Redaktionsgruppe
Niemand von der Redaktionsgruppe hätte die nach Bad Kleinen
eskalierende katastrophale Entwicklung innerhalb des politischen Zusammenhangs
RAF, politische Gefangene aus RAF und Widerstand und der revolutionären
Linken vorher für möglich gehalten. Höhepunkt dieser Entwicklung
war die öffentlich vollzogene Spaltung der Mehrheit der Gefangenen aus der
RAF von den Celler Gefangenen, Birgit Hogefeld und der RAF im November 1993.
Es war für uns selbst im Lauf der Arbeit an diesem Buch immer wieder
notwendig, zu diskutieren, wie wir die Entwicklung bis Bad Kleinen und danach
begreifen. Deswegen wollen wir unsere Überlegungen dazu an dieser Stelle
veröffentlichen.
Diese spezifische Diskussion ist für viele
LeserInnen unter Umständen nicht wichtig oder nur schwer nachvollziehbar.
Die Entwicklung, um die es dabei geht, ist zum größten Teil von den
Beteiligten selbst nur bruchstückhaft analysiert und aufgearbeitet worden.
Es gibt kein kollektives Verständnis und keinen gemeinsamen Begriff der
Geschichte der letzten Jahre.
Im folgenden einige Thesen, die vielleicht
zur weiteren Auseinandersetzung anregen. Sie sind nichts abgeschlossenes,
sondern stellen lediglich den derzeitigen Stand unserer Diskussion dar.
Die politische Entwicklung des politischen Zusammenhangs
antiimperialistischer Widerstand, RAF und Gefangene aus RAF und Widerstand, die
ab Ende 1986 einsetzte, hatte unserer Meinung nach zum großen Teil damit
zu tun, daß der politische Endpunkt der vorhergehenden Phase, der "Front",
nicht begriffen wurde.
Die RAF hatte das Konzept einer
antiimperialistischen und antikapitalistischen Front entwickelt und im "Mai-Papier"
1982 veröffentlicht. Es ging dabei darum, die revolutionären Kräfte
in Westeuropa gegen die gerade zu einer neuen Offensive ansetzenden
Imperialisten zusammenzubringen. Ziel war es, eine politisch-militärische
Kraft zu etablieren, die die Formierung der westeuropäischen Einheit der
Imperialisten verhindern kann und dadurch den globalen Durchmarsch - seit 1980
hatte keine Befreiungsbewegung mehr siegen können, die Staaten des
Warschauer Vertrages wurden mittels Aufrüstung und SDI massivst angegriffen
- zum Scheitern bringt.
Die letzte Offensive im Rahmen dieser
politisch-militärischen Bestimmung fand in der zweiten Hälfte des
Jahres 1986 statt. Nicht nur diese Offensive, sondern auch die gesamte
strategische Bestimmung stieß an eine Grenze. Sie konnte weder politisch
mobilisieren und Kräfte bündeln, noch war sie in der Lage, der
einsetzenden massiven Repression etwas entgegenzusetzen. Parallel dazu hatten
sich die Front-Zusammenhänge innerhalb der radikalen Linken durch ihre
abgehobene Ideologie und politische Engstirnigkeit isoliert. Auch intern
zerbrach die Struktur: viele Genossinnen und Genossen hielten dem Leistungsdruck
durch die rigide Ausrichtung auf militärische Praxis und ideologische Überhöhung
der Konfrontation mit dem imperialistischen Gesamtsystem nicht stand und zogen
sich zurück, vielen wurde das Korsett der politischen Praxis der Front zu
erdrückend und sie begannen, nach anderen Wegen zu suchen. Entsprechend
unterschiedlich war die Palette der nebeneinanderher laufenden Diskussionen: das
Front-Konzept muß weitergehen; die politische Basis und Struktur muß
erweitert werden; alles war zu militaristisch; es muß wieder mehr
Basis-Arbeit gemacht werden; Kampfstrukturen sind Lebensstrukturen (Häuser
besetzen). Das waren einige der Schlagworte der Auseinandersetzung. Die
antiimperialistischen Zusammenhänge zerfledderten zunehmend, ohne
allerdings die Gründe zu reflektieren und auf den Begriff zu bringen.
Dieses Auseinanderfallen hatte Auswirkungen auf die gesamte politische Situation
der radikalen Linken.
Viel der ursprünglich gemeinsam wirkenden Kraft war in alle Winde
verstreut und die verschiedenen Anstrengungen, anders weiterzukämpfen,
verpufften. Die RAF hielt - ebenso ohne eine gemeinsame Grundlage - im
wesentlichen am Frontkonzept fest und traf sich dabei mit einem Teil des
Widerstands, der politisch ähnlich überlegte. Sowohl 1987 wie auch
1988 gab es Angriffe der RAF und von kämpfenden Einheiten bzw. anderen
militanten Gruppen. Die RAF führte z. B. Ende 88 einen (gescheiterten)
Angriff gegen Tietmeyer, damals noch Staatssekretär im Finanzministerium,
durch, mit dem sie sich - allerdings unausgesprochen -auf die autonome
Anti-IWF-Mobilisierung in Berlin bezog. Obwohl ihre Aktionen stärker als
zuvor auf andere Kämpfe der radikalen Linken Bezug nahmen, fielen sie in
ihrer politischen Wirkung hinter das bis zum Hungerstreik 84/85 erreichte zurück.
Da dieser Wandel der Front-Zusammenhänge vor allem eine Suche nach neuen Bündnispartnern
war und keine wirkliche Neubestimmung zur Grundlage hatte, wurde ihm von den
Adressaten meist mit Mißtrauen und Ablehnung begegnet.
Die politischen Gefangenen versuchten Anfang 1989, einer politischen
Neuorientierung Konturen zu geben. Ihre Überlegungen beeinflusste, daß
die faktische Notwendigkeit bestand, die Freiheit der Gefangenen durchzusetzen:
aufgrund ihrer Situation und Haft-Bedingungen (Isolation, bis zu 18 Jahre Haft,
schwere gesundheitliche Schäden).
Die Richtung zeigte sich dann in
der Bestimmung ihres Hungerstreiks Februar bis April 1989, mit dem sie ihre
Zusammenlegung als Übergang zur Freiheit erreichen wollten. Dieser
Hungerstreik hatte unvermittelt eine andere politische Stoßrichtung als
alle vorangegangenen, die immer auf die Weiterentwicklung der Guerillapolitk
orientiert waren und diese als entscheidende Bedingung für einen Erfolg
ansahen. Nun sollte dies plötzlich von der legalen Linken erreicht werden.
Helmut Pohl, Gefangener aus der RAF, im August 1990: "im streik haben wir
ihnen überall, wo es gespräche gab, die dicke-balken-formulierung
hingelegt: es verschiebt die ganze auseinandersetzung im ganzen zusammenhang in
richtung diskussion, politischer prozess "
Unausgesprochen stand die
Frage im Raum, ob die Freiheit ohne die Erklärung des Endes des bewaffneten
Kampfes zu erreichen sein würde. Diskutiert wurde das aber nicht.
Dieser Hungerstreik mobilisierte mehr Menschen, als jemals zuvor in der
BRD während eines Hungerstreiks. Gruppen aus verschiedenen
gesellschaftlichen Bereichen wurden initiativ und viele hatten Interesse an der
direkten Diskussion mit den politischen Gefangenen. Nach über 3 Monaten
Streik war jedoch weder die Zusammenlegung und schon gar nicht die Freiheit
erreicht. Es gab nur minimale Änderungen: Eine weitere Kleingruppe von
Gefangenen, die bisher einzelisoliert waren, wurde zugelassen. Der Hungerstreik
und seine Wirkung wurde trotzdem von vielen als politischer Erfolg gesehen, da
die politischen Gefangenen ihren Kampf und ihre Forderungen gesellschaftlich
weiter verankert hätten.
Der Hungerstreik 1989 war der Versuch, in einer Phase des politischen
Umbruchs die Freiheit der politischen Gefangenen durchzusetzen und durch eine
grundlegende Zäsur die anhaltende politische Defensive der eigenen Politik
zu überwinden. Die Forderung nach Freiheit für die politischen
Gefangenen und das Projekt der Neubestimmung des gesamten politischen Prozesses
waren schon hier verknüpft. Der Versuch war ein Ansatz, dem aber wegen der
eigenen Unklarheit und der Dimension der politischen Defensive der gesamten
Linken die politische Basis fehlte, die ihn hätte aufgreifen und
weiterentwickeln können. Der Zerfallsprozeß der Linken wurden kurz
darauf durch den Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten noch
beschleunigt.
Aus einem Brief von Helmut Pohl (Oktober 1989):"Wir sind
mit unserem Projekt nicht weitergekommen, wir müssen uns auf eine neue
Phase des Kampfs orientieren. Was wir an Möglichkeiten in diesem Abschnitt
hatten, ist vorbei".
Tatsächlich hatte sich damals schon ein politischer Dissens in dem
Zusammenhang RAF - Politische Gefangene entwickelt. Während des
Hungerstreiks und bis November 1989 gab es weder schriftliche Erklärungen
noch Aktionen von der RAF selbst. Die RAF bestätigt in ihrer Erklärung
vom November 1993, daß es seit dem Hungerstreik keine gemeinsame
politische Stoßrichtung mehr gegeben hat.
Die GenossInnen aus der RAF unternahmen dann einen neuen Anlauf, um aus
der politischen Stagnation auszubrechen. Die RAF versuchte "zwei Jahre lang
einen parallelen Prozess von Neubestimmung und praktischen Interventionen".
In der Zeit zwischen Ende 89 und Ende 91 hat sie verschiedene Angriffe durchgeführt
(gegen Deutsche Bank-Chef Herrhausen, Innen-Staatssekretär Neusel, Beschuß
der US-Botschaft, Treuhandchef Rohwedder). In den Erklärungen wurde die
Suche nach politischer Weiterentwicklung sichtbar. Sie wendeten sich ausdrücklich
"an alle, die auf der Suche nach Wegen sind, wie hier menschenwürdiges
Leben durchgesetzt werden kann", bewegten sich aber weiter im Rahmen des
Frontkonzeptes.
Am 1. Januar 1992 ging durch die Medien, der Bundesjustizminister Kinkel
beabsichtige, Gefangene aus der RAF vorzeitig zu entlassen. Es war dies das
erste Mal in der bundesrepublikanischen Geschichte, daß der Apparat von
sich aus, d.h. ohne Druck durch Hungerstreik oder andere Kämpfe, das Thema
Gefangene ansprach. Es war auch das erste Mal, daß zugegeben wurde, daß
es in der BRD politische Gefangene, Sonderhaftbedingungen und haftunfähige
Gefangene gibt.
Sehr schnell wurde öffentlich bekannt, daß
diese Initiative im Rahmen der Koordinierungsgrupppe Terrorismus, KGT, zumindest
abgestimmt, wenn nicht entwickelt war (zur KGT siehe den Beitrag: "Verschwörung
in kleiner Runde?").
Kennzeichnend für die Kinkel-Initiative war
der Begriff der Versöhnung. Durch die Benutzung dieses Begriffs sollte der
politische Charakter des Konflikts aus der Diskussion herausgehalten werden.
Dementsprechend war auch nicht die Rede von Entschädigung für die
erlittene Isolationshaft oder Bestrafung der dafür Verantwortlichen.
Die Rede war von der Freilassung von 9 Gefangenen, allerdings wären einige
von diesen sowieso in den darauffolgenden Monaten regulär - d.h. nach
Absitzen ihrer Gesamtstrafe - entlassen worden. Sie sind dann auch erst nach
Verbüßung der vollen Strafe entlassen worden.
Als einzige
Gefangene aus der RAF wurden die zu "lebenslänglich" verurteilten
Haftunfähigen Günter Sonnenberg (nach 15 jähriger Haft im Mai 92)
und Bernd Rössner (nach 17 Haftjahren, davon die letzten 18 Monate in einer
Therapieeinrichtung im Mai 94 endgültig begnadigt) entlassen. Die
Entlassung von Günter Sonnenberg und Bernd Rössner war auch Ergebnis
jahrelanger Kämpfe um ihre Freilassung, klar ist aber, daß sie
letzendlich nur deshalb erfolgte, weil sie dem Staat zu diesem Zeitpunkt
opportun erschien.
Außerdem wurde alle Gefangene aus dem Widerstand
mit Ausnahme von Norbert Hofmeier nach 2/3 ihrer Haftzeit vorzeitig entlassen.
¡A!;
Bedingung aller "vorzeitigen" Entlassungen waren Anhörungsverfahren
als Bestandteil vorgeschriebener justizieller Prozeduren d.h. auch hier wurde
von staatlicher Seite darauf geachtet, den politischen Kern des Konfliktes zu
leugnen.
Es wurde deutlich, daß die Absicht der Kinkel-Initiative
war, die politischen Gefangenen als Druckmittel zu benutzen, um das Ende des
bewaffneten Kampfes zu erreichen - zumindest aber, um durch Spaltung den ganzen
politischen Zusammenhang zu schwächen.
Sichtbar wurde dies in der
Drohung mit neuen Prozessen gegen eine Vielzahl von Gefangenen aus der RAF.
Inzwischen wurde eine Reihe von Prozessen auf der Grundlage von
Kronzeugenaussagen tatsächlich durchgeführt, am Schluß standen
in fast allen Fällen Verurteilungen zu lebenslangen Freiheitsstrafen. Mit
dem juristischen Instrument der "besonderen Schwere der Schuld" hat
sich der Staat die Option gesichert, diese Gefangenen nie entlassen zu müssen.
In den ersten Monaten des Jahres 1992 wurde eine breite öffentliche
Diskussion über die sogenannte Kinkel-Initiative geführt. Während
im bürgerlich-konservativen Spektrum die Ablehnung vorherrschend war,
unterstützte das liberale Spektrum Kinkels Vorschläge und sprach
ebenfalls von einer notwendigen Versöhnung. Im breiteren linken Spektrum
wurde diese Initiative als lange überfälliger Schritt des Staates
gesehen und die sofortige Verwirklichung gefordert.
Dem kam der Staat mit
der Entlassung der zwei haftunfähigen RAF-Gefangenen entgegen. Dies war
auch das Ergebnis eines langjährigen Kampfes.
Die Einschätzungen
innerhalb des linksradikalen Spektrums waren unterschiedlich, von totaler
Ablehnung und der Weigerung, sich damit auseinanderzusetzen, weil es "eh
nur eine Geheimdienst-Kiste ist" bis dahin, zu sagen, "sicher, wir
sind in der Defensive, aber es gibt keinen Grund, nicht jede Chance für
eine sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen zu nutzen". In
Bezug auf die Kinkel-Initiative hieß das, zu versuchen, das erstmalige
Eingeständnis der Staates über die Existenz von politischen
Gefangenen, Isolationshaft und haftunfähigen Gefangenen für eine
breite Mobilisierung und Akzeptanz der Forderung nach Freiheit zu nutzen. Denn
schon vor der Kinkel-Initiative war sowohl politisch als auch aus der Situation
der Gefangenen klar, daß eine nur auf die Zusammenlegung und Freilassung
der haft-unfähigen Gefangenen orientierte Forderung nicht mehr ausreicht.
Erforderlich war vielmehr, sowohl für eine politische Perspektive als auch
aus der Tatsache von 20 Jahren Isolationshaft, die Forderung nach Freiheit für
alle politischen Gefangenen. Eine gemeinsame konstruktive Diskussion über
die unterschiedlichen Einschä-tzungen fand jedoch nicht statt. Wäre
sie geführt worden, hätte es möglicherweise eine treffendere
Bewertung und eine realistischere Umgangsweise damit gegeben - und vielleicht
auch eine Möglichkeit, die Kinkel-Initiative zu nutzen.
Unter Umständen
wäre auch eine Einschätzung darüber, was hinter der KGT-
Initiative noch stecken könnte, möglich gewesen. So aber wissen wir
erst seit Bad Kleinen: Hintergrund für die Kinkelinitiative war jedenfalls
auch der Kontakt des V-Mannes Steinmetz zur RAF, über dessen Existenz sie
sich auch die militärische Option offen hielten.
Im April 1992 erklärte die RAF, "die Eskalation zurückzunehmen,
das heißt, Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft
und Staat für den jetzt notwendigen Prozess einzustellen".
Sie
begründete dies mit einer weitreichenden Selbstkritik an ihrer Politik der
letzten Jahre und gestand deren Scheitern ein. Sie zog damit auch die Konsequenz
aus dem fehlgeschlagenen Versuch der vorangegangenen Jahre, in einem parallelen
Prozess von Intervention und Diskussion zu einer umfassenden Neubestimmung zu
kommen.
Zugleich sagte die RAF: "dieser Prozeß schließt für
uns als einen ganz wesentlichen Bestandteil den Kampf für die Freiheit der
politischen Gefangenen mit ein." Sie nahm ausdrücklich Bezug auf die
Kinkel-Initiative und erklärte, daß die Entscheidung zur Einstellung
der tödlichen Angriffe revidiert werden würde, sollte sich die
Situation der politischen Gegangenen nicht grundlegend ändern.
Die RAF
versuchte damit, woran die politischen Gefangenen 3 Jahre zuvor in einer
offeneren politischen Situation - Deutschland war noch nicht wieder Großmacht
- schon gescheitert waren: die Verknüpfung der Neubestimmung revolutionärer
Politik mit dem Kampf für die Freiheit der politischen Gefangenen.
Liberale und breite Teile der Linken werteten diese Erklärung als
Kapitulation und forderten nochmals die sofortige Umsetzung der
Kinkel-Initiative und darüber hinaus die Freilassung weiterer politischer
Gefangener. Ihre Intention war, das Ende des bewaffneten Kampfs endgültig
zu besiegeln.
Ähnliche Einschätzungen gab es auch in der
radikalen und revolutionären Linken. Im Extremfall wurde die Position der
RAF zum politischen Verrat erklärt.
Vor allem wurde heftigst darüber
diskutiert und gestritten, ob die Verknüpfung von strategischen mit
taktischen Fragen richtig ist - also einerseits aufgrund einer grundsätzlichen
Selbstkritik die gezielt tödlichen Angriffe einzustellen und andererseits
aber mit ihrer Wiederaufnahme zu drohen, falls sich die Situation der Gefangenen
nicht grundlegend verbessert.
Von staatlicher Seite wurde die Erklärung
ebenfalls als Eingehen auf die Kinkel-Initiative und letztendlich als
Kapitulation gewertet, da die KGT erkannte, daß das Ziel der "politischen
Neutralisierung" ohne viele Zugeständnisse erreicht worden war. Schon
Anfang 1992 wurden die neuen Kronzeugenprozesse gegen politische Gefangene
eingeleitet und spätestens im Sommer 1992 war klar: Der Staat hat längst
die Entscheidung getroffen, daß es keine Änderung seiner Politik
gegenüber den politischen Gefangenen geben wird.
In den 11 Monaten
zwischen der April-Erklärung (1992) der RAF und dem Angriff auf das Gefängnis
Weiterstadt gab es zwar einige wenige Initiativen zur Neubestimmung revolutionärer
Politik und zur Situation der Gefangenen (Veranstaltungen, Beiträge zum
Beispiel bei 1.-Mai-Demonstrationen). Diese konnten aber nicht im entferntesten
die politische Kraft entfalten, um dem Vorgehen der KGT etwas entgegenzusetzen
und die Freiheit der politischen Gefangenen zu erreichen.
Der Angriff auf
den Hochtechnologieknast in Weiterstadt im März 1993 ist Ausdruck dieses
erneuten Parallelversuchs - durch die Rücknahme der Eskalation (Einstellung
der Attentate) Raum zu schaffen für grundlegende Neubestimmung und
gleichzeitig konkrete Schritte zu unternehmen, um die Freiheit der politischen
Gefangenen durchzusetzen.
Das Kalkül der Kinkel-Initiative -
Desorientierung, Spaltung, Neutralisierung - war damit im Ansatz aufgegangen. Im
weiteren konnte es seine Wirkung bedingt durch die Defensive der radikalen
Linken voll entfalten bis hin zum Bruch der politischen Gefangenen untereinander
und der Mehrheit der Gefangenen mit der RAF.
In den Monaten nach dem Tod von Wolfgang Grams, der Verhaftung von Birgit
Hogefeld und der Enttarnung des Spitzels Steinmetz entbrannte innerhalb der
radikalen Linken vor allem im Zusammenhang mit dem Erfolg des V-Mannes eine
heftige Auseinandersetzung, die streckenweise erbittert und feindlich geführt
wurde. Es war offensichtlich, daß es um grundlegende Widersprüche
ging und daß diese schon länger existieren mußten. Die öffentlichen
Äußerungen sowohl der RAF wie auch der Mehrheit der Gefangenen aus
der RAF haben die Diskussion über die politischen Ursachen des Erfolges des
V-Mannes erschwert. Von beiden Gruppen wird die Existenz des V-Mannes bisher
eher als Legitimation genommen, um nicht über die von allen zu
verantwortenden politischen Ursachen der Niederlage zu reden.
Konkret: Die
RAF sagt in ihrer letzten Erklärung sinngemäß: Wäre der
V-Mann nicht gewesen, hätte unsere Politik Erfolg haben können. Die
Mehrheit der politischen Gefangenen nimmt den Erfolg des V-Mannes als Beweis für
die Entpolitisierung der neuen RAF-Politik ("Steinmetzsche Einheit",
Erklärung von Helmut Pohl im August 1993).
Der politische Inhalt der Widersprüche blieb jedoch ungreifbar. Die
emotionalisierte Auseinandersetzung verhinderte eine deutliche Vermittlung der
unterschiedlichen politischen Vorstellungen und behinderte zum großen Teil
eine gemeinsame, solidarische, nüchterne Diskussion über die Ursachen
dessen, was passiert ist.
Wir teilen weder die Einschätzung, daß der wesentliche Grund für
das Scheitern dieses Abschnitts die Existenz des V-Mannes war, noch die
Schuldzuweisung für die Niederlage an jeweils den anderen Teil des
ehemaligen politischen Zusammenhangs.
Wir sehen den Erfolg des Agenten nur
als Symptom der seit Ende 1986 deutlichen, nicht überwundenen politischen
Defensive des antiimperialistischen Widerstandes. Oder anders gesagt: Daß
der V-Mann bis an die RAF gekommen ist, hat seine Logik aus den zunehmenden
Individualisierungsprozessen seit 1986. Die Konsequenzen zu verantworten ist
Sache von allen aus diesem politischen Zusammenhang, ebenso darüber
nachzudenken, warum die Defensive bis heute nicht überwunden werden konnte.
Es ist inzwischen sehr schwer geworden, einen gemeinsamen politischen Begriff
davon zu entwickeln, was erkämpft worden war, was gefehlt hat, was hätte
besser gemacht werden können etc. Viele der im Lauf der Jahre Beiteiligten
haben sich inzwischen zurückgezogen, ihr Wissen und ihre Erfahrung sind
nicht mehr Bestandteil der Diskussion. Viele andere sind - erst recht nach dem
Bruch zwischen Gefangenen und RAF - in Fraktionen gespalten, die einander mit Mißtrauen
und Schuldzuweisungen begegnen. Trotzdem gibt es keinen anderen Weg aus dem
Desaster, als die gemeinsame Geschichte zu reflektieren und (erst) daraus die
notwendigen Schlüsse zu ziehen.
September 1994