Notwehr sei es gewesen, sagt die Polizei, und die überall veröffentlichten Fotos und Augenzeugenberichte scheinen dem eine gewisse Glaubwürdigkeit zu geben. Die Fotos zeigen einen Jeep der Carabinieri, gegen eine Häuserwand gelehnt, drei Demonstranten, die ihn bedrängen, Carlo mit erhobenem Feuerlöscher von hinten, eine ausgestreckte Hand aus dem Jeep herausragend, die eine Pistole hält und zielt. Die Fotos sind eine Momentaufnahme in der Endphase des Geschehens, sie zeigen den Tathergang nicht.
Der Corriere della Sera hat Ende Juli den Bericht eines Freundes von Carlo Giuliani veröffentlicht, in dem dieser selbstanklagend sagt: "Ich war dabei, als Carletto durch einen Pistolenschuß ins Gesicht ermordet wurde. An dem Freitag war ich in der Gruppe der Demonstranten, die den Jeep der Polizei angegriffen haben. Auch ich habe mich beteiligt, Steine und andere Gegenstände gegen den Jeep zu werfen. Dann habe ich die gestreckte Waffe gesehen, habŐ den Carabiniere gehört, wie er schrie: ,Bastarde, ich bring euch alle um, bring euch alle um." Dennoch glaubt er nicht an die These der Notwehr. "Mehr als voller Angst war er außer sich." "Die Situation war aufs Äußerste gespannt. Nach den wiederholten Tränengasangriffen der Polizei hat sich ein kollektiver Zorn entladen. Da schien es uns gar nicht wahr zu sein, daß wir einen Jeep erobert hätten..."
Der "entfesselnde Moment" sei der Steinhagel von der Eisenbahnbrücke durch Gruppen des Schwarzen Blocks gewesen. Die darunter stehenden Demonstranten aus dem Block der Tute Bianche schreien: ,Aufhören, aufhören.' Tränengas wird verschossen, Chaos bricht aus, die Demonstration teilt sich in zwei; die Spannung steigt, das Barometer steht auf Straßenschlacht. "Aber niemand von uns hat versucht, den Carabiniere aus dem Wagen zu zerren, wie dieser behauptet hat, es gab keinen Körperkontakt." Der Freund beschreibt, wie andere Ordnungskräfte in der Nähe standen, die zu dem Zeitpunkt nicht eingegriffen hätten. Er sieht den Carabiniere auf einen Nebenstehenden, nicht Carlo, zielen und ruft:
"Wegrennen, der schießt." Dann sieht er den Feuerlöscher am Boden, sieht wie Carlo, den er zu dem Zeitpunkt nicht erkennt, ihn aufhebt, hört zwei Schüsse, dann einen dritten.
Der Augenzeugenbericht bringt neue Elemente (die in der Nähe stehenden Uniformierten und daß der Carabiniere zunächst auf jemand anderen zielt), scheint aber die Version von der Notwehr zu bekräftigen, auch wenn der Freund das Motiv bestreitet. Eine Fotoserie aus England, bestehend aus 14 Fotogrammen, legt jedoch einen anderen Hergang nahe. Auch sie zeigt, daß der Jeep keineswegs allein dastand, sondern eine Gruppe Soldaten sich in der Nähe aufhielt, die den Vorgang beobachteten, ohne einzugreifen. Sodann ist der Feuerlöscher, den Carlo Giuliani zum Zeitpunkt seiner Ermordung in der Hand hielt, zuerst aus dem Inneren der Wanne nach draußen geschleudert worden. Der Carabiniere, der Carlo erschießen wird, richtet seine Pistole auf einen Jungen, während Carlo auf den Feuerlöscher am Boden schaut. Der Junge flieht, nachdem er die Pistole gesehen hat - hat Carlo sie gesehen? Carlo hebt den Feuerlöscher auf. Er nähert sich dem Jeep, hält den Feuerlöscher hoch. Der Rest ist bekannt: Der Carabiniere feuert zwei Schüsse auf ihn ab, Carlo fällt, der Jeep setzt zurück, überfährt ihn, legt den ersten Gang ein und überfährt ihn noch einmal.
Die Polizei hat zunächst versucht, den Mord zu vertuschen und sprach davon, ein Stein sei ihm an den Kopf geflogen. Ein Fotograf der Agentur Reuters entlarvte die Lüge noch am selben Abend. Seitdem spricht die Polizei - und natürlich auch die Regierung - von Notwehr.
Aber legt die Fotosequenz nicht nahe, daß es Carlo gewesen sein könnte, der aus Notwehr gehandelt hat? Aus dem Jeep wird ein Feuerlöscher auf die Demonstranten geworfen, der Carabiniere zieht die Pistole und zielt auf den Jungen neben ihm, Carlo hebt den Feuerlöscher auf, um den Schuß zu verhindern - und wird erschossen.?
Wie Regierung, Polizei und der Großteil der Presse in Italien mit vereinten Kräften versuchen, die These aufrechtzuerhalten, das Genoa Social Forum habe in Wirklichkeit mit dem Schwarzen Block unter einer Decke gesteckt und als Deckung für Gewalttaten gedient, so wird auch Carlo Giuliani und seinem Freund umstandslos dem Schwarzen Block zugeordnet. Das ist nicht wahr. Die beiden aus Genua stammenden Freunde hatten sich dem Demonstrationszug der Tute bianche angeschlossen; der Freund hatte sich einen passiven Schutz aus Helm, Schwimmweste und Gelenkschützern zugelegt, Carlo war im Unterhemd und hatte nur eine schwarze Kappe übergezogen.
Carlo Giuliani, 23 Jahre, Sohn eines Sekretärs der CGIL, war ein Punk. "Er war auf der Suche, er wußte selbst nicht nach was. Es ist eine Schweinerei, wenn gesagt wird, er habe die Gewalt gewählt", zitiert der Corriere della Sera einen Freund von ihm. "In Wirklichkeit verstand er es nicht zu wählen, er wußte nicht, was mit sich und seinem Leben anzufangen, er konnte sich nicht entscheiden. Auch deshalb wurde er Carletto genannt, weil er innerlich nicht stark war. Er hatte keine Fahnen, und versucht auch nicht, ihm eine anzuhängen!"
Er hatte aus pazifistischen Gründen den Kriegsdienst verweigert und war vorbestraft wegen Tragens eines Messers und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Drei Monate lang war er Mitglied in der Jugendorganisation von Rifondazione, dann hat er der Politik der Rücken gekehrt. Er hatte eine Leidenschaft für die harten Texte von Public Enemy und Assalti frontali, und eine große Leidenschaft für den AS Rom. Die Fahne des AS Rom war es auch, die am Schluß seinen Sarg bedeckte. Er kehrte dem Elternhaus den Rücken, lebte eine Zeitlang auf der Straße, geriet in die Drogenabhängigkeit, ging auf Entzug. Zwei Wochen vor seinem Tod meldete er sich als Freiwilliger bei einer Initiative zur Bekämpfung von AIDS. Er hatte auch die Gefährtin seines Freundes aufgenommen — sie hatten sich getrennt — mitsamt ihrer 17 Monate alten Tochter, um die er sich kümmerte als wäre es seine eigene.
"Carlo war kein Gewalttätiger, er hatte einen eigenen Begriff von Ehre und Gerechtigkeit, er hatte beschlossen, sein eigenes Leben zu leben. Er hat sich nie zuvor bei einer Demonstration etwas zuschulden kommen lassen."
Und sein Freund, der neben ihm am Jeep war, und doch beide jeder für sich, voneinander nichts wissend? Aus guter Familie, Vater Psychoanalytiker, Mutter Hausfrau, Abschluß des humanistischen Gymnasiums, danach orientierungslos, lebt von Gelegenheitsjobs wie Tellerwäscher oder Aushilfe bei Großkonzerten. Auch er vorbestraft wegen lächerlicher Angelegenheiten: fünf Gramm Haschisch mit 17 und Beamtenbeleidigung mit 21, als er in eine Fahrkartenkontrolle geriet. Seitdem wird er als "sozial gefährlich" geführt.
aus: Corriere della Sera, 26.7.2001
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