Bei den Ereignissen in Genua geht es um mehr, als um die Zerschlagung einer sehr großen Demonstration.
(Script unserer Sendung vom 26.07.01)
Auf Details achten und auch scheinbare Nebensächlichkeiten verfolgen sollten JournalistInnen eigentlich sogar dann, wenn sie nur als Amateure für ein Freies Radio arbeiten.
Doch die Feinheiten entgehen uns, als unser Korrespondent Bernd Moser aus Genua am Freitag um 15 Uhr anruft, kaum das Heulen der Polizeisirenen um sich herum übertönen kann, um mitten aus der Straßenschlacht zu berichten: "Die Polizei ist nur darauf beschränkt die 'Rote Zone' abzusichern und um diese Zone herrscht das Chaos. Aber auf der Straße hat man volle Bewegungsfreiheit und überall um mich herum kracht es." Ein Fest der als gemäßigt geltenden Organisation Attac, die mit Steuern der Globalisierung zu Leibe rücken möchte, nicht mit Molotov-Cocktails und Steinen, sei, widerspricht er im nächsten Satz seiner vorhergehenden Behauptung der "völligen Bewegungsfreiheit", soeben mit brutaler Gewalt von der Polizei geräumt worden.
Diesen Widerspruch erklären sich das Genua Social Forum, Mitglieder der "tute bianche" oder der Italienkenner Azzellini als bewusste Strategie von Drahtziehern aus Berlusconis Staatsapparat: Es musste brennen in der ligurischen Hauptstadt, die nun folgende Repression soll die ganze Bewegung treffen.
Und noch einmal im gleichen Telefonat eine Passage, die uns nicht aufhorchen lässt und nicht zum Nachfragen veranlasst. Bernd zeigt sich unsicher, obwohl er im Sender als Fachmann für die verschiedenen politischen Szenen gilt, wo er die Militanten, die da agieren, einordnen soll: "Ich weiss auch nicht wer da welchem Spektrum zugehört: Leute mit Helmen und Schlagstöcken haben andere Leute mit Helmen und Schlagstöcken daran gehindert, Geschäfte einzuhauen." Und dann wiederholt er, als würde ihn dies tatsächlich verwirren: "Irgend ein kleineres Geschäft wird mit Steinen und Stangen angegriffen und dann kommen relativ schnell Leute die genauso aussehen wie die andern und sagen: das ist nicht korrekt - die sollen die Finger davon lassen und wo anders hingehen."
Zweieinhalb Stunden später der Tod Carlo Giulianis. Eine Beschreibung der Umstände, von der wir (hier in Nürnberg) zur Stunde noch nicht wissen, ob sie im Detail zutrifft:
Die Polizei hat ihre Taktik geändert - es wird großflächig mit Tränengas und Schlagstock vorgegangen. Eine der Fronten in dieser Schlacht löst sich gerade auf - die Polizei ist weit genug auf Distanz, um den Rückzug möglich zu machen. Ein einzelnes Fahrzeug der Carabinieri rast plötzlich auf die Menge zu, fährt jedoch auf eine Mülltonne am Rande der Straße auf. Es wird von militanten Demonstranten umringt und angegriffen. Auf Bildern sind Schlagstöcke und eine Holzlatte zu sehen, mit der ein Fenster des Wagens eingeschlagen wird. Ein Feuerlöscher fliegt durch die Luft und fällt auf den Boden, vielleicht wird er aus dem zersplitterten Heckfenster herausgeworfen. Einer der Polizisten taucht am Heckfenster auf und richtet seine Pistole auf die Angreifenden. Carlo hebt den Feuerlöscher auf, und hält ihn in den Händen, während die anderen angesichts der Waffe fliehen oder in Deckung gehen. Der Polizist feuert aus nächster Distanz auf Carlos Kopf, der Getroffene stürzt zu Boden. Der Fahrer legt den Rückwärtsgang ein und überrollt den Körper Giulianos.
Nach Bekanntwerden der tödlichen Schüsse gibt ein Teil der Bewegung die Parole aus, für den nächsten Tag vorsichtiger zu agieren. Aber die Carabinieri üben nach der Tat ihres Kollegen anderntags nicht etwa ihrerseits Zurückhaltung, sondern zeigen provozierend ihre Tränengasgewehre aus den Fenstern und Dachluken der Wägen, in denen sie die Straßen patrouillieren. Es kommt zu ersten Zusammenstößen: Eine Minderheit habe die Auseinandersetzung gesucht heisst es in den Medien.
Doch der Zug von mehr als 100.000 GlobalisierungsgegnerInnen wird immer wieder brutal bedrängt und mit Hilfe von Knüppel- und Tränengaseinsätzen aufgespalten. Die Angriffe der Beamten gelten nicht nur dem "Black Bloc". Auf 60jährige Mitglieder der "Rifundazione Communista" wird ebenso eingeprügelt, wie auf 18jährige, die das erstemal eine Demonstration mitmachen. Die Straßenschlacht entbrennt auf's Neue. Einwohner Genuas kommen aus den Häusern und warnen vor heranrückenden Polizeitrupps. Es herrscht Angst vor der Brutalität der Einsatzkräfte und manch einer greift vielleicht zum Pflasterstein, der diese Absicht zuvor nicht hatte. Und in all dem schallt schwarzen Trupps wo sie auftauchen von demonstrierenden Italienern und aus Fenstern immer wieder der Ruf entgegen: Assassini - Mörder! Maike Dimar, ebenfalls für Radio Z in Genua, berichtete uns, ein Block offensichtlich friedlich Protestierender habe sie und ihre BegleiterInnen wütend weggeschickt. Der Vorwurf: Sie seien PolizistInnen in Zivil - sie und ihre BegleiterInnen trugen zum Teil schwarze Kleidung.
Assassini, Assassini! Warum sollten die Militanten Mörder sein, denen doch der Tote zugerechnet werden muss? Die italienischen Linken glauben, es hätten sich Faschisten unter die Schwarzgekleideten gemischt, wird uns gesagt. Aus dem sicheren Studiosessel kommt uns dies vor wie ein paranoides Gerücht aus dem Hexenkessel der Verschwörungstheorien.
Als Indizien für die Absicht, Straßenschlachten nicht zu verhindern, sondern die Eskalation zu schüren, so Maike Dimar in einem Bericht aus Genua, werde gesehen, das bei Grenzkontrollen "Demomaterial" bis hin zu Zwillen wieder eingepackt werden durfte. Auch nach einer Razzia in einem besetzten Haus durften die Bewohner gefundene Gegenstände, die für eine Straßenschlacht brauchbar sind, behalten. Keine echten Belege, keine Beweise: In Italien ist "defensive Bewaffnung" auf Demonstrationen nicht verboten. Am Samstag abend jedoch kündigt das Genua Social Forum an, es gebe Beweise dafür, schwarz vermummte Polizisten hätten sich unter die DemonstrantInnen gemischt.
Doch zur Präsentation dieser Beweise kommt es nicht mehr. Denn das Zentrum des GSF, das "Headquarter der Gipfelgegner", wie es in der Presse heißt, wird in der Nacht zum Sonntag gestürmt. Hier nimmt die Polizei Beschlagnahmungen vor. Sie nimmt Arbeitsgeräte der anwesenden JournalistInnen und Bildmaterial mit. Eine These, die auf indymedia diskutiert wird lautet: Es soll belastendes Material aus dem Weg geräumt werden. Das staatliche Fernsehen wurde allerdings nicht gestürmt. Ein Fehler: es zeigte Bilder von Vermummten, mit Helmen und Eisenstangen bewaffnet, die aus Polizeikasernen kommen, in Polizeifahrzeuge einsteigen und mit Polizisten (militärische) Einsatzbefehle austauschen.
Dennoch - Provokateure in Demonstrationen, das ist auch für die BRD nichts Ungewöhnliches. Es sind Zivilbeamte, die natürlich keine Straftaten begehen dürfen, dies aber im Eifer des Gefechtes dann doch manchmal tun und natürlich passiert so etwas nur in den Fällen, in denen es herauskommt. Eine Banalität eigentlich.
Seit Samstag reißen auch in der BRD die Demonstrationen wegen Carlo Giulianis Tod nicht ab. In München waren es 600 Menschen, ebenso viele in Hamburg, 200 in Leipzig, 100 in Nürnberg, 800 in Berlin. Doch in Italien gehen mehr als 300.000 auf die Straße. 50.000 in Rom, 15.000 in Bologna, 25.000 in Mailand, 10.000 in Genua und 1000e in 100 weiteren Städten. Sie demonstrieren aus Trauer um einen Toten, sie gehen auf die Straße gegen Polizeiwillkür. Aber es treibt die Linke auch die Angst um, was in Genua geschah sei Teil einer politischen Strategie auf dem Wege zu einer faschistischen Entwicklung. Paranoia? Der Versuch von links Hysterie zu schüren und die Regierung Berlusconi um jeden Preis zu diskreditieren?
Wer die Geschichte Italiens nur ein wenig kennt, versteht warum in Genua "Assassini" gerufen wurde und warum die Bereitschaft existiert, zu glauben, dass da mehr ist, als nur eine in die Hose gegangene Polizeistrategie.
Die Rede ist von der "Strategie der Spannung", [siehe: Dossier zur "Strategie der Spannung"] der Geheimloge P2 und der berüchtigten Organisation "Gladio". Ein Eckdatum der italienischen Nachkriegsgeschichte ist der 12. Dezember 1969. In Mailand explodiert auf der Piazza Fontana in einer Situation, in der sich die Massenbewegung der StudentInnen und ArbeiterInnen auf ihrem Höhepunkt befindet, eine Bombe. 16 Tote, 84 Verletzte. Die Polizei ermittelt gegen "Anarchisten". Der Geheimdienst legte die falschen Spuren und ein Polizeikommissar wird während der Ermittlungen ermordet. 12 Menschen begehen Selbstmord oder erleiden tödliche Unfälle, die mit dem Fall zu tun haben. Am Ende werden Faschisten angeklagt, die 1989 freigesprochen werden. Dies ist der Auftakt der "Strategie der Spannung" in der der Organisation "Gladio" eine Schlüsselrolle zufällt. Gladio war ursprünglich gegründet worden um gegebenenfalls einen Partisanenkrieg gegen die Sowjetunion im Falle eines sowjetischen Einmarsches zu führen. Nach dem Krieg wurde sie wieder aktiviert und für die Interessen der NATO und der Geheimdienste eingespannt. Sie pflegte beste Kontakte zu allen wichtigen faschistischen Parteien. Einer ihrer Hauptaufgaben war es dem Einfluss der Linken entgegenzuwirken und im Fall einer kommunistischen Machtübernahme zu putschen. Eine ganze Reihe von weiteren Bombenanschlägen geht auf ihr Konto, für die häufig die Brigade Rosse verantwortlich gemacht werden sollten.
Der Sinn dieser fast dreißig Jahre lang angewandten Strategie der Spannung, die vom CIA entwickelt wurde: "die Bevölkerung absichtlich in Unruhe und Angst vor einem Ausnahmezustand zu halten. Bis sie bereit war, einen Teil ihrer persönlichen Rechte im Austausch für größere Sicherheit aufzugeben", wie es Vincenzo Vinciguerra, ein zu lebenslänglicher Haft verurteiltes Mitglied der "Gladio", selbst einräumte.
Auch die Geheimloge P2 verfolgte ein ähnliches Ziel, hatte Putschpläne in der Schublade, bediente sich ihrer Nazi-Kontakte und sollte eine Machtübernahme der Linken verhindern. Die Loge wurde 1981 enttarnt. Eines ihrer Mitglieder jedenfalls erfreut sich bester Verfassung. Sein Name ist - Silvio Berlusconi.
Ähnliche Reaktionen der Linken gemäßigter Richtungen, wie derzeit in Italien, kennen wir auch hierzulande. Eine breite Bewegung kämpft für ein großes Ziel - am "rechten" Rand der bürgerliche Protest - am linken Rand die Autonomen, die auf Militante Aktion setzen. Und dann brennen die Barrikaden, die Wasserwerfer fahren auf, die Polizei schwingt den Knüppel und setzt Tränengas ein - Grund für die Presse die "Eskalation der Gewalt" zu verurteilen die der Demonstranten versteht sich - nicht die der Polizei. Hier kommt - ob es nun jedesmal zutrifft oder nicht - die These vom Agent Provokateur ins Spiel. Denn das Ziel des Staates ist klar: Die Bewegung soll sich spalten, die Guten sich von den Bösen distanzieren. Entweder sie fällt darauf herein, oder der "bürgerliche Flügel" macht die Polizei für jeden Pflasterstein und jede kaputte Scheibe verantwortlich.
Ein Teil der Schuldzuweisungen mag sicher auch bei den sogenannten gemäßigteren Gruppen dem Wunsch geschuldet sein, sich von dem Vorwurf reinzuwaschen, die Gewalt billigend in Kauf genommen zu haben und zugleich die Spaltung zu verhindern. Niemand der etwas von den Geschehnissen in der ligurischen Hauptstadt miterlebt hat wird aber behaupten können, die Militanten hätten nichts zu tun mit zerschlagenen Scheiben und brennenden Barrikaden, oder sie seien nur verführt worden. AugenzeugInnen berichteten von Szenen, bei denen unter dem Applaus Genueser Bürger eine große Bank entglast wurde. Auch ist wahr, dass italienische Anarchisten deutsche Autonome daran hinderten eine kleine Tankstelle in Brand zu setzen: "Die gehört doch sowieso einem Ölkonzern", so das Missverständnis. "Scheissaktionen habe es schon gegeben", räumte auch ein Nürnberger Autonomer ein. Doch weder zum Repertoire der italienischen noch der deutschen Militanten gehört "blinde Gewalt", die Lust zuzuschlagen "weil es halt so schön kracht".
Und heute stand in der italienischen Tageszeitung "Corriere della Sera" von einem Geheimdokument der Genueser Poizeiführung zu lesen, das dem Senat vorgelegt wurde: Dieses Geheimdokument enthalte eine Liste faschistischer Organisationen, die es sich zum Ziel gesetzt hatten in Genua einzusickern und die Gewalt zu schüren.
Dario Azzellini sagt: 'Es herrschte Hysterie unter der Linken in diesen Tagen, doch diese Hysterie lässt allmählich nach'. Gerüchte teilen sich allmählich in Fakten und Mythen - was kann man nun aus den Fakten folgern?
Wir sollten folgern, so Azzellini: Genua ist mehr als nur die Geschichte von einer sehr großen Demonstration. Wir sollten vorsichtig sein mit allzu großer Eile oder unüberlegten Behauptungen. Es kommt auf eine sorgfältige Analyse an.
Vielleicht aber dürfen wir uns bereits Fragen stellen?
Zum Ersten: Wer ist schuld am Tod Carlo Giulianis?
Zum Zweiten: Wozu diente die Provokationsstrategie, an deren Existenz in Italien offenbar nicht einmal mehr seriöse bürgerliche Tageszeitungen zweifeln? Sollte hier "nur" die Bewegung gespalten werden in friedlich und militant? Oder zeigt die massive Repression gegen alle, dass die Zerschlagung, Verunsicherung, Einschüchterung das Ziel war - eine Breitseite auf die gesamte Linke?
Zum Dritten: Wenn wir diese Frage mit ja beantworten: Welches Licht wirft dies dann auf den Weg des italienischen Staates - wohin wollen Berlusconi und seine Gesinnungsgenossen?
Zum Vierten: Eine Polizei die 100.000e mit brutaler Gewalt überzieht - Ist dies nur ein "Modell Italia"? Oder geht davon eine Botschaft aus die sich an ganz Europa richtet? Ein Subkontinent in dem gerade ein europäischer Staat entsteht, dessen Gesicht sich erst noch zeigen muss und der vielleicht Ballast abwerfen will. Vielleicht den Ballast bürgerlicher Werte von Freiheiten und Rechten der Einzelnen, die doch hinderlich sein können, auch wenn jedes bürgerliche Gemeinwesen bisher schon seine eigenen Mittel fand, trotz schöner Ideale zu tun "was dem Staate nützt".
Und dies alles sind vorläufig erst Fragen - keine Antworten!
Michael Liebler