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Wed Dec  4 17:38:12 1996
 

Die Kinkel-Initiative, Bad Kleinen und die Niederlage von revolutionärem Widerstand, RAF und politischen Gefangenen


Redaktionsgruppe







Niemand von der Redaktionsgruppe hätte die nach Bad Kleinen eskalierende katastrophale Entwicklung innerhalb des politischen Zusammenhangs RAF, politische Gefangene aus RAF und Widerstand und der revolutionären Linken vorher für möglich gehalten. Höhepunkt dieser Entwicklung war die öffentlich vollzogene Spaltung der Mehrheit der Gefangenen aus der RAF von den Celler Gefangenen, Birgit Hogefeld und der RAF im November 1993.
Es war für uns selbst im Lauf der Arbeit an diesem Buch immer wieder notwendig, zu diskutieren, wie wir die Entwicklung bis Bad Kleinen und danach begreifen. Deswegen wollen wir unsere Überlegungen dazu an dieser Stelle veröffentlichen.
Diese spezifische Diskussion ist für viele LeserInnen unter Umständen nicht wichtig oder nur schwer nachvollziehbar. Die Entwicklung, um die es dabei geht, ist zum größten Teil von den Beteiligten selbst nur bruchstückhaft analysiert und aufgearbeitet worden. Es gibt kein kollektives Verständnis und keinen gemeinsamen Begriff der Geschichte der letzten Jahre.
Im folgenden einige Thesen, die vielleicht zur weiteren Auseinandersetzung anregen. Sie sind nichts abgeschlossenes, sondern stellen lediglich den derzeitigen Stand unserer Diskussion dar.

Die heutige Situation ist Resultat des nicht aufgearbeiteten Zusammenbruchs des Front-Prozesses der 80er Jahre.

Die politische Entwicklung des politischen Zusammenhangs antiimperialistischer Widerstand, RAF und Gefangene aus RAF und Widerstand, die ab Ende 1986 einsetzte, hatte unserer Meinung nach zum großen Teil damit zu tun, daß der politische Endpunkt der vorhergehenden Phase, der "Front", nicht begriffen wurde.
Die RAF hatte das Konzept einer antiimperialistischen und antikapitalistischen Front entwickelt und im "Mai-Papier" 1982 veröffentlicht. Es ging dabei darum, die revolutionären Kräfte in Westeuropa gegen die gerade zu einer neuen Offensive ansetzenden Imperialisten zusammenzubringen. Ziel war es, eine politisch-militärische Kraft zu etablieren, die die Formierung der westeuropäischen Einheit der Imperialisten verhindern kann und dadurch den globalen Durchmarsch - seit 1980 hatte keine Befreiungsbewegung mehr siegen können, die Staaten des Warschauer Vertrages wurden mittels Aufrüstung und SDI massivst angegriffen - zum Scheitern bringt.
Die letzte Offensive im Rahmen dieser politisch-militärischen Bestimmung fand in der zweiten Hälfte des Jahres 1986 statt. Nicht nur diese Offensive, sondern auch die gesamte strategische Bestimmung stieß an eine Grenze. Sie konnte weder politisch mobilisieren und Kräfte bündeln, noch war sie in der Lage, der einsetzenden massiven Repression etwas entgegenzusetzen. Parallel dazu hatten sich die Front-Zusammenhänge innerhalb der radikalen Linken durch ihre abgehobene Ideologie und politische Engstirnigkeit isoliert. Auch intern zerbrach die Struktur: viele Genossinnen und Genossen hielten dem Leistungsdruck durch die rigide Ausrichtung auf militärische Praxis und ideologische Überhöhung der Konfrontation mit dem imperialistischen Gesamtsystem nicht stand und zogen sich zurück, vielen wurde das Korsett der politischen Praxis der Front zu erdrückend und sie begannen, nach anderen Wegen zu suchen. Entsprechend unterschiedlich war die Palette der nebeneinanderher laufenden Diskussionen: das Front-Konzept muß weitergehen; die politische Basis und Struktur muß erweitert werden; alles war zu militaristisch; es muß wieder mehr Basis-Arbeit gemacht werden; Kampfstrukturen sind Lebensstrukturen (Häuser besetzen). Das waren einige der Schlagworte der Auseinandersetzung. Die antiimperialistischen Zusammenhänge zerfledderten zunehmend, ohne allerdings die Gründe zu reflektieren und auf den Begriff zu bringen. Dieses Auseinanderfallen hatte Auswirkungen auf die gesamte politische Situation der radikalen Linken.

Viel der ursprünglich gemeinsam wirkenden Kraft war in alle Winde verstreut und die verschiedenen Anstrengungen, anders weiterzukämpfen, verpufften. Die RAF hielt - ebenso ohne eine gemeinsame Grundlage - im wesentlichen am Frontkonzept fest und traf sich dabei mit einem Teil des Widerstands, der politisch ähnlich überlegte. Sowohl 1987 wie auch 1988 gab es Angriffe der RAF und von kämpfenden Einheiten bzw. anderen militanten Gruppen. Die RAF führte z. B. Ende 88 einen (gescheiterten) Angriff gegen Tietmeyer, damals noch Staatssekretär im Finanzministerium, durch, mit dem sie sich - allerdings unausgesprochen -auf die autonome Anti-IWF-Mobilisierung in Berlin bezog. Obwohl ihre Aktionen stärker als zuvor auf andere Kämpfe der radikalen Linken Bezug nahmen, fielen sie in ihrer politischen Wirkung hinter das bis zum Hungerstreik 84/85 erreichte zurück. Da dieser Wandel der Front-Zusammenhänge vor allem eine Suche nach neuen Bündnispartnern war und keine wirkliche Neubestimmung zur Grundlage hatte, wurde ihm von den Adressaten meist mit Mißtrauen und Ablehnung begegnet.

Seit 1989 verfolgen die RAF und die Gefangenen aus der RAF unterschiedliche politische Strategien. Der Widerspruch wurde zu lange nicht offen ausgesprochen.

Die politischen Gefangenen versuchten Anfang 1989, einer politischen Neuorientierung Konturen zu geben. Ihre Überlegungen beeinflusste, daß die faktische Notwendigkeit bestand, die Freiheit der Gefangenen durchzusetzen: aufgrund ihrer Situation und Haft-Bedingungen (Isolation, bis zu 18 Jahre Haft, schwere gesundheitliche Schäden).
Die Richtung zeigte sich dann in der Bestimmung ihres Hungerstreiks Februar bis April 1989, mit dem sie ihre Zusammenlegung als Übergang zur Freiheit erreichen wollten. Dieser Hungerstreik hatte unvermittelt eine andere politische Stoßrichtung als alle vorangegangenen, die immer auf die Weiterentwicklung der Guerillapolitk orientiert waren und diese als entscheidende Bedingung für einen Erfolg ansahen. Nun sollte dies plötzlich von der legalen Linken erreicht werden.
Helmut Pohl, Gefangener aus der RAF, im August 1990: "im streik haben wir ihnen überall, wo es gespräche gab, die dicke-balken-formulierung hingelegt: es verschiebt die ganze auseinandersetzung im ganzen zusammenhang in richtung diskussion, politischer prozess "
Unausgesprochen stand die Frage im Raum, ob die Freiheit ohne die Erklärung des Endes des bewaffneten Kampfes zu erreichen sein würde. Diskutiert wurde das aber nicht.

Dieser Hungerstreik mobilisierte mehr Menschen, als jemals zuvor in der BRD während eines Hungerstreiks. Gruppen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wurden initiativ und viele hatten Interesse an der direkten Diskussion mit den politischen Gefangenen. Nach über 3 Monaten Streik war jedoch weder die Zusammenlegung und schon gar nicht die Freiheit erreicht. Es gab nur minimale Änderungen: Eine weitere Kleingruppe von Gefangenen, die bisher einzelisoliert waren, wurde zugelassen. Der Hungerstreik und seine Wirkung wurde trotzdem von vielen als politischer Erfolg gesehen, da die politischen Gefangenen ihren Kampf und ihre Forderungen gesellschaftlich weiter verankert hätten.

Der Hungerstreik 1989 war der Versuch, in einer Phase des politischen Umbruchs die Freiheit der politischen Gefangenen durchzusetzen und durch eine grundlegende Zäsur die anhaltende politische Defensive der eigenen Politik zu überwinden. Die Forderung nach Freiheit für die politischen Gefangenen und das Projekt der Neubestimmung des gesamten politischen Prozesses waren schon hier verknüpft. Der Versuch war ein Ansatz, dem aber wegen der eigenen Unklarheit und der Dimension der politischen Defensive der gesamten Linken die politische Basis fehlte, die ihn hätte aufgreifen und weiterentwickeln können. Der Zerfallsprozeß der Linken wurden kurz darauf durch den Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten noch beschleunigt.
Aus einem Brief von Helmut Pohl (Oktober 1989):"Wir sind mit unserem Projekt nicht weitergekommen, wir müssen uns auf eine neue Phase des Kampfs orientieren. Was wir an Möglichkeiten in diesem Abschnitt hatten, ist vorbei".

Tatsächlich hatte sich damals schon ein politischer Dissens in dem Zusammenhang RAF - Politische Gefangene entwickelt. Während des Hungerstreiks und bis November 1989 gab es weder schriftliche Erklärungen noch Aktionen von der RAF selbst. Die RAF bestätigt in ihrer Erklärung vom November 1993, daß es seit dem Hungerstreik keine gemeinsame politische Stoßrichtung mehr gegeben hat.

Die GenossInnen aus der RAF unternahmen dann einen neuen Anlauf, um aus der politischen Stagnation auszubrechen. Die RAF versuchte "zwei Jahre lang einen parallelen Prozess von Neubestimmung und praktischen Interventionen". In der Zeit zwischen Ende 89 und Ende 91 hat sie verschiedene Angriffe durchgeführt (gegen Deutsche Bank-Chef Herrhausen, Innen-Staatssekretär Neusel, Beschuß der US-Botschaft, Treuhandchef Rohwedder). In den Erklärungen wurde die Suche nach politischer Weiterentwicklung sichtbar. Sie wendeten sich ausdrücklich "an alle, die auf der Suche nach Wegen sind, wie hier menschenwürdiges Leben durchgesetzt werden kann", bewegten sich aber weiter im Rahmen des Frontkonzeptes.

Die Kinkel-Initiative hat an diesen Widersprüchen angesetzt. In der Spaltung zwischen der Mehrheit der Gefangenen und der RAF eskalierte sie. Diese Spaltung hat nichts geklärt.

Am 1. Januar 1992 ging durch die Medien, der Bundesjustizminister Kinkel beabsichtige, Gefangene aus der RAF vorzeitig zu entlassen. Es war dies das erste Mal in der bundesrepublikanischen Geschichte, daß der Apparat von sich aus, d.h. ohne Druck durch Hungerstreik oder andere Kämpfe, das Thema Gefangene ansprach. Es war auch das erste Mal, daß zugegeben wurde, daß es in der BRD politische Gefangene, Sonderhaftbedingungen und haftunfähige Gefangene gibt.
Sehr schnell wurde öffentlich bekannt, daß diese Initiative im Rahmen der Koordinierungsgrupppe Terrorismus, KGT, zumindest abgestimmt, wenn nicht entwickelt war (zur KGT siehe den Beitrag: "Verschwörung in kleiner Runde?").
Kennzeichnend für die Kinkel-Initiative war der Begriff der Versöhnung. Durch die Benutzung dieses Begriffs sollte der politische Charakter des Konflikts aus der Diskussion herausgehalten werden. Dementsprechend war auch nicht die Rede von Entschädigung für die erlittene Isolationshaft oder Bestrafung der dafür Verantwortlichen.
Die Rede war von der Freilassung von 9 Gefangenen, allerdings wären einige von diesen sowieso in den darauffolgenden Monaten regulär - d.h. nach Absitzen ihrer Gesamtstrafe - entlassen worden. Sie sind dann auch erst nach Verbüßung der vollen Strafe entlassen worden.
Als einzige Gefangene aus der RAF wurden die zu "lebenslänglich" verurteilten Haftunfähigen Günter Sonnenberg (nach 15 jähriger Haft im Mai 92) und Bernd Rössner (nach 17 Haftjahren, davon die letzten 18 Monate in einer Therapieeinrichtung im Mai 94 endgültig begnadigt) entlassen. Die Entlassung von Günter Sonnenberg und Bernd Rössner war auch Ergebnis jahrelanger Kämpfe um ihre Freilassung, klar ist aber, daß sie letzendlich nur deshalb erfolgte, weil sie dem Staat zu diesem Zeitpunkt opportun erschien.
Außerdem wurde alle Gefangene aus dem Widerstand mit Ausnahme von Norbert Hofmeier nach 2/3 ihrer Haftzeit vorzeitig entlassen. ¡A!;
Bedingung aller "vorzeitigen" Entlassungen waren Anhörungsverfahren als Bestandteil vorgeschriebener justizieller Prozeduren d.h. auch hier wurde von staatlicher Seite darauf geachtet, den politischen Kern des Konfliktes zu leugnen.
Es wurde deutlich, daß die Absicht der Kinkel-Initiative war, die politischen Gefangenen als Druckmittel zu benutzen, um das Ende des bewaffneten Kampfes zu erreichen - zumindest aber, um durch Spaltung den ganzen politischen Zusammenhang zu schwächen.
Sichtbar wurde dies in der Drohung mit neuen Prozessen gegen eine Vielzahl von Gefangenen aus der RAF. Inzwischen wurde eine Reihe von Prozessen auf der Grundlage von Kronzeugenaussagen tatsächlich durchgeführt, am Schluß standen in fast allen Fällen Verurteilungen zu lebenslangen Freiheitsstrafen. Mit dem juristischen Instrument der "besonderen Schwere der Schuld" hat sich der Staat die Option gesichert, diese Gefangenen nie entlassen zu müssen.

In den ersten Monaten des Jahres 1992 wurde eine breite öffentliche Diskussion über die sogenannte Kinkel-Initiative geführt. Während im bürgerlich-konservativen Spektrum die Ablehnung vorherrschend war, unterstützte das liberale Spektrum Kinkels Vorschläge und sprach ebenfalls von einer notwendigen Versöhnung. Im breiteren linken Spektrum wurde diese Initiative als lange überfälliger Schritt des Staates gesehen und die sofortige Verwirklichung gefordert.
Dem kam der Staat mit der Entlassung der zwei haftunfähigen RAF-Gefangenen entgegen. Dies war auch das Ergebnis eines langjährigen Kampfes.
Die Einschätzungen innerhalb des linksradikalen Spektrums waren unterschiedlich, von totaler Ablehnung und der Weigerung, sich damit auseinanderzusetzen, weil es "eh nur eine Geheimdienst-Kiste ist" bis dahin, zu sagen, "sicher, wir sind in der Defensive, aber es gibt keinen Grund, nicht jede Chance für eine sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen zu nutzen". In Bezug auf die Kinkel-Initiative hieß das, zu versuchen, das erstmalige Eingeständnis der Staates über die Existenz von politischen Gefangenen, Isolationshaft und haftunfähigen Gefangenen für eine breite Mobilisierung und Akzeptanz der Forderung nach Freiheit zu nutzen. Denn schon vor der Kinkel-Initiative war sowohl politisch als auch aus der Situation der Gefangenen klar, daß eine nur auf die Zusammenlegung und Freilassung der haft-unfähigen Gefangenen orientierte Forderung nicht mehr ausreicht. Erforderlich war vielmehr, sowohl für eine politische Perspektive als auch aus der Tatsache von 20 Jahren Isolationshaft, die Forderung nach Freiheit für alle politischen Gefangenen. Eine gemeinsame konstruktive Diskussion über die unterschiedlichen Einschä-tzungen fand jedoch nicht statt. Wäre sie geführt worden, hätte es möglicherweise eine treffendere Bewertung und eine realistischere Umgangsweise damit gegeben - und vielleicht auch eine Möglichkeit, die Kinkel-Initiative zu nutzen.
Unter Umständen wäre auch eine Einschätzung darüber, was hinter der KGT- Initiative noch stecken könnte, möglich gewesen. So aber wissen wir erst seit Bad Kleinen: Hintergrund für die Kinkelinitiative war jedenfalls auch der Kontakt des V-Mannes Steinmetz zur RAF, über dessen Existenz sie sich auch die militärische Option offen hielten.

Die RAF kann sich - wie in ihrem Neubestimmungsversuch von 1989 - in ihrer Erklärung von April 1992 nicht zu einem konsequenten Schnitt durchringen und manövrierte sich und die revolutionäre Linke weiter in die politische Defensive.

Im April 1992 erklärte die RAF, "die Eskalation zurückzunehmen, das heißt, Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat für den jetzt notwendigen Prozess einzustellen".
Sie begründete dies mit einer weitreichenden Selbstkritik an ihrer Politik der letzten Jahre und gestand deren Scheitern ein. Sie zog damit auch die Konsequenz aus dem fehlgeschlagenen Versuch der vorangegangenen Jahre, in einem parallelen Prozess von Intervention und Diskussion zu einer umfassenden Neubestimmung zu kommen.
Zugleich sagte die RAF: "dieser Prozeß schließt für uns als einen ganz wesentlichen Bestandteil den Kampf für die Freiheit der politischen Gefangenen mit ein." Sie nahm ausdrücklich Bezug auf die Kinkel-Initiative und erklärte, daß die Entscheidung zur Einstellung der tödlichen Angriffe revidiert werden würde, sollte sich die Situation der politischen Gegangenen nicht grundlegend ändern.
Die RAF versuchte damit, woran die politischen Gefangenen 3 Jahre zuvor in einer offeneren politischen Situation - Deutschland war noch nicht wieder Großmacht - schon gescheitert waren: die Verknüpfung der Neubestimmung revolutionärer Politik mit dem Kampf für die Freiheit der politischen Gefangenen.
Liberale und breite Teile der Linken werteten diese Erklärung als Kapitulation und forderten nochmals die sofortige Umsetzung der Kinkel-Initiative und darüber hinaus die Freilassung weiterer politischer Gefangener. Ihre Intention war, das Ende des bewaffneten Kampfs endgültig zu besiegeln.
Ähnliche Einschätzungen gab es auch in der radikalen und revolutionären Linken. Im Extremfall wurde die Position der RAF zum politischen Verrat erklärt.
Vor allem wurde heftigst darüber diskutiert und gestritten, ob die Verknüpfung von strategischen mit taktischen Fragen richtig ist - also einerseits aufgrund einer grundsätzlichen Selbstkritik die gezielt tödlichen Angriffe einzustellen und andererseits aber mit ihrer Wiederaufnahme zu drohen, falls sich die Situation der Gefangenen nicht grundlegend verbessert.
Von staatlicher Seite wurde die Erklärung ebenfalls als Eingehen auf die Kinkel-Initiative und letztendlich als Kapitulation gewertet, da die KGT erkannte, daß das Ziel der "politischen Neutralisierung" ohne viele Zugeständnisse erreicht worden war. Schon Anfang 1992 wurden die neuen Kronzeugenprozesse gegen politische Gefangene eingeleitet und spätestens im Sommer 1992 war klar: Der Staat hat längst die Entscheidung getroffen, daß es keine Änderung seiner Politik gegenüber den politischen Gefangenen geben wird.
In den 11 Monaten zwischen der April-Erklärung (1992) der RAF und dem Angriff auf das Gefängnis Weiterstadt gab es zwar einige wenige Initiativen zur Neubestimmung revolutionärer Politik und zur Situation der Gefangenen (Veranstaltungen, Beiträge zum Beispiel bei 1.-Mai-Demonstrationen). Diese konnten aber nicht im entferntesten die politische Kraft entfalten, um dem Vorgehen der KGT etwas entgegenzusetzen und die Freiheit der politischen Gefangenen zu erreichen.
Der Angriff auf den Hochtechnologieknast in Weiterstadt im März 1993 ist Ausdruck dieses erneuten Parallelversuchs - durch die Rücknahme der Eskalation (Einstellung der Attentate) Raum zu schaffen für grundlegende Neubestimmung und gleichzeitig konkrete Schritte zu unternehmen, um die Freiheit der politischen Gefangenen durchzusetzen.
Das Kalkül der Kinkel-Initiative - Desorientierung, Spaltung, Neutralisierung - war damit im Ansatz aufgegangen. Im weiteren konnte es seine Wirkung bedingt durch die Defensive der radikalen Linken voll entfalten bis hin zum Bruch der politischen Gefangenen untereinander und der Mehrheit der Gefangenen mit der RAF.

Der Erfolg des Verfassungsschutzes mit seinem Spitzel Steinmetz ist das Produkt der unaufgelösten Probleme und Widersprüche des ganzen politischen Zusammenhangs.

In den Monaten nach dem Tod von Wolfgang Grams, der Verhaftung von Birgit Hogefeld und der Enttarnung des Spitzels Steinmetz entbrannte innerhalb der radikalen Linken vor allem im Zusammenhang mit dem Erfolg des V-Mannes eine heftige Auseinandersetzung, die streckenweise erbittert und feindlich geführt wurde. Es war offensichtlich, daß es um grundlegende Widersprüche ging und daß diese schon länger existieren mußten. Die öffentlichen Äußerungen sowohl der RAF wie auch der Mehrheit der Gefangenen aus der RAF haben die Diskussion über die politischen Ursachen des Erfolges des V-Mannes erschwert. Von beiden Gruppen wird die Existenz des V-Mannes bisher eher als Legitimation genommen, um nicht über die von allen zu verantwortenden politischen Ursachen der Niederlage zu reden.
Konkret: Die RAF sagt in ihrer letzten Erklärung sinngemäß: Wäre der V-Mann nicht gewesen, hätte unsere Politik Erfolg haben können. Die Mehrheit der politischen Gefangenen nimmt den Erfolg des V-Mannes als Beweis für die Entpolitisierung der neuen RAF-Politik ("Steinmetzsche Einheit", Erklärung von Helmut Pohl im August 1993).

Der politische Inhalt der Widersprüche blieb jedoch ungreifbar. Die emotionalisierte Auseinandersetzung verhinderte eine deutliche Vermittlung der unterschiedlichen politischen Vorstellungen und behinderte zum großen Teil eine gemeinsame, solidarische, nüchterne Diskussion über die Ursachen dessen, was passiert ist.

Wir teilen weder die Einschätzung, daß der wesentliche Grund für das Scheitern dieses Abschnitts die Existenz des V-Mannes war, noch die Schuldzuweisung für die Niederlage an jeweils den anderen Teil des ehemaligen politischen Zusammenhangs.
Wir sehen den Erfolg des Agenten nur als Symptom der seit Ende 1986 deutlichen, nicht überwundenen politischen Defensive des antiimperialistischen Widerstandes. Oder anders gesagt: Daß der V-Mann bis an die RAF gekommen ist, hat seine Logik aus den zunehmenden Individualisierungsprozessen seit 1986. Die Konsequenzen zu verantworten ist Sache von allen aus diesem politischen Zusammenhang, ebenso darüber nachzudenken, warum die Defensive bis heute nicht überwunden werden konnte.
Es ist inzwischen sehr schwer geworden, einen gemeinsamen politischen Begriff davon zu entwickeln, was erkämpft worden war, was gefehlt hat, was hätte besser gemacht werden können etc. Viele der im Lauf der Jahre Beiteiligten haben sich inzwischen zurückgezogen, ihr Wissen und ihre Erfahrung sind nicht mehr Bestandteil der Diskussion. Viele andere sind - erst recht nach dem Bruch zwischen Gefangenen und RAF - in Fraktionen gespalten, die einander mit Mißtrauen und Schuldzuweisungen begegnen. Trotzdem gibt es keinen anderen Weg aus dem Desaster, als die gemeinsame Geschichte zu reflektieren und (erst) daraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen.


September 1994