2.10.98 Göttingen:
- Dem rechten Vormarsch entgegentreten!
Niedersachen steht in diesem Jahr im Zentrum des Interesses, was die "Standortbestimmung" der BRD angeht. Die offiziellen Feierlichkeiten am 3. Oktober 1998 zu Erinnerung an die sogenannte Wiedervereinigung finden in der Landeshauptstadt Hannover statt. Nicht nur die jährlich inszenierten Lobgesänge auf die Entwicklung der Wirtschaftskraft in der BRD wird mensch an diesem Tage wohl portioniert in den Medien serviert bekommen.
Am 27. September ’98 ist Bundestagswahl. Eine Entscheidungswahl für Niedersachsen, für Gerhard Schröder und überhaupt für die Zukunft der BRD – so wollen es die offiziellen Darstellungen. Hintergrund der diesjährigen Einverleibungsfeiern ist eben jene Wahl und das Prestigeprojekt "EXPO 2000". Beides Ereignisse, in deren Zusammenhang der Name Gerhard Schröder oft und gerne genannt wird. "Wiedervereinigungsfeierlichkeiten" und EXPO 2000 haben beide die gleiche Funktion: Durchhalteparolen einer Gesellschaft, deren Entwicklung für einen größeren Teil der Menschen in den nächsten Jahren nicht mehr durchzuhalten ist. Eine kapitalistische Gesellschaft, die das Prinzip der Ausgrenzung als Leitlinie für die zukünftige Gangart immer mehr auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens überträgt.
Der rechte Konsens. Während Angriffe auf MigrantInnen, auf Obdachlose, Punks oder Linke Anfang der 90er durch Faschisten noch weitestgehend gesellschaftlich geächtet wurden, Pogrome wie in Rostock oder Solingen bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung auf Empörung stießen, finden wir heute – im 9. Jahr der "Wiedervereinigung" – eine bedrückend andere Situation vor. Liberale, humanistische Stimmen in der Öffentlichkeit sind verklungen. Gewichen einem Schweigen, was entweder Rückzug oder das gar Zustimmung bedeutet.
Rassismus ist ein zentraler, fester Bestandteil der BRD-Gesellschaft. Er äußert sich jedoch nicht nur in der aggressiven Form faschistischer Brandanschläge und Morde.
Alles was und wer nicht in die saubere, deutsch-europäische Zukunftsvision paßt, wird mit aller Konsequenz der strukturellen und offenen Gewalt dieser Gesellschaft konfrontiert.
Mittlerweile wird der "Scheinasylant", der für die faktische Abschaffung des Asylrechts (Art. 6 GG) herhalten mußte, durch die "organisierte Kriminalität", die "Russenmafia", den "polnischen Schwarzarbeiter" oder auch einfach durch den "Illegalen" ersetzt.
Teil des rechten Konsens ist nicht nur die breit geforderte Zustimmung zum staatlich durchgeführten Rassismus, sondern die neue Klammer der "Inneren Sicherheit". Diese Bereiche grenzen jedeN aus, der/die sich am Leben des Konsums, dem Ideal der Kaufkraft, des Lebensgefühls des deutschen Saubermanns, letztlich der Profitmaximierung der Profiteure nicht beteiligen will oder kann. Das sind all diejenigen, die im Sinne des Kapitalismus nicht mehr verwertbar sind: Alte, Kranke, Behinderte,, Obdachlose, Flüchtlinge, Arme, Arbeitslose und Linke.
Ausgrenzung. Ein wesentliches politisches Mittel zur Durchsetzung kapitalistischer Prinzipien ist Ausgrenzung. Dies geschieht auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft.
Ausgrenzung durch Gesetze nach rassistischen Leitlinien (Arbeitsvergabe zuerst an Deutsche, Abschaffung des Rechtes auf Asyl, Kasernierung von Flüchtlingen, beschleunigte Abschiebeverfahren, Drittstaatenregelung, Gutscheine statt Bargeld etc.). Ausgrenzung durch rassistische Praktiken (willkürliche, verdachtsunabhängige Polizei- und BGS-Personenkontrollen, Selektion an Flughäfen, Prügel und Einsatz von Brechmittel gegen Schwarze auf Polizeiwachen, Scheinhinrichtungen gegen Schwarze durch Polizeibeamte etc. Ausgrenzung durch Gesetze nach rassistischen Leitlinien (Arbeitsvergabe zuerst an Deutsche, Abschaffung des Rechtes auf Asyl, Kasernierung von Flüchtlingen, beschleunigte Abschiebeverfahren, Drittstaatenregelung, Gutscheine statt Bargeld etc.). Ausgrenzung durch rassistische Praktiken (willkürliche, verdachtsunabhängige Polizei- und BGS-Personenkontrollen, Selektion an Flughäfen, Prügel und Einsatz von Brechmittel gegen Schwarze auf Polizeiwachen, Scheinhinrichtungen gegen Schwarze durch Polizeibeamte etc.).
Ausgrenzung durch propagierten Rassismus in Parlament und Medien. Die tägliche Berieselung in den alles durchdringenden Medien führt zu einer Haltung in großen Teilen der Bevölkerung, die alles, was nicht deutsch daherkommt, als minderwertiger wahrnimmt.
Ausgrenzung auch räumlich gedacht: die Umstrukturierung vieler Städte, deren Kern die Hochstilisierung der Innenstadtkerne zu Prestigeobjekten ist. Eine Hochrüstung der Konsummeilen, deren Zweck im erlebnisorientierten Kaufrausch liegt, in welchen die Menschen im Kapitalismus ihre erzeugten (Kauf)bedürfnisse befriedigen sollen. Emotional verarmt, vereinzelt, zum Kaufrausch abgerichtet, ist der Einkauf in sauberen Passagen und Fußgängerzonen die willkommene Abwechslung und eine Art Entspannung, die zwar einiges kostet, dem alltäglichen Stumpfsinn und Trott von (zuviel) Arbeit, Überstunden und trostlosem Familiendasein eine scheinbare Lebendigkeit verleiht. Da passen keine gesellschaftlichen Probleme rein.
Weder Obdachlose, die "aggressiv Betteln" und damit uns in Erinnerung rufen, daß nicht alles Gold ist was glänzt, noch Flüchtlinge oder sozial schwächer Stehende, die uns ein erneutes Mal vor Augen führen, daß irgendwie doch nicht alle am Reichtum der kapitalistischen Gesellschaft teilhaben. So werden diese sogenannten Randgruppen auch örtlich an den Rand der Städte verwiesen, wo sie ihr Leben zwischen hochhausbesiedelten Schlafstädten und Billigsupermärkten fristen können. In den Innenstädten werden wir in Zukunft neureiche Yuppies in hochmodernen Erlebniseinkaufparks, teuren Cafés mit exotischem Flair und einem Schuß Extravaganz vorfinden. Vorbehalten diejenigen, die die nötigen Scheine aufbringen, sich das veredelte Leben in einer reichen Gesellschaft leisten zu können.
Politikwechsel. Alle sind sich einig. Ein Politikwechsel muß her. Die Christdemokraten wollen einen mit dem gleichen Kanzler. Die SPD und ihre Gewerkschaften fordern ebenfalls den Politikwechsel, der wiederum darin bestehen soll, einen neuen Kanzler auf das Podium zu stellen: Gerhard Schröder, der Dandy aus Niedersachsen.
Selbst die GRÜNEN setzen auf Politikwechsel, aber mit PfÜff und debilem Lächeln, weil sie wissen, daß sie mitregieren können aber nichts zu sagen und zu verändern haben.
Die einzigen, die den Wechsel längst vollzogen haben, sind diejenigen VertreterInnen in Wirtschaft und den Medien, die längst wissen, daß jeder Kanzler ohnehin das tun wird, was die gesellschaftlich durchdringenden ökonomischen Strukturen vorgeben: Politikwechsel ja oder nein, es bleibt beim alten: Kapitalismus; Herrschaftsform: Parlamentarismus. Neu ist die Ausprägung in seiner ganzen "demokratischen" Schärfe: Polizei- und Überwachungsstaat, abgesichert durch formelle Wahlen. So neu jedoch auch nicht. Bereits seit Anfang/ Mitte der 90er setzt sich die polizeistaatliche Version zur Kontrolle gesellschaftlicher Miseren durch. Miseren, die sich der Kapitalismus selbst schafft.
Um was es geht. Die beiden zentralen – den Wahlkampf beherrschenden Themen – sind Arbeit(slosigkeit) und "Innere Sicherheit". Damit machen die etablierten Parteien den Kern ihres Programmes zur Weiterführung kapitalistischer Verhältnisse mehr als deutlich.
Die Frage von Arbeit und Arbeitslosigkeit läßt sich auf folgendes Grundproblem eingrenzen: In einer kapitalistischen Gesellschaft auf dem Entwicklungsniveau wie der BRD kann es nicht Arbeit für alle geben. Die Ursache liegt in der technischen und produktionstechnischen Weiterentwicklung. Das bedeutet, daß weniger Arbeit anfällt, mehr Produktivität
erreicht wird und immer mehr Menschen in dem Sinne "überflüssig" werden, daß auch ohne sie für herrschende Kreise Profit angehäuft werden kann. Der- bzw. diejenige, die weder Arbeit leisten kann noch über das nötige Kleingeld verfügt, den Konsum anzukurbeln, ist nach der derzeitigen gesellschaftlichen Definition nutzlos geworden. Weil der Sinn des Kapitalismus nicht die Befriedigung der (Grund)Bedürfnisse des Menschen ist, sondern Profitmaximierung zum Reichtum weniger.
Da der Mensch aber existieren muß, wird die Schere zwischen denjenigen, die am Reichtum der Gesellschaft teilhaben (können) und denjenigen die nutzlos geworden sind, immer größer.
Eine Strategie der sozialen Einschüchterung ist die Antwort herrschender Kreise auf die im Kapitalismus selbst angelegten Miseren. So läuft die Propagandamaschinerie, die sämtliche Randgruppen schon in der jetzigen Zeit als "Sozialschmarotzer", als "Illegale", als "Kriminelle" oder "Terroristen" hinstellt.
Die Sichtweise des "nutzlosen Essens" schlägt sich nicht zuletzt in der Wiedereinführung von Zwangsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen nieder. (zwangsverordnetes Spargelstechen oder sonstiger Arbeitsdienst).
Das bedeutet im Falle des Falles Unzufriedenheit auf Seiten der "Nutzlosen", gar Protest oder Unruhen sind zu befürchten. Beginnen sich die Ausgegrenzten, die Unterdrückten zusammenzuschließen, sich politisch zu artikulieren, dann ist der Staat durch seine polizeistaatliche Hochrüstung bereit gegen die "Verlierer" vorzugehen.
"Innere Sicherheit" heißt nichts anderes als die "Sicherheit der Herrschenden", die sich einen gewaltigen Überwachungsapparat über die Jahrzehnte zurechtgezimmert haben. Es läßt sich leichter regieren, wenn es gelingt, große Teile der Bevölkerung hinter sich zu bringen. So wurden und werden nach dem
uralten Motto "teile und herrsche" mittels Rassismus die Menschen gegeneinander ausgespielt. Der nächste Schritt ist bereits im Gange. Der zweite Teil des rechten Konsens ist der Konsens über mehr Sicherheit. So wird behauptet, daß nur der Polizeistaat die Sicherheit und damit die "Freiheit" des Westens schützen kann. Was in den 70er Jahren der "Schrei nach Freiheit", die Suche nach sozialistischen Ansätzen war, ist in den 90ern zum "Schrei nach Sicherheit", zum Ruf nach dem perfekten autoritären Sicherheits- und Überwachungsstaat geworden.
Eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus, jenseits der Angst eines Tages ohne Arbeit dastehen zu müssen und dann nicht mehr Teil einer Gesellschaft zu sein, die mit Ausgrenzung nach rechten Leitlinien reagiert, scheint für die meisten Menschen unvorstellbar geworden.
Für uns nicht!
Solidarisch kämpfen – dem rechten Vormarsch
entgegentreten!
Göttingen - August 1998