von Übersetzung Günter Melle - 16.07.2002 21:58
http://germany.indymedia.org/2002/07/26267.shtml
Der Beitrag stammt von Carlos Mutter und wurde in der Monatszeitschrift von Rifondazione Comunista "Rivoluzione" veröffentlicht. Er ist hier in Auszügen von mir übersetzt worden. Auf der Internetseiten sind weitere Informationen zum Jahrestag von Carlo Giulianis Ermordung abrufbar.
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Und Carlo ?
Haidi Gaggio Giuliani, Auszüge aus Rivoluzione, Monatszeitschrift der Zeitung Liberazione von Rifondazione Comunista
Großvater starb vor mehr als zwanzig Jahren, als meine Kinder noch klein waren. „Ein wenig von ihm lebt in allen von euch”, sagte ich zu ihnen, „gebt darauf gut acht!” An die Piazza Alimonda, trug Beatrice mit ihren langen blonden Haaren am 20. Januar ein Transparent mit der Aufschrift: Carlo lebt! Einige Zeit später, etwas weniger als einen Monat haben wir ergänzt: CON EDO, mit Edo. Edo und Carlo, sie gingen zusammen aufs Lizeum, rauchten heimlich die ersten Zigaretten, da waren die Tischtennisspiele, die Versammlungen, die Demonstrationen wegen der Schule. Der erste war hochgeschossen und mager, der zweite klein und immer in Bewegung.
Nein, sie leben nicht mehr und ich habe keine Kinder mehr, denen ich Märchen erzählen könnte. Edo ging von uns im Schlaf durch eine Myocarditis. Und Carlo? Es ist fast ein Jahr vergangen - dreihundertdreiundneunzig Tage ohne ihn. Ein Gefühl der unendlichen Müdigkeit befällt mich, wenn ich an die Tage denke, die noch vor mir liegen. Mit Antonello Marrone, zuerst Journalist dann Freund (wie es mit vielen wunderbaren Menschen geschah, die ich dank meines Sohnes kennenlernte), habe ich gerade diese Zeit wieder durchlaufen, habe sie wie bei einem Atemstillstand erlebt. Da war die Solidarität der Genossen und so vieler unbekannter Leute, da waren die Untersuchungen, die Photo- und Filmrecherchen, die Dokumente und Zeugenaussagen, die Berichte der Zeitungen, des Fernsehens und die Ohnmacht angesichts einer Mauer der Desinformation . Da war die Notwendigkeit die Dinge zu erklären wie sie wirklich waren, waren die Bücher, die Theateraufführungen, die von ihm handelten, die Gründung eines Komitees, die Vorbereitung einer CD mit Liedern für Carlo. Wie bei einem Atemstillstand sagte ich deshalb, weil die Tage und Nächte angefüllt sind mit Aktivitäten und wenn du anhältst, das einatmen von Schmerz unerträglich wird.
Eine Freundin sagte zu mir: „Weißt du, dass ich vor kurzem einen blonden Jungen mit einem Barett gesehen habe...”, und sie erzählte dies und das, dabei habe ich einen Stich im Herzen gespürt. Nein, ich erkenne sein Barett unter tausenden und werde nie diesen Schauer einer Illusion erleben, dass er inmitten einer Gruppe Jugendlicher stünde. Jedoch die Jungen und Mädchen seines Alters, diese zukünftigen jungen Frauen und Männer haben für mich - eine pensionierte Lehrerin, die nur in Kinder verliebt ist - eine besondere Bedeutung gewonnen. Ich habe in diesen Monaten viele von ihnen kennengelernt, so viele und so unterschiedliche Jugendliche. An der Piazza Alimonda waren die hartnäckigsten von ihnen anzutreffen. Es waren die, die sich hinsetzten und die auch die ganze Nacht dort mit einer Flasche Bier blieben, um „mit ihm zusammen einen Joint zu rauchen”. Es waren die, die unsere hochanständige Gesellschaft nicht einmal sehen will. Sie haben Pearcing, Tätowierungen und einige von ihnen verkehren im Sert (Servizio Tossicodipendenza, kommunale Betreuungsstelle für Drogenabhängige, d.R.). Es sind Jugendliche, die ein großes Herz besitzen, den Kopf voller Poesie haben und oftmals eine Welpe an ihrer Seite. Sie sind sehr sensibel, sprechen dich vielleicht mit „Sie” an oder getrauen sich nicht zu sprechen. Ich erinnere mich an andere Jugendliche, eine ganze Generation potentieller Contestatori (Mitstreiter), die von einem anwachsenden und blühendem Markt schwerer Drogen zum Schweigen verurteilt sind. Wer hat gewollt, dass sie nicht zur Kenntnis genommen werden?
Die glücklichsten, die viel Zeit in Versammlungen voller Rauch verbringen, sind ohne Zweifel, die in Parteien und Bewegungen politisch „engagierten” (was für ein häßliches Wort, doch ich finde kein anderes) Jugendlichen und die, die freiwillig in sozialen Einrichtungen arbeiten. Sie beklagen eine unvollständige, unreife Demokratie und versuchen diesen Abgrund von Ungerechtigkeit zu überbrücken. Wer könnte ihre Stelle ersetzen?
Ich stehe mit der Religion nicht auf vertrautem Fuß, denn ich bin Atheistin. Ich habe jedoch in der Schule gelernt, mit Gläubigen zusammenzuarbeiten, die den Mut hatten, sich ebenso wie ich als Kommunistin, angesichts der realen Probleme in die Diskussion einzuschalten. Ich habe sie geachtet, so wie ich heute großen Respekt vor den Jugendlichen habe, die ihren Glauben in den Dienst an der Welt stellen. Wer besitzt die Arroganz ihre großartige Bereitschaft schlecht zu machen, die sich auf den Glauben als ein Instrument der Stärke und des Kampfes gegen diese Gesellschaft bezieht.
Mit den „etwas braungefärbteren” habe ich schon seit langer Zeit solidarische Beziehungen. Seit langer Zeit leide ich auch, wenn ich sie an einer Straßenecke stehend treffe, weit weg von ihren Familien und gedemütigt. Das Lächeln, das sie mir schenken erwärmt mein Herz und ich kann nicht umhin, zu fragen: Wer hat sie gezwungen ihr Land zu verlassen, einigen von ihnen die Wurzeln entzogen, weil sie gezwungen sind Körper und Seele zu prostituieren? Sie halten sich in der Bar auf, wenn es draußen kalt ist oder sie stehen draußen um die geldfressenden Parkautmaten herum, diskutieren über das letzte Fußballspiel - die Gruppe ist überwiegend männlich, auch in diesem Teil Europas des dritten Jahrtausends. Nun, da der Sommer zurückkehrt, reicht eine Bank um zusammenzutreffen, wenn man Lust hat mit Freunden zu reden, zusammen zu sein und das Spiel der Gitarre zu hören, eine Handtrommel zu maltraitieren oder einfach Zeit zu verlieren. Warum auch nicht: Es ist so herrlich in Gesellschaft zu sein.
Alle jugendlichen Konsumatoren könnten unsere Kinder sein. Es gibt keine Plätze, wo sie hingehen können, ohne Geld auszugeben. Warum? Wer hat die Plätze der Stadt gestohlen? Wer hat die Kultur, den Sinn für Musik, Kunst und Schönheit gestohlen?
Dann gibt es da noch die anderen. Ich gestehe, dass ich sie nicht liebe, doch komme ich nicht umhin, sie zu betrachten: Sie scheinen wie Klonen von Reklame und Fernsehserien, verurteilt sich schön zu finden und sich vor dem Spiegel zu gefallen. Ihr Handy ist immer funktionsbereit, die Kleidung auf dem neuesten Stand, die Schultasche ein Markenartikel, das Haar richtig geschnitten, genauso wie ihr Lächeln. Ich weiß, dass sie als Kinder ebenfalls ein großes Potential und eine hungrige Seele besaßen. Wer hat sie zu einer Sicht der Welt verurteilt, die so kleinlich und egozentrisch ist und soviele kleinliche Ideale besitzt.
Ich habe soviele Jugendliche kennengelernt, sagte ich. Ich habe sie in dem düsteren Licht der Sozialzentren getroffen, auf der Bühne einiger Theater, in der katholischen Gemeinde San Benedetto, bei den freien Radiosendern. Ich sehe sie noch genau, die strahlenden, freundlichen und mutigen Gesichter der Jugendlichen vom Forum Sociale Antimafia in Palermo, in dieser so schwierigen und schönen Stadt. Wer bestimmt, dass mit den mafiosen Aktivitäten gelebt werden muss?
Und so viele andere habe ich in den langen Nächten der Nachforschungen auf den Photografien, Filmen, Seiten der Bücher mit ihren Zeugenaussagen getroffen. Es waren Jugendliche, die nach Genua kamen, um ihr Nein zur Ausbeutung und Krieg zu sagen, ihr Nein zu der großen Barbarei des Marktes, der inhumanen Logik der Finanzwelt. Es waren Jugendliche, verletzt an Leib und Seele.
Wer hat die Gewalt angeordnet?
Wer hat versucht, sie ihrer Träume zu berauben?
Wer fälscht, vertuscht, wer zerstört Wahrheit und Gerechtkeit?
Wer hat den Mord von Carlo beschlossen?
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