In München scheint die Sonne. Valentin trägt T-Shirt, Shorts und Klettsandalen. Die blonden Locken des 20-Jährigen sind zu einem kurzen Zopf gebunden. über die hellblaue Farbe seiner Augen und den Abstand seiner Pupillen gibt wahrscheinlich irgendwo in Italien ein Aktenvermerk Auskunft. Miriam, 25, sagt, sie alle seien am Montag vergangener Woche in der Polizeikaserne Genua-Bolzaneto erkennungsdienstlich erfasst worden, bevor man sie in die Gefängnisse abtransportierte. Valentin kann sich nicht genau daran erinnern.
Bei seiner Festnahme in Genua am 21. Juli, in einer Sackgasse am Rande der zentralen Demonstration der Globalisierungskritiker, stieß ihn ein Polizist, und Valentin fiel mit dem Kopf aufs Pflaster. Er sagt, er sei erst gegen zwei Uhr morgens in der Bolzaneto-Kaserne wieder voll zu Bewusstsein gekommen. Und er erinnert sich, dass die Wärter später in der Nacht einen Jungen aus Rom aus der Zelle holten. Er sei lange weggeblieben. "Als sie ihn zurückbrachten, fuhren sie ihn im Rollstuhl", sagt Valentin. "Sie hatten ihm beim Verhör die Schuhe ausgezogen, ihm mit Stöcken auf die nackten Sohlen geschlagen und dabei seinen Fuß zertrümmert." Ein Franzose soll in Bolzaneto mit einem Schlagstock vergewaltigt worden sein, aber das haben Valentin, Miriam und ihr gleichaltriger Freund Tobias von anderen gehört, sagen sie in München, wo der Himmel blau ist und die Sonne scheint.
Das Pärchen war an jenem Samstagabend in der Armando-Diaz-Schule, um sich über die Fahrpläne der Züge zu informieren, als eine Polizeisondereinheit das Gebäude stürmte und zahlreiche Aktivisten krankenhausreif prügelte. In seinem Gedächtnisprotokoll schreibt Tobias: "Ich flüchte mich mit anderen in den ersten Stock und setze mich auf den Boden, die Hände über dem Kopf. Von unten hört man Schreie, Schläge, zersplitterndes Glas und Holz sowie das Stöhnen der Verletzten." Miriam und Tobias werden nach Bolzaneto gebracht, wo Valentin etwa zur gleichen Zeit in seiner Zelle beginnt, die Kälte des Bodens unter seinen Füßen zu fühlen.
Miriam meint, in der Schule seien vor allem nicht organisierte Gipfelgegner festgenommen worden, "die Organisierten hatten ja die Informationen und wussten: Wir müssen jetzt schnell raus aus Genua". Valentin war mit seinem Mitbewohner am Morgen mit dem Zug angekommen, "ausgerechnet am Bahnhof Bolzaneto". Sie hatten vor, am selben Abend mit dem Zug zurück nach Freiburg zu fahren. "Ich wollte da unten nicht mal ideologisch was zum Ausdruck bringen", sagt Valentin. "Es war mehr die demokratische Vorstellung vom Bürger, der das Glotzen sein lässt."
In Bolzaneto werden Miriam und Tobias getrennt. Miriam sagt, sie hätten alle mit erhobenen Händen an einer Wand stehen müssen. "Einmal hab ich die Arme runtergenommen, weil sie taub wurden, und sofort bekam ich einen Schlag in den Rücken." Zunächst sei sie mit vier Leuten in eine Zelle geführt worden, sagt Miriam. Während es draußen hell wurde, habe sich der Raum langsam gefüllt, am Morgen seien es dann etwa 30 Leuten gewesen. Die Frauen hätten sitzen dürfen, die Männer stehen müssen. Bis um 7 Uhr.
In München, wo die Sonne scheint, erzählt sie von denen, die mit "Umweg übers Krankenhaus" nach Bolzaneto kamen, von einer etwa 40-jährigen chronisch kranken Kurdin, die in der Schweiz als anerkannte Asylbewerberin lebt, weil sie in der Türkei gefoltert wurde, und die in der Kaserne "von blauen Flecken übersät" ohne ihre Medikamente blieb. Miriam berichtet von einem Mädchen, das mit gebrochenem Kiefer und ausgeschlagenen Zähnen in die Zelle gebracht wurde. "Im Krankenhaus hatten sie ihr nur die Lippe genäht, und dann ab nach Bolzaneto."
Am Sonntagmorgen erreichte Tobias, dass Miriam in seine Zelle verlegt wurde. Er erzählt von einem Jungen, der neben ihm an der Wand stand. "Ein Polizist sagte zu ihm: Guck mal. Als er sich umdrehte, sprühte der Typ ihm CS-Gas direkt ins Gesicht. Das hat ihm die Haut verätzt. Dann stellten sie ihn ewig unter eine kalte Dusche, um das Gas abzuwaschen."
Valentin erinnert sich an Schläge "in die Weichteile". Er sagt, sie hätten sich auf den Boden kauern müssen und seien an den Haaren durch den Raum gerissen worden. "Sie riefen immer: You bastards killed a policeman, you destroyed Genoa, Heil Hitler. Ich dachte, die anderen haben einen Polizisten umgebracht, das hat in meinem demolierten Hirn als Erklärung gereicht", sagt Valentin. "Perverserweise hab ich gedacht: Dann versteh ich, warum sie so mit uns umgehen." Lange habe man ihm und seinen Zellengenossen verwehrt, zur Toilette zu gehen, "ein paar haben sich in die Hose gemacht". Am Montagnachmittag habe sich die Lage etwas entspannt. "Wir dachten, cool, wir kommen ins Gefängnis, da geht's uns besser", sagt Tobias.
Valentin wurde schon am Sonntagmittag in die Haftanstalt nach Alessandria verlegt. Am Dienstag, nach dem letzten Verhör, habe man ihm gesagt, dass er bald freigelassen werde. Dann habe es noch mal sieben Stunden gedauert. "Zwischendurch habe ich gedacht, vielleicht vergessen die mich hier. Meine Zelle war die letzte auf dem Gang. Nummer 25, Sektion 2." Er wiederholt die Zahlen auf Italienisch und lacht. In München scheint die Sonne.
Unten im Gefängnishof warteten sein "Mitbewohner", zwei Schweizer, ein Schwede, der Junge im Rollstuhl und zwei Franzosen, "der eine hat irgendwelche Späßchen gemacht, der andere hat geheult". Ein Polizist habe ihn aufgefordert, ihm zu folgen. "Das Tor ging auf. Vor mir fingen Leute an zu klatschen, streckten mir Bierflaschen und Handys entgegen." Valentin erzählt von Menschen aus Alessandria, die ihm anboten, bei ihnen zu übernachten. Am Morgen holten ihn seine Eltern ab. Valentin, Miriam und Tobias bezeugen, dass alle Fragen nach Anwälten, Telefonaten und dem Grund ihrer Festnahme bis zu ihrer Freilassung ignoriert wurden. Der Staatsschutz unterrichtete Miriams Eltern in München am Sonntagabend telefonisch über den Verbleib ihrer Tochter. Unter dem Eintrag "Pavia, 18 Uhr, Mittwoch" schreibt Tobias in sein Gedächtnisprotokoll: "Untersuchungsrichter, ca. 10 Minuten mit Anwalt, der die ganze Zeit überhaupt nichts sagt, Dolmetscher und Richterin. Viele dumme Fragen. Schließlich heißt es, ich wäre frei." Sie hätten Papiere in italienischer Sprache unterschreiben müssen, sagen die drei.
Miriams Vater zufolge riet der deutsche Konsul den angereisten Eltern, die Polizeibusse in Autos zu begleiten. "Die Inhaftierten, so der Konsul weiter, hätten Angst, weil sie unter den Anti-Terror-Einheiten, die sie an die Grenze begleiten sollten, einige der Schläger aus Bolzaneto erkannt hatten. Es sei nicht auszuschließen, dass die Kolonne an einem dunklen Parkplatz anhalte." Ihre Angehörigen sehen die Freigelassenen erst am Brenner.
Seit ihrer Rückkehr aus Genua schicken Miriam und Tobias Briefe, Faxe, E-Mails an Redaktionen und Politiker. 21 Deutsche sitzen noch immer in Italien in Haft, unter ihnen der Münchner Achim N. Auch er wurde in der Armando-Diaz-Schule festgenommen. Inzwischen soll er in ein Genueser Gefängnis verlegt worden sein, sagt Miriam. Der Haftprüfungstermin sei für den kommenden Mittwoch anberaumt. "Die gegen Achim N. erhobenen Vorwürfe sind ebenso unhaltbar wie die gegen die restlichen Festgenommenen", schreiben Miriam und Tobias in einer Erklärung. "Mit allen Mitteln wird versucht, eine Mitgliedschaft im so genannten ,black block' zu konstruieren. Als schwerwiegendste Beweismittel dienen schwarze Kleidungsstücke."
Die Suche nach Unterstützung gestaltet sich schwierig. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hat noch kurz vor ihrem Sommerurlaub eine Stellungnahme verfasst, "eine ziemlich coole Erklärung", wie Tobias findet. Auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Siegmar Mosdorf engagiert sich. Die Stadt München habe dagegen bisher kein Interesse für den Fall Achim N. gezeigt, sagt Tobias, ebenso wenig wie das Büro Rita Süssmuth (CDU).
Hansjörg Ebell, Facharzt für psychotherapeutische Medizin in München, der mit
Valentin und anderen Genua-Heimkehrern gesprochen hat, hält deren Darstellung für "absolut glaubwürdig". In der Traumaambulanz der Ludwig-Maximilians-Universität wurden Miriam und Tobias vergangene Woche unter anderem "Desorientiertheit, gegenstandslose Angstreaktion, erhöhter Erregungszustand, körperliche und psychische Erschöpfung" attestiert, als "direkte Reaktion auf die über mehrere Tage anhaltende Stressbelastung durch die Polizeiaktion und die Bedingungen der Inhaftierung".
Valentin konsultierte nach seiner Rückkehr einen Arzt, der in der bayrischen Provinz als Neurologe und Psychiater praktiziert. "Als ich vom EEG zurückkam, sagte er: Valentin, ich sag dir das jetzt, weil ich's gut mit dir mein'. Du hast ja nun die entfesselte Staatsgewalt kennen gelernt, und du weißt sicher, dass in Europa wie auch hier in Deutschland das Gewaltmonopol beim Staat liegt. Und deswegen rate ich dir, gerade weil ich es gut mit dir meine, dass du einmal darüber nachdenkst, wie du in Zukunft dein Leben orientierst." Valentin hat wieder angefangen zu rauchen. Und in München scheint die Sonne.
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