archivio de los protestos globales

Rebellion ist alles,
Macht ist nichts

In Argentinien gehen die Proteste gegen die Regierung weiter, Stadtteilversammlungen und die Arbeitslosenbewegung organisieren die Selbstverwaltung. von friederike habermann, buenos aires


Wer Schlangestehen bislang fuer einen Ausdruck von Realsozialismus hielt, wird zur Zeit in Argentinien eines Besseren belehrt. So bilden 249 Menschen eine Schlange vor der Bank Bosten in der Avenida Florida in Buenos Aires - und hier im Microcenter genannten Stadtkern steht Bank neben Bank, windet sich Schlange neben Schlange. "Wieviel wird der Dollar kosten?" fragen die Zeitungen - der Wechselkurs des argentinischen Peso wurde freigegeben.

Die Schlangen vor den Banken werden von Menschen gebildet, die zunaechst den ihnen woechentlich zugestandenen Betrag von 250 Pesos abheben wollen. Danach heisst es, sich noch einmal anstellen zu muessen: bei den Wechselstuben. Neue Digitalamaturen wurden vor diesen angebracht, um den Stand des Dollars anzugeben. An der Laenge der taeglichen Schlangen laesst sich ablesen, wie der Dollar steht: ist er hoch, sind die Schlangen lang; bleibt der Peso stabil oder holt etwas auf, so werden sie kuerzer.

Heute aendert sich gegen Mittag die Szenerie: Auf der Plaza de Mayo haben sich einige hundert "Sparer" versammelt "Wir haben Dollar eingezahlt, wir wollen Dollar ausgezahlt bekommen" ist die Hauptbotschaft dieser Cacerolazo: Demo mit Kochtoepfen, Blechtellern oder Wasserkesseln, Hauptsache Krach. Doch waehrend dieser Menschenzug durch das Bankenviertel zieht, bleibt es nicht bei dieser foermlichen Aussage: "Ladrones - Diebe!" schreiben ordentlich gekleidete Frauen in aller Ruhe auf die unzaehligen Geldtransporter, waehrend die Fahrer drinnen warten muessen; "Chorres - Raeuber!" schreiben Rentner an die Banken. Laerm wird nun mit Hilfe der Schlagwerkzeuge und des Bleches aussen an den Banken erzeugt und dieses damit systematisch zerbeult. Anderswo gehen Scheiben zu Bruch. Niemand stoert sich daran, dabei gesehen oder gefilmt zu werden. Es werden Zettel verteilt, auf denen der Text fuer die Sprechchoere steht, es sind die zwoelf Forderungen an Praesident Duhalde. "Vor allen Dingen:", so steht da geschrieben, "keine Bewaffnung Deiner Schwadronen!" Jorge Martinéz, der waehrenddessen seinem Job als Kellner nachgeht, erhofft sich das Gegenteil: "Das Volk wartet darauf, dass das Militaer endlich wieder die Macht uebernimmt. Jetzt ermorden sie dich fuer einen Peso; nie weiss ich, ob ich nach der Arbeit noch zu Hause ankomme."

Noch um einige hundert Menschen laenger sind die Schlangen vor einigen der Tauschmaerkte, welche mit ihrer Kunstwaehrung vor kurzem wie bei uns nur von marginaler Bedeutung waren. Doch jetzt stroehmen die Menschen taeglich zu einem der verschiedenen Orte und tauschen ihre Creditos. Alle muessen selber etwas zum Tauschen anbieten, Geld laesst sich nicht in Creditos verwandeln. So wird zweimal die Woche auch das Sozialzentrum an der Federico Lacroze mit seinen fuenf Stockwerken zu einem riesigen Tauschmarkt. Neben Essen, Klamotten und jeder Menge Krimskrams bieten hier auch ein Friseurstudio, ein Zahnarzt und eine Orthopaediepraxis ihre Dienste gegen Creditos an. Die Vernetzung dieser Trueque nennt als ersten Grundsatz: "Unsere Verwirklichung als Menschen muss nicht durch Geld bestimmt sein", und die lokale Einheit Estrella nennt als wichtigstes Wort: "Wir".

Sonntag ist der Tag der "Versammlung der Versammlungen". Das uebliche Geschehen in einem Park verdichtet sich langsam zu einer Ansammlung von rund 1000 Menschen, welche aus den 90 einzelnen Stadtteiltreffen zusammenkommen. Es gibt einen Bericht mit Beschlussvorschlaegen aus jeder der Versammlungen. Abgestimmt wird im Anschluss an alle Berichte: Abschaffung des Obersten Gerichtes? Ja. Am naechsten Mittwoch den Kongress umstellen? Ja. Gegen Neoliberalismus? Logo. Auch fuer den Plan, dass 100 Nachbarn zur Polizei gehen sollen, wenn einer festgenommen wird, stimmen fast alle. Gibt es eine hohe Anzahl von Enthaltungen, geht die Diskussion zurueck in die lokalen Treffen; auf dieser "Inter-Versammlung" wird nicht diskutiert. Trotzdem dauert es bis tief in den Abend; die Aelteren haben ihre Gartenstuehle mitgebracht. "Das gab es noch nie, dass die Mittelklasse sich selber organisiert hat und den Protest entscheidend mitgestaltet hat", urteilt der 67jaehrige Linke Guillermo. "Que no se quede ni uno solo", wird waehrenddessen gesungen - kein einziger Politiker soll bleiben.

Fuer die jungen Linken Marta und José bedeutete es das große Aufatmen: Sie lagen in der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember mit Uebelkeit im Bett, voller Angst, abgeholt zu werden, als an diesem Tag die Cacerolazas der Mittelklasse begannen - und damit hielten viele die Gefahr eines Militaerputsches fuer gebannt. Bis dahin hatten die Straßensperren der Arbeits- und Besitzlosen, den nach diesen Blockaden benannten Piqueteros, die Proteste gebildet. Diese Bewegung war in den letzten Jahren von den marginalisierteren Gebieten Argentiniens her angewachsen; als sie Buenos Aires erreichten, wurde der Ausnahmezustand ausgerufen.

In den Medien bleiben diese Proteste bis heute weitgehend unsichtbar. Waehrend das Fernsehen taeglich verschiedene Cacerolazas uebertraegt, werden von den Piqueteros am Dock Sur die Rafferinien von Shell, EG 3 und Repsol blockiert. Von vermummten Maennern und Frauen werden mit Stahlzaeunen und brennenden Reifen Barrikaden gebaut; die Schlangen werden hier von den Autos gebildet. Repsol hatte nach der Privatisierung von seinen 70.000 ArbeiterInnen 50.000 entlassen; zugleich soll mit der Oelversorgung zentral die Infrastruktur von Buenos Aires getroffen werden. Trotzdem fangen die Medien erst am dritten Tag an, ueber die Besetzung zu berichten. Die Blockade hat sich inzwischen in ein Dorf mit Kindern verwandelt. Geschlafen wird in Metallcontainern.

"Die Arbeitsplatzbesitzer haben Angst, ihre Stellen zu verlieren", urteilt der Piquetero Sergio. Eine Verbindung zwischen den beiden Bewegungen sieht er nicht, doch immerhin eine Radikalisierung der Mittelklasse. Aber auch innerhalb der Piqueteros haben sich Stroemungen zusammengetan, welche sich noch vor vier Jahren nicht haetten traeumen lassen zusammen zu gehen: Maoisten, Trotzkisten, Stalinisten aller Art bis zu vom Zapatismus inspirierte Bewegungen, bei welchen die Rolle der Frauen, die Rechte von Homosexuellen sowie die Entwicklung durch Basisdemokratie intensiv diskutiert werden. Auch der Trotzkist Sergio lehnt die Uebernahme der Macht ab: Sie haetten gelernt, dass das entscheidende die Rebellion ist, urteilt er, und diese wird von unten organisiert. Das Prinzip der Versammlungen laeuft aehnlich wie bei den Stadteilen in Buenos Aires. Anstatt von Tauschmaerkten gibt es in den Gemeinschaften eigene Wirtschaftsstrukturen mit selbstverwalteten Baeckereien, Textil- und Schuhfirmen bis hin zu metallverarbeitender Industrie. Geld bildet hier zwar die Grundlage - Kindergarten und Bibliotheken sind allerdings kostenlos zu benutzen - doch der Gewinn wird innerhalb der Gemeinschaft sozialisiert.

Nach fuenf Tagen wird die Besetzung freigegeben und die Piqueteros ziehen mit auf die Plaza de Mayo zur ersten gemeinsamen Cacerolaza bis in den Morgengrauen. Nur wenige Stunden spaeter beginnt hier ein Kongress der Piqueteros, zu welchem auch die Cacerolazas dazustossen. Es faellt auf, dass die Altersgruppe der 35-50jaehrigen fehlt - in Argentinien fehlen die 30.000 Verschwundenen sowie die Getoeteten der Militaerdiktatur. Dies macht sich auch in der gegenwaertigen politischen Formierung bemerkbar, urteilt eine die Madre de Plaza de Mayo Hebe, einer der Muetter der Verschwundenen, welche seit ueber 25 Jahren jeden Donnerstag auf dem Platz vor dem Regierungspalast ihre Kreise ziehen. Auch am Donnerstag, dem 20. Dezember, schafften es vier der Frauen durch die Polizeisperren hindurchzukommen. "An diesem Tag began ein neuer Kampf fuer uns", so die Madre Hebe, und sieht dies als Teil dessen, was sich zur Zeit global an Widerstand bewegt. Auch sie konnte nicht glauben, dass die Mittelklasse ploetzlich die Straßen ergriff, und sie hofft, dass diese mit den Piqueteros zusammen gehen werden. "Dabei kommt es darauf an, dass wir zuhoeren, lernen und uns gegenseitig unterstuetzen." Madre Hebe erhofft sich ein "hijo fantastico", ein fantastisches Kind, welches daraus entstehen koennte, doch raeumt gleichzeitig ein, dass es auch einfach voellig scheitern koennte. Auch Viktor Díaz von der Gruppe Situaciones teilt diese Ambivalenz von Nuechternheit und Hoffnung: "Diese Bewegung wird sterben wie jede Bewegung. Es kommt darauf an, was sich durch die Selbstorganisierung bei den Menschen tut. Und das wird bleiben."

Jungle World, 20.2.02


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