachfrageorientiert mit einem begleitenden Rüstungskeynesianismus (siehe etwa Reagonomics), beschäftigungsstützender Keynesianismus (siehe Clintonomics, Japan, EU-Gipfelbeschlüsse 1993).

  12. Die Umstrukturierung in der Schweiz erfolgt vergleichsweise zögerlich, da hier bezüglich komparativer Kostenvorteile des Finanz- und Dienstleistungsplatzes lange eine komfortable Monopolsituation bestand, vergleichbar etwa mit jener des Informatikkonzerns IBM auf dessen Märkten. Abgestuft in den drei konjunkturellen Einbrüchen seit Mitte der siebziger Jahre, waren folgende Strategien und Angriffspunkte erkennbar:

    Er gruppiert die von ihm geerbten Beteiligungen laufend neu, stößt ab, was nicht zum Kerngeschäft gehört, macht »schlank« (»lean production«), was ihm bleibt, und formt die einstigen Maschinenindustriebeteiligungen zu einem Technologiekonzern (ABB, Leica, Landis & Gyr). Ähnlich wie die Schmidheiny-Beteiligungen - wenn auch nicht mit derselben Dynamik - werden Staat und Gesellschaft »schlank« gemacht. Es entstehen »neue Selbständige« im informellen Sektor, ein »Rassismus der Wohlanständigkeit« (Nora Räthzel), das Appenzeller Patriarchat wird marktförmig modernisiert (notfalls mit Zwangseinführung des Stimmrechts für Frauen via Bundesgericht). Ähnlich wie die Apartheid in Südafrika wird die Geschlechterdiskriminierung aus Verfassung und Gesetzen entfernt (neues Eherecht, Abschaffung des Nachtarbeitverbots), bleibt indessen durch den Markt abgesichert (unterschiedliche Kaufkraft, Löhne, Garantien, Inwertsetzung spezifischer Eigenschaften entlang den ethnischen und geschlechtsspezifischen Grenzen). Die geschwächten Gewerkschaften erhalten für den Fall ihrer Kooperationsbereitschaft beim technischen und sozialen Umbau der Betriebe eine Assistenzrolle (siehe etwa IG Metall in der BRD oder der Metall- und Uhrenarbeitnehmerverband SMUV in der Schweiz mit neu geschaffenen Projektgruppen für Beratung und Information der Betroffenen).

  13. In der Schweiz liegt das Hautgewicht der staatlichen Wirtschaftspolitik seit 1989 ebenfalls auf den angebotsorientierten Deregulierungsmaßnahmen. Dieses Schwergewicht kommt im internationalen Vergleich relativ spät (»nachholend«), außerdem unmittelbar vor dem Konjunktureinbruch ab 1991. Es sollte via »external binding« durch Anschluß an den EWR (in der Schweiz nachvollzogen mittels eines »Eurolex«-Gesetzespakets) durchgesetzt werden. Nach der ablehnenden Volksabstimmung vom 1. Dezember 1992 wird die Deregulierung verlangsamt und mittels Ausnahmen in sensitiven Bereichen (Arbeitsmarkt, Bodenmarkt, Verkehrspolitik) durchgesetzt. Instrumente sind der vordergründig freiwillige »autonome Nachvollzug« (»Swisslex«) und die unfreiwillige Krötenschluckerei aufgrund der Ergebnisse bilateraler Verhandlungen mit der EU. Von Wirtschaftsseite wird der Konjunktureinbruch ab 1991 weitgehend zum autonomen Vorvollzug benützt und bringt der Schweiz eine offene und verdeckte Arbeitslosenrate von europäischem Durchschnitt (um 10 Prozent), national immerhin Jahrhundertrekord.

  14. Die dreistufige Anti-Krisen-Strategie ist in dem Sinne Krisenangriff, als damit ein Umbau der Gesellschaft in Richtung auf eine neue Gesellschaftsformation (Akkumulation und Regulationsweise) vorangetrieben wird: Schlagworte sind in diesem Zusammenhang die »Zweidrittelgesellschaft«, der »Postfordismus« (ein Begriff des kleinsten gemeinsamen Nenners) oder »Toyotismus« - eine Gesellschaftsformation, die einen Teil der Gesellschaft (eben das untere »Drittel«) ausgrenzt, indem sie ihn durch die Maschen des staatlichen Netzes und der positiv-moralischen öffentlichen Wahrnehmung fallen läßt. Am Ende dieses Prozesses steht eine neue Identität des postfordistischen Subjektes oder genauer: neue aufgefächerte Identitäten der postfordistischen Subjekte, nachdem das Grundprinzip die Differenzierung ist, das Grundmuster die Ab- und Ausgrenzung.

  15. Postfordismus nach Schweizer Art unterscheidet sich aufgrund der weltwirtschaftlichen Position von anderen Formen dieses Umbaus sowohl bezüglich Härte und Tempo der Ausgrenzung wie auch bezüglich des Ziels: Die soziale (Ultra-)Stabilität ist für den Liechtenstein-Fleck Schweiz im weltwirtschaftlichen Leopardenfell (Hochwertschöpfungsregion, Finanzplatz, Headquarter-Standort, Humanitätstradition) nach wie vor zu wichtig, als daß das Haus mit dem eisernen Besen gekehrt würde. Es wird mit dem Flaumer »in Ordnung gebracht«: Der konsenfähige Rassismus ist nicht offen, blutig oder im ethnischen Anspruch »höherwertig« (»Herrenmensch« oder rassisch fundierte Weltherrschaftsansprüche), sondern abwägend und pseudo-intellektuell differenzierend, versteckt sich in Kriminalitäts- und Zahlungsbilanzstatistiken, ist überwiegend »rechtsstaatlich« abgesichert und macht angebliche ethnische Unterschiede an Eigenschaften und Verhaltensweisen fest. Marktförmig kann er ethnisch zugeordnete Eigenschaften und Verhaltensweisen in Wert setzen (»Multikulturalität« von Gastronomie und Kulturbetrieb). Typisch für den »weichen« Schweizer Weg in den Postfordismus sind die Synthese von Repression und Aufweichung der Prohibition im Bereich illegaler Drogen durch das Innenministerium (unter »weicher« Führung), die zögerliche Sanierung der Staatsfinanzen, die nicht über Leichen geht (»Stichonomics«), sowie die im internationalen Vergleich »sanfte« Renovation von Kranken- und Altersversicherung. Noch das oberste Gremium der Schweizerischen Bankgesellschaft beruft sich in einem Konflikt mit einem am US-Standard orientierten Raider auf seine »soziale Verantwortung« gegenüber ihren Beschäftigten, Kunden, vorab im Klein- und Mittelgewerbe als Publikums- und Volksbank. Dies ist mehr als Ideologie: Es ist die Suche nach einer konsensfähigen Basis in den oberen zwei gesellschaftlichen Dritteln, halbwegs stabiler (weil sozial regulierter) statt abenteuerlicher Wildwestkapitalismus.

  16. Die eingegrenzten zwei Drittel sind ihrerseits nicht homogen, sondern unterscheiden sich wiederum in ein oberes Drittel (gut gesichert, gut verdienend, interessante Arbeit) und ein mittleres Drittel, das flexibel sein muß (mittlere Sicherheit und Einkommen). Das mittlere Drittel ist bei Fehlverhalten abstiegsbedroht, gleichzeitig aber auch bei besonders gut gelungener Anpassung aufstiegsberechtigt (bildhaft deutlich in der Sandwichposition überangepaßter Zellenchefs in der »teilautonomen« industriellen Fertigung: faktisch Kleingewerbler auf nicht gesicherter Basis).

  17. Materialistisch richtet sich die Hoffnung auf Widerstand gegen diesen gesellschaftlichen Umbau vorab auf das untere Drittel, das von Ausgrenzung bedroht ist. Wenn es richtig ist, daß die Wahrheit über die Ausbeutung im Lohnarbeitsbereich beim lohnabhängigen Proletariat liegt (Karl Marx), dann liegt die Wahrheit über die Ausgrenzung beim ausgegrenzten Menschen und kollektiv in den ausgegrenzten Sektoren der Unterklasse. Das heißt keineswegs, daß dieser Sektor »automatisch« widerständig ist, sondern an sich am ehesten das Bewußtsein über die Ungerechtigkeit einer Ausgrenzung und die Notwendigkeit einer fundamentalen Veränderung entwickeln wird. Ob daraus auch ein Bewußtsein für sich entsteht, ist eine Frage des historischen Prozesses. Außerdem darf im mittleren und oberen Drittel auf Solidarität gehofft werden, materialistisch werden sich solche Hoffnungen indessen nur in Ausnahmefällen erfüllen.

  18. Hauptproblem des Widerstands ist seinerseits seine Auffächerung als Übernahme des organisatorischen Prinzips von Postfordismus. Als postfordistische Subjekte sind wir gegen die Differenzierung als organisatorisches Prinzip und gegen die Abgrenzung als Verhaltensmuster a priori so wenig gefeit wie gegen Fast food, Wohnwand und TV-Samstagabend im Fordismus. Die Differenzierungs- und Abgrenzungsmuster sind zwischen Metropole und Peripherie riesenhoch aufgebaut, zwischen Vollanspruchberechtigten, Minderanspruchsberechtigten und Nicht-Anspruchsberechtigten staatlicher Leistungen, Lohnarbeit und Nicht-Lohnarbeit (letztere nach wie vor hauptsächlich Frauenarbeit). Die Lohnarbeit selber hat sich aufgefächert in solche für Schwarzarbeitende, flexibel Beschäftigte, Beschäftigte in der Zulieferpyramide, Stammarbeiter im Kernbetrieb, intermediäre Zellenchefs und Inselleiter usw. Die gesellschaftliche Analyse vagabundiert zwischen Neuauflagen aller historisch bekannter Formen von Idealismus und Materialismus, die politischen Strategien auf der Linken zwischen allen Formen von Reformismus und revolutionärem Weg. Die Eingrenzung führt zu Anpassung in allen Formen zwischen Karriere und Resignation, die Ausgrenzung zur Nicht-Anpassung in ebenso vielen verschiedenen Formen zwischen Selbstzerstörung, Flucht in Esoterik, Selbstaufgabe in mafiöser Hierarchie bis zu hoffnungsvollen Formen von Selbstorganisation. Wenn schon, ist der Leopardenfleck »Liechtenstein« namens Schweiz vor dem Hintergrund der gesamten Weltwirtschaft die negative Bestätigung einer weltweiten Angleichung der Proletarität, wie sie etwa Karl Heinz Roth vermutet. Auffächerung in der Angleichung vielleicht, Angleichung in der Auffächerung womöglich, Auffächerung zur Ungleichheit sicher.



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