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Hallo, hier eine Bestandaufnahme nach Genua zu "Wohin geht die internationale Protestbewegung nach Genua?"
Für eine breitgefächerte Diskussion verbreitet ihn bitte nach Einschätzung weiter. Danke, Bienlein


Staatsterror und Widerstand —

wohin geht die internationale Protestbewegung nach Genua?

Bei der Auswertung von Genua kann zuerst festgestellt werden, dass es sich für die Bewegung und ihre Anliegen größtenteils um einen Erfolg gehandelt hat. Einen wesentlichen Grund zu dieser Annahme sehen wir darin, dass im Vergleich zu den Berichten über die Proteste und Gewalt auf der Straße, die Informationen über die Verhandlungsergebnisse des Gipfels fast untergegangen sind. Zumindest konnte damit die Inszenierung des G8 Gipfels angegriffen werden, denn statt der politischen Machtdarstellung der acht "führenden" Regierungschefs, dominierte in den Medien vor allem die Macht der staatlichen Repression und Polizeigewalt.

Das Gipfelprinzip als solches wurde gar angezweifelt und die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit solcher Gipfel öffentlich in Frage gestellt. Damit reiht sich Genua ein in die Kette der gescheiterten Gipfel: dem verspätet begonnenen in Seattle, dem vorzeitig abgebrochenen in Prag, dem ganz abgesagten in Barcelona,... Als Ergebnis der jüngsten Ereignisse verkriechen sich die Herrschenden in die Wüste - die diesjährige WTO Konferenz soll in Qathar stattfinden- oder in die Berge, wie der nächste G8 Gipfel in den Rocky Mountains.

Dieser Erfolg hatte allerdings einen unermeßlich hohen Preis: ein Menschenleben! Und alle, die in Genua auf den Straßen waren, ob sie jetzt selbst verletzt, verhaftet und gefoltert, oder "nur" Augenzeugen dieser Gewaltexzesse seitens der Polizei wurden, sind schockiert, wütend und stehen vor einem Haufen Fragen. Wie sollen wir die Geschehnisse von Genua bewerten? Was bedeutet dies für weitere Proteste, die Widerstandsarbeit und die Netzwerke und Gruppen der Bewegung allgemein? Einige Fragen sind einem Text von der Gruppe "Gemeinsam sind wir stark" aufgeworfen worden, wir wollen in dem vorliegenden Text diese Fragen ein Stück weiterentwickeln und fassbarer machen.

Eskalationstaktik und Staatsterror
Die jüngeren Gipfel waren jeweils ein neues Niveau in Bezug auf die vorangegangenen Gipfel. Die Bewegung und der Protest nahmen ständig zu, ebenso aber auch die Eskalation und die Polizeigewalt. Allein in diesem Jahr hat sich die Polizeigewalt in einem Maß gesteigert, dass schwindelig macht - und als Abschreckung und Einschüchterung Angst machen soll: Erst die Festung Davos, dann der Zaun um Quebec, dann die Schüsse in Göteburg und nun alles zusammen und noch mehr: Festung, Zaun, Schüsse und ein Ermordeter.

Bewegungsfreiheit wird zunehmend eingeschränkt, immer mehr Protestierende werden an Grenzen aufgehalten oder zurückgeschickt, weil sie in irgendwelchen Listen stehen. Allgemein geht die Tendenz Richtung Kriminalisierung der Bewegung. Ebenfalls hatten alle Gipfel weitreichende Folgen für die gastgebenden Städte und Länder: Davos wird mit jedem Jahr höher gerüstet und abgeschottet, in Prag gab es erstmals seit dem Prager Frühling derartige Auseinandersetzungen auf der Straße, in Quebec wurde im April diesen Jahres erstmals auf Demonstrationen massiv Tränengas eingesetzt, selbst die freien Medien geziehlt unter Tränengas gesetzt, in Genua scheint sich um die Proteste gegen die Polizeiwillkür eine wachsende linke Opposition gegen die rechtskonservative Regierung zu bilden, mit einem Mobilisierungspotential, das es in Italien seit den Zeiten des Golfkrieges nicht mehr gab.

Vor diesem Hintergrund scheint sich eine Antwort abzuzeichnen auf die Frage, ob es sich nur um situationsbedingte Eskalationstaktiken der Polizei handelt, oder um einen neuen Standard der Staatsgewalt gegen Gipfelproteste: Dieser Staatsterror muß als Reaktion auf eine wachsende Protestbewegung gedeutet werden. Die auf Eskalation setzende Polizeitaktik in Genua hat die Zerschlagung des Protestes zum Ziel, Menschen sollen eingeschüchtert werden, damit sie von ihrem Recht auf Widerspruch und Protest keinen Gebrauch mehr machen. Diese zunehmende Repression seitens des Staates zeigt aber auch die Schwäche des Systems und seine Angreifbarkeit. Insofern liegt in der sich verschärfenden Situation auch Hoffnung auf grundlegenden sozialen Wandel. Es gibt in der Geschichte sozialer Bewegungen und politischen Widerstands Beispiele, z.B. die Staatsrepression Anfang und Mitte der 70er Jahre, die jetzt wieder eine Aktualität erlangen, und aus denen wir für die sich heute abzeichnende Situation vielleicht wichtiges lernen könnten.

Offen ist aber auch die Frage, wie es um Medien und Öffentlichkeit bestellt ist. Die wachsende Gewalt stellt nicht nur ein neues Niveau der Staatsrepression dar, sondern auch die Medien setzen neue Meßlatten. Sie reagierten auf die Todesschüsse mit intensiver Berichterstattung, waren quasi durch Göteborg schon darauf vorbereitet, wie auch bei AktivistInnen die Befürchtungen geäußert wurden, dass es Tote in Genua geben werde. Wird in Zukunft von einem Gipfelprotest mit Hunderten von Verletzten und Inhaftierten, aber ohne Tote, gesagt werden: "na ja, war ja nicht so schlimm, was da passierte und die Polizei machte"? Würde ein Ereignis wie Seattle 1999, das damals als sensationelles Ereignis gefeiert und das Vorgehen der Polizei kritisert wurde, nach Genua nicht weit weniger Aufsehen erregen und kaum mehr auf starke Medienpräsenz stoßen?

Gewaltfrei und militant — welche Diskussionen schaden, welche nützen?
Genua war auch der Versuch seitens der Polizei, die Spaltungstendenzen in der Bewegung entlang der Frage gewaltfrei/militant zu instrumentalisieren. Es war eindeutig das taktische Ziel, die verschiedenen Protestformen zu vermischen und dann auf alle gleichermaßen mit Tränengas vorzugehen und einzuknüppelm. Jetzt wird von allen Seiten verlangt, dass sich die "Friedfertigen" von den "Gewaltbereiten" abgrenzen sollten. Die verstärkten Spaltungsversuche müssen als Angriff auf die Breite der Bewegung verstanden werden, und als Versuch der Schwächung von Protest, der eine wachsende Gefahr für die Interessen der Gipfelmacher darstellt. Daher dienen Distanzierungen und Entsolidarisierung den Interessen der Herrschenden.

Dass es sich nicht um eine homogene Bewegung handelt, ist allen Beteiligten klar. Es gibt nicht nur verschiedene Aktionsformen, sondern auch verschiedene Analysen, Kritikpunkte und Zielsetzungen. Der Wille, Distanzierung zu vermeiden und Akzeptanz zu fördern, wurde bereits in einigen Texten nach Genua dargestellt. Akzeptanz ist eine Grundbedingung für einen solidarischen Umgang untereinander. Für uns stellt sich die Frage, wie ein Prozeß Richtung Akzeptanz und Verständnis aussehen kann. Der Ruf nach Akzeptanz würde bedeuten, dass nach Genua alle möglichen Gruppierungen und Strömungen, die sich in der internationalen Protestbewegung verorten, um gegenseittiges Verständnis der verschiedenen Aktionsformen diskutieren müssten. Die sieht nach einem langwierigen Prozess und einem Haufen Arbeit aus. Wir sollten uns dessen bewußt sein. Auf der Tagungsordnung steht also wohl nicht weniger als der Bedarf nach einer intensiveren, rücksichtsvolleren, vielleicht einfach "neuen" Diskussionskultur. Diese könnte auch nach Außen vermitteln, wie die Verschiedenartigkeit der Ansätze innerhalb der Bewegung kein Widerspruch in sich, sondern ein positives Kennzeichen ist.

Dass die Vielfalt der Bewegung ein Grund der Stärke ist, wurde schon in vielen Texten festgehalten. Sowohl für radikalere als auch für eher reformerische Gruppen ist es vonnöten, eine breite Massenbewegung erreichen zu können. Militante Gruppen müssen vermitteln, dass Militanz kein Selbstzweck darstellt, sondern ein legitimes Mittel zur Erreichung kurzfristiger Ziele ist. Zur Medienwahrnehmung sind konkrete Störungen durch militante oder direkte Aktionen wichtig, für größere Mobilisierung braucht es aber auch den Rückhalt in gemäßigteren Kreisen. Es muss in naher Zukunft das zentrale Anliegen sein, diese Vielfalt zu erhalten und weiterhin produktiv umzusetzen, dabei aber nicht in Beliebigkeit umzuschlagen. Aktionsformen dürfen nicht hierarchisiert werden, d.h., dass es nicht um taktische Einschätzungen anderer Aktionsformen allein gehen darf, sondern dass ein längerfristiges Nebeneinander gefördert wird. Vielfalt in den Aktionsformen müssen als Ergebnis einer Vielfalt von Lebensformen, Vielfalt der Artikulation von Protest und Alternativen angesehen werden. Insofern wäre die Einengung z.B. auf "friedliche" Aktionsformen ein Schritt, den Protest auf eine Einheitsnorm zuzuschneiden, damit nicht nur "militante" Aktionen auszuschließen, sondern auch andere politische Mittel, Visionen und Utopien.

Linksradikale aus einer diskutierenden Bewegung


Genoa Reports
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