Die Ereignisse von Genua haben viele Facetten. Im Vordergrund steht die massive staatliche Gewalt. Ein Toter, hunderte von (Schwer-)Verletzten und vermutlich viele lang anhaltende Traumatisierungen sind die deprimierenden Folgen dieser Gewalt. Darüber sollte aber nicht die Mobilisierung von 200 000 - 300 000 Menschen (ZDF und n-tv berichteten dagegen nur von 50 - 60000 DemonstrantInnen) vergessen werden. Diese Mobilisierung ist erst einmal als Erfolg zu bewerten. Sie zeigt, dass die uneingeschränkte Hegemonie der neoliberalen Globalisierung zumindest angekratzt ist.
Diese neoliberale Globalisierung ist ein widersprüchlicher sozialer Prozess, der äußerst gewaltförmig verläuft, vor allem in Ländern der sog. Dritten Welt. Dies wurde und wird hier nur von einer verschwindend geringen Minderheit wahrgenommen und kritisiert. Die Gewalt nimmt dabei unterschiedliche Formen an. Seit wenigen Monaten äußert sie sich auch hier (EU-Länder) zunehmend in Gestalt massiver physischer Repression gegenüber den KritikerInnen der neoliberalen Globalisierung. Die - so ist zu befürchten - vorläufigen Höhepunkte dieser Entwicklung sind die Todesschüsse, die Prügelorgien und die auf den Polizeiwachen die Schwelle zur Folter erreichenden Praktiken der "Sicherheitskräfte" in Genua. Ihnen voraus gingen bis dahin unbekannte Versuche zur Kriminalisierung und Einschüchterung der sog. Globalisierungsgegner, angefangen von aberwitzigen, aber nichtsdestotrotz von "seriösen" Medien verbreiteten Unterstellungen (Stichwort: Attentate mit aidsverseuchten Blutkonserven) über das zeitweilige Außerkraftsetzen der Reisefreiheit bis hin zur öffentlichkeitswirksamen Bereitstellung von 200 Leichensäcken. Der Hass und die bewusst durchgeführten brutalen Prügeleien seitens der Polizei haben eine Dimension erreicht, die bisher unvorstellbar war und auch in keiner Weise mit dem Agieren des sog. Schwarzen Blocks und anderer Militanter erklärt werden kann. Einige sprechen von Polizeistaat und Staatsterrorismus, andere von protofaschistischen Elementen, wieder andere denken an Chile. Für viele wird sich Genua mit traumatischen Erfahrungen, mit purer Angst, Panik und Hilflosigkeit verbinden. Noch fehlt uns die passende Sprache, um diese Ereignisse angemessen zu beschreiben.
Wir sehen in den Ereignissen von Genua eine neue Qualität des staatlichen und medialen Umgangs mit den Widersprüchen neoliberaler Globalisierung. Dabei sind wir uns der langen Geschichte der Unterdrückung linker Bewegungen vor allem in den 70er Jahren bewusst. Wir sehen aber auch neue Herausforderungen für die internationale Protestbewegung. Im Folgenden wollen wir auf beide Aspekte eingehen, indem wir uns - ausgehend von Genua - mit der Frage staatlicher Gewalt, der Rolle von Militanz und den Perspektiven des internationalen Protestes beschäftigen.
Noch in den 90er Jahren hatten sich staatliche Akteure darauf konzentriert, dem damals vor allem in Gestalt von professionalisierten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) daher kommenden Protest gegen die "Auswüchse" neoliberaler Globalisierung dadurch zu begegnen, dass sie den NGOs auf dem Nebenschauplatz der UN-Konferenzen begrenzte Mitspracherechte einräumten. Mit dieser "Offensive des Lächelns", einer Strategie der Kooptation und Einbindung, hatten die staatlichen Akteure großen Erfolg. Viele Lobby- und NGO-VertreterInnen sahen in diesen Dialogangeboten auch einen Beweis ihrer Stärke. Sie produzierten Expertisen, bewegten sich professionell auf dem diplomatischen Parkett und vertrauten auf die Macht des besseren Arguments. Mit Seattle änderte sich die Situation. Die massiven Proteste auf der Straße unterstrichen, dass es mit der "Offensive des Lächelns" allein nicht mehr getan ist.
Anders ausgedrückt: Nachdem sich ein relevanter Teil der KritikerInnen neoliberaler Globalisierung nicht länger an den herrschenden Politikformen und -inhalten orientiert, sondern diese selbst in Frage stellt und mit den symbolischen Angriffen auf G-8, IWF oder WTO die Legitimation dieser Institutionen erfolgreich angekratzt hat, wird verstärkt die repressive Karte gespielt. Zwei Ziele werden damit verfolgt: Zum einen soll die sich heraus bildende internationale Protestbewegung in der Öffentlichkeit delegitimiert werden. Dies zeigt sich in Kommentaren, die den "Globalisierungsgegnern" bescheinigen, in Genua "keine zusätzliche Legitimität gewonnen (zu haben), die sie auch nur entfernt in die Nähe der gewählten Repräsentanten alter Demokratien rückte" (FAZ, 23.07.01); dies zeigt sich des Weiteren in der Rede von "Krawallmachern" und "Polit-Hooligans", die sich durch die Mainstream-Medien zieht; und dies zeigt sich schließlich in der Diskreditierung und Kriminalisierung der Bewegung seitens der staatlichen Gewaltapparate. Zum anderen wird versucht, die Heterogenität und Widersprüchlichkeit der Protestbewegung zu nutzen, um sie zu spalten. Aufforderungen zur Distanzierung von den Gewalttaten des sog. "Schwarzen Blocks" gehen hier einher mit Vereinnahmungsbemühungen gegenüber gemäßigten Organisationen und den meisten Intellektuellen. Angesichts der nicht länger zu verschleiernden, bislang jedoch vor allem symbolischen Erfolge der Bewegung ist in naher Zukunft mit verstärkten Kooptationsoffensiven zu rechnen. Diese werden sich vor allem an die Teile der Bewegung richten, die man vielleicht als "außerparlamentarische internationale Sozialdemokratie" incl. ihrer grünen und kirchlichen Strömungen bezeichnen kann. Diese besetzen die Politikfelder, die in Deutschland mit der neoliberalen Wende von Rot-Grün aufgegeben wurden. Für andere Länder gilt aber ähnliches. Typisch für diese Teile der Bewegung ist die Hoffnung auf den Staat als Moderator des Globalisierungsprozesses. Diese relative Staatsnähe macht sie anfällig für Vereinnahmungs- und Spaltungsversuche seitens der staatlichen Apparate. Sehr wahrscheinlich ist, dass nur noch diejenigen Organisationen finanzielle Zuwendungen erhalten, die sich von radikaleren Aktionsformen unmissverständlich distanzieren.
Ob dieses staatliche und mediale Vorgehen erfolgreich sein wird, lässt sich derzeit noch nicht sagen. Jedoch sind u. E. mindestens zwei Entwicklungen vorstellbar. Erstens: Die Polizeistaatsmethoden fallen auf ihre Urheber zurück. Bis in die konservative Presse wird eingestanden, dass die Polizei den Bogen überspannt hat. Wenn eine relevante und zunehmend artikulationsfähige Minderheit mittels Wasserwerfer, Tränengas und Prügelorgien von den Segnungen des Freihandels überzeugt werden soll, dann findet das vielleicht die Zustimmung der FAZ. Liberalere Medien geraten dadurch in ein Dilemma, das sich auf die Formel "Für Freihandel oder für Bürgerrechte" bringen lässt - und entscheiden sich u.U. für letztere. Auch die im Zuge von Göteborg scheinbar noch erfolgreichen Versuche zur Spaltung der Protestbewegung könnten mit Genua einen Rückschlag erlitten haben. Denn die an die gemäßigteren Teile gerichtete Forderung, sich von den "Militanten" zu distanzieren, droht dann ins Leere zu laufen, wenn sich diese Teile selbst plötzlich mit massiver staatlicher Repression konfrontiert sehen.
Die zweite denkbare Entwicklung bestünde darin, dass sich die Tendenz eines primär repressiven Umgangs mit großen Teilen der Protestbewegung verdichtet. Diese Strategie müsste, um dauerhaft erfolgreich zu sein, ausgeübt werden als in Genua. Des Weiteren müsste sie von einer auf die Stabilisierung neoliberaler Hegemonie zielenden ideologischen Offensive begleitet werden, die auch die Mitspracheangebote an gemäßigte KritikerInnen und den ihr verbundenen Intellektuellen zu erweitern verspricht. Der nächste Gipfelort böte hierfür gute Gelegenheiten, denn in der Abgeschiedenheit der kanadischen Rocky Mountains könnte die Zitadellenatmosphäre von Genua u.U. einem Klima der Vertraulichkeit weichen, in dem erlesene VertreterInnen der globalen "Zivilgesellschaft" der Einladung zum Kamingespräch nur schwer widerstehen würden. Der "militante Rest", der nicht hinzu gebeten würde bzw. sich dieser Form des "Dialogs" zu widersetzen wagte und sich damit selbst "diskreditierte", würde dann vertrauensvoll den staatlichen Gewaltapparaten überantwortet. Die Spaltung der Protestbewegung ebenso wie die Delegitimierung der "nicht-dialogwilligen" Teile innerhalb selbiger wäre geglückt.
Die internationale Protestbewegung befindet sich u. E. also in einer wichtigen Phase. Möglich ist, dass sie in einer breiteren Öffentlichkeit Rückhalt gewinnt (ATTAC Deutschland z.B. erfreute sich in den Tagen nach Genua laut Frankfurter Rundschau vom 27.07.01 eines starken Mitgliederzuwachses) und dass sie sich intern festigt, dass also die brutale staatliche Gewalt zur Solidarisierung mit und innerhalb einer äußerst heterogenen Bewegung führt. Eine Bewegung, die sich ihrer Widersprüchlichkeit bewusst ist, kann sich in ihrer wechselseitigen Kritik durchaus stärken. Möglich ist aber auch, dass die Protestbewegung einen Legitimitätsverlust erleidet und dass die staatliche Repression die internen Widersprüche verschärft. Einer dieser zahlreichen Widersprüche ist die Haltung zur Militanz.
Gebetsmühlenartig wird in vielen Medien behauptet, militante Aktionsformen würden den Anliegen der Gegendemonstranten per se schaden. Behauptet wird dies in aller Regel von denselben Medien, denen die Anliegen der GegendemonstrantInnen keine Notiz wert sind, die bei Begriffen wie strukturelle Gewalt nur müde abwinken und die nicht willens sind, über die katastrophalen Auswirkungen etwa der Verschuldungskrise zu informieren. All dies ist ihnen zu abstrakt und zu theoretisch. Damit lassen sich keine Auflagen steigern. Es sind dieselben Medien, die nach der Randale, nach martialischen Bildern, nach dem eingeschlagenen Schaufenster und nach Blut gieren, um sich sofort empört davon distanzieren zu können.
Doch auch von vielen Kritiker/innen neoliberaler Globalisierung wird die Position vertreten, dass Militanz per se den politischen Anliegen von Bewegungen schadet. So schreibt etwa Peter Wahl (taz, 16.7.01), Mitarbeiter von WEED: "Das Gewaltthema marginalisiert alles Inhaltliche." Und Susan George, eine der bekanntesten GlobalisierungskritikerInnen, formulierte unmittelbar nach Göteborg: "Die Medien sprechen natürlich nur über die Gewalt. Unsere Ideen, die Gründe für unsere Opposition, unsere Vorschläge werden vollständig in den Hintergrund gedrängt... Eine Bewegung kann sich nicht auf der Grundlage einer Jugendkultur und auf der Bereitschaft, sich verprügeln zu lassen, entwickeln" (elektronischer Rundbrief von ATTAC Frankreich, 18.06.01). Solche Einwände und Kritik müssen ernst genommen werden.
Wie auch immer man der Militanz gegenüberstehen mag, festzuhalten bleibt: Militanz in sozialen Bewegungen war immer sehr widersprüchlich. Sie war seit der 68er Bewegung fester Bestandteil sozialer Bewegungen. Sie hat des Öfteren auch dazu beigetragen, Themen in das Blickfeld der Öffentlichkeit zu bringen und somit Räume für politische Auseinandersetzungen zu öffnen. Zu nennen wären für die BRD etwa die Häuserkampfbewegung, die Anti-AKW-Bewegung und die Bewegung gegen die Startbahn West zu ihren Hochzeiten. Keineswegs war es in diesen Bewegungen so, dass der Protest nur von denen getragen wurde, die dazu bereit waren, sich verprügeln zu lassen (s. Wackersdorf). Und in den 90er Jahren waren es vor allem Militante, die sich den neonazistischen Aufmärschen entgegen gestellt und Flüchtlingsheime vor dem rassistischen Mob geschützt haben. Die Militanz der Zapatisten, um ein weiteres Beispiel zu nennen, hatte eine Fülle positiver Auswirkungen. Ihre Aktionen waren stets begründet und vermittelbar. Ihre Militanz folgte immer dem Primat des Politischen. Sie machte aufmerksam auf die Auswirkungen der neoliberalen NAFTA-Politik und war auch eine Art Initialzündung für eine internationale kapitalismuskritische Protestbewegung. In Folge der Interkontinentalen Treffen bildeten sich transnationale Netzwerkstrukturen heraus. Von diesen profitiert die internationale Protestbewegung heute.
Ein letztes Beispiel ist die internationale Protestbewegung selbst. Mit ihrer Mischung aus Massenmobilisierung, Entschiedenheit und Militanz hat sie es geschafft, den Schwerpunkt der Aktivitäten in Seattle zum ersten Mal seit langer Zeit vom Konferenzsaal auf die Straße zu verlagern. Deutlicher als zuvor werden seitdem der gewalt- und herrschaftsförmige Charakter der Weltwirtschaft und die Rolle, die die G-8-Staaten dabei spielen, thematisiert. Im Gegensatz zu Susan George sind wir deshalb der Ansicht, dass auch aufgrund der in Seattle etc. angewandten militanten Protestformen so viel über "unsere Ideen" und "die Gründe für unsere Opposition" berichtet wird wie seit langem nicht mehr. Die "Zeit" schreibt in ihrer Ausgabe vom 26.07.01: "Genua 2001: War das die Geburtsstunde einer neuen linksradikalen Bewegung? (...) Klar ist, dass die Ereignisse von Genua die Globalisierungskritiker geeint und gestärkt haben. (...) Seit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus 1989 hatte die neoliberale Wirtschaftstheorie nahezu unangefochten den Ton vorgegeben. War es überhaupt nicht chic, nach den Schattenseiten von Globalisierung, Flexibilisierung und Rationalisierung zu fragen. Nun aber etabliert sich wieder ein linker, antikapitalistischer Diskurs, der bis weit in die Bevölkerung hinein Sympathie findet. (...) Die Globalisierungskritiker sind im Aufwind, und der radikale Flügel hat ihr Anliegen in die Schlagzeilen gebracht. Erinnert sich noch jemand an den Weltwirtschaftsgipfel vor zwei Jahren in Köln? Damals hatten 40 000 Protestierer friedlich für dieselben Ziele demonstriert wie jetzt in Genua - große Aufmerksamkeit wurde ihnen nicht zuteil. (...) Gewalt, kein legitimes Mittel in der politischen Auseinandersetzung, hat die Mobilisierung sozialer Bewegungen schon oft vorangetrieben." Wie gesagt, man kann dies bedauern oder nicht. Aber man sollte nicht einfache Kausalketten wie Wahl und George herstellen, die der Überprüfung nicht standhalten.
Allerdings kann nicht verschwiegen werden, dass es auch in Genua Aktionsformen gab, die nicht akzeptiert werden können. Jede Aktionsform trägt ein hohes Maß an Verantwortung für andere in sich. Dieser Grundsatz wurde des Öfteren missachtet. Einige Militante haben andere DemonstrantInnen als Schutzwall missbraucht; andere haben Bankfilialen angezündet, die sich in Wohnhäusern befanden (s. taz vom 1.8.01). Wieder andere haben kleine Läden geplündert und Tankstellen angezündet. Dies waren beileibe nicht nur Polizeiprovokateure, die es, wie Foto- und Filmaufnahmen eindeutig belegen, gegeben hat. Unsere Kritik gilt aber auch den Kommentaren auf einigen Internetseiten, die für eine Ausweitung der Militanz plädieren. Wir können nicht beurteilen, wie repräsentativ solche Aussagen sind. Solche Beiträge lassen sich u.E. nur als unmittelbare Reaktionen auf die schockartigen Eindrücke von Genua erklären. Denn eins sollte klar sein: Auf dieser Ebene kann es nur einen Sieger geben.
Trotz dieser Kritik kann es angesichts der Ereignisse von Genua kann es nicht darum gehen, in voraus eilendem Gehorsam und im zweifelhaften Bemühen, die "eigentlichen Anliegen" der Bewegung davor zu bewahren, diskreditiert zu werden, sich in Distanzierungen von der Militanz gegenseitig zu überbieten. Dies käme einem Steilpass auf die Regierenden und ihre massenmedialen Unterstützer gleich. Es würde bedeuten, sich auf deren Spielfeld zu begeben und sich den herrschenden Spielregeln anzupassen und damit eben den Weg zu verlassen, der in Seattle eingeschlagen wurde und der die Stärke der Bewegung bislang ermöglicht hat. Solche Distanzierungen würden auch den medial vermittelten Eindruck verstärken, als hätten sich in Genua linke und staatliche Gewalt gegenseitig aufgeschaukelt und die Eskalation der Gewalt seitens der Polizei wäre eine Folge dieses Aufschaukelungsprozesses.
Die staatliche Gewalt hatte - ebenso wie die Kriminalisierungsversuche im Vorfeld des G-8-Gipfels - zum Ziel, die internationale Protestbewegung einzuschüchtern, zu schwächen und zu delegitimieren. Es besteht allerdings die begründete Aussicht, dass dies nicht wie gewünscht gelungen ist. Infolge dieser Ereignisse sehen wir drei Herausforderungen, die sich der internationalen Protestbewegung jetzt stellen.