Date: Tue, 19 Jun 2001
Bericht ueber Goeteborg (SoZ)
Göteborg: Vorbeugende Gewalt

Was in Schweden passiert ist, war kein Unfall. Dahinter stand ein
vorgefasster Plan. Es reicht nach Geheimdienst." Der Führer der Tute Bianche
und Sprecher der Centri sociali im italienischen Nordosten, Luca Casarini,
erklärt dem Corriere della Sera (18.6.), welche Auswirkungen Göteborg
auf Genua haben wird. "Was sollte das Ziel sein?", fragt der Corriere
zurück. "Die Temperatur zum Kochen zu bringen, Alarmstimmung verbreiten, uns
in die Ecke von Terroristen und Gewalttätern zu stellen. So ist es aber
nicht. Der Kampf gegen die neoliberale Globalisierung ist gerecht und er
wird von vielen Menschen geteilt.

Der Hergang, wie er sich aus vielen schwedischen und
Augenzeugenberichten rekonstruieren lässt, legt eine solche Interpretation
nahe. Die norwegische Zeitung Klassekampen (18.6.) schreibt: "Dieses
Wochenende hat Schweden eine Brutalität von seiten der Polizei erlebt, die
in der Geschichte Schwedens ohnegleichen ist, betont die schwedische
Linkspartei (Vänsterpartiet). Sie beschuldigt die Polizei, das schwedische
Grundgesetz gebrochen zu haben.

Am Donnerstag vormittag versammelten sich Tausende von DemonstrantInnen,
vornehmlich aus Schweden, zu einer Demonstration gegen die Ankunft von
George Bush; an ihr nahmen 15.000 Leute, teil. Das Bündnis
Gothenburg 2001 hatte von der Stadt Schulgebäude für Übernachtungen und
Veranstaltungen zur Verfügung gestellt bekommen. In der Hvitfeltska Schule
in der Nähe des Konferenzzentrums Fritt Forum hatten gewaltfreie Gruppen ihr
Hauptquartier aufgeschlagen, darunter auch der schwedische Ableger von Ya
Basta und "Direkte Demokratie". Ohne ersichtlichen Grund stürmte an diesem
Vormittag die Polizei die Schule und hielt mehrere hundert Menschen
eingeschlossen; das Gelände um die Schule riegelte sie generalstabsmäßig ab,
später holte sie dafür sogar Transportcontaoner heran. 400 der
Eingeschlossenen wurden kollektiv festgenommen; die Polizei behauptete, sie
gehörten zu einer Gruppe, von der Gewaltverstöße ausgehen könnten. Die
Polizei ging mit großer Härte gegen die eingeschlossenen zu Werke, sie
schlug brutal mit Knüppeln auf sie ein. Bei den Veranstaltern stieß das
Vorgehen auf massiven Protest; die Stimmung eskalierte.

Am Freitag vormittag versuchten 1500 bis 2000 Menschen, das Tagungszentrum
zu blockieren; wieder ging die Polizei mit Pferden und Hunden gegen sie vor.
Nun gingen die ersten Scheiben zu Bruch, Banken und Cafés wurden
angegriffen. Am Freitag abend versammelten sich 20.000 meist sehr
junge Menschen zu einer Demonstration gegen die EU, gegen die europäische
Armee, die Festung Europa, den Euro. Zu den Aufrufern gehörten vornehmlich
die Parteien der Nein-zur-EU-Koalition, darunter auch bürgerliche Parteien.
Die Demonstrierenden aber waren vornehmlich junge Sozialistinnen und
Sozialisten aller Schattierungen. Parallel feierten Hippies auf dem
Vasaplatsen eine Reclaim-the-Streets-Party. Hier war es, wo erstmals auf
Globalisierungsgegner scharf geschossen wurde. Drei junge Männer wurden
schwerverletzt ins Krankenhaus eingeliefert; einer schwebte bei
Redaktionsschluss der SoZ immer noch in Lebensgefahr. Der Corriere della
Sera hatte sich seinem 20jährigen Freund an die Fersen gehängt, der ihn
ins Krankenhaus begleitete und ihm nicht von der Seite wich. Der Freund
beschreibt den Hergang so: "Es war eine friedliche Demonstration auf dem
Vasaplatsen, wir amüsierten uns. Es gab Musik, mein Freund tanzte. Auf
einmal kamen viele Nazis auf den Platz, an die 300. Die Nazis haben uns
angegriffen, auch ich wurde geschlagen. Sie hatten Messer und Steine dabei.
Wir bekamen Angst, sie könnten uns umbringen. Die Militanten haben reagiert.
Es war superstressig. Die Polizei hat die Nazis abgedrängt. Dann kriegte sie
Panik und hat auf die Militanten eingeschlagen." Der Reporter hält ihm die
Polizeiversion vor, die lautet: Der Freund hat einen Stein auf den Helm
eines Polizisten geworfen, der Helm flog weg. Ein anderer kam hinzu und hat
den Polizisten, der zu Boden gefallen war, getreten, der Freund hat weiter
Steine auf ihn geworfen. Das war die Situation, in der ein zweiter Polizist
sich in Gefahr fühlte und geschossen hat. "Nein, nein, nein", verteidigt
sich der Junge. "Mein Freund hat nur zwei Steine geworfen. Einer war zu
groß, er fiel schon ganz nah von ihm. Der zweite traf den Polizisten, weil
er klein war, aber er traf den Plexiglasschild. Ich glaube, es war ein
Deutscher, so scheint es mir, der dann weiter mit Steinen auf den Polizisten
zielte. Mein Freund hat ihn nicht geschlagen." Aber er hatte eine Holzlatte
in der Hand... "Alle waren nervös geworden durch den Angriff der Nazis. Die
Latte hatte er eben aufgehoben. Das war das erstemal, dass ich ihn agressiv
erlebt habe..."

In der Nacht tobten Straßenschlachten. Auch die Polizei warf mit Steinen. Es
konnte jedoch verhindert werden, dass die Polizei auch das Konferenzzentrum,
das Fritt Forum stürmte, wie es ihre Absicht gewesen sein soll. Am Samstag
vormittag versammelten sich noch mehr Menschen, die Rede ist von
25.000, zur Demonstration "für ein anderes Europa". Die
Zusammensetzung war fast die gleiche wie am Vortag, die Stimmung
entschlossen. Hier wie am Vortag dominierten die Parolen, die die
internationale Solidarität betonten. Nach dem Ende der Demonstration jagtedie Polizei wieder Demonstranten; mehrere hundert von ihnen hatten sich auf
dem Järntorget versammelt, um gegen die Polizeigewalt zu demonstrieren. Sie
wurden ohne Vorwarnung eingekesselt, ohne dass ihnen mitgeteilt wurde, wessen
sie beschuldigt wurden, und vier Stunden festgehalten. Die Polizei hatte sie
zu keinem Zeitpunkt aufgefordert, die Demonstration aufzulösen. Die
DemonstrantInnen hatten keinerlei Gewalt angewendet.

Die Sache wird im schwedischen Reichstag wie auch im norwegischen Storting
ein Nachspiel haben; die Vänsterpartiet beschuldigt die Polizei, das
Grundgesetz gebrochen zu haben.

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