La Verdad Obrera interviewte Javo Ferreira, führendes Mitglied der Liga Obrera Revolucionaria (Cuarta Internacional) aus Bolivien, Schwesterorganisation der PTS aus Argentinien.
Interview mit Javo Ferreira (LOR-CI)
La Verdad Obrera interviewte Javo Ferreira, führendes Mitglied der Liga Obrera Revolucionaria (Cuarta Internacional) aus Bolivien, Schwesterorganisation der PTS aus Argentinien.
LVO: Man kann behaupten, dass, was als "Krieg ums Gas" anfing, eine eigene Dynamik entwickelte, die die Frage nach der Macht in Bolivien aufstellte, d.h., fing eine Revolution an? Wenn dies der Fall ist, dann fragt sich welche Klassen und Bündnisse der Motor des Prozesses sind?
Javo Ferreira:: Ja, auf der Stufe, die der Konflikt erreicht hat, beginnt die Diskussion über die politische Macht. Die Weigerung Sánchez de Lozadas zurückzutreten drückt dieses Gefühl der Verwaisung aus, mit dem die herrschenden Klassen angesichts des Fehlens einer soliden Alternative der bürgerlichen Substitution konfrontiert sind. Die Schlacht ums Gas hat ermöglicht, dass eine ganze Reihe verschiedener struktureller Forderungen der Massenbewegung, die zuvor unterschwellig bzw. lokal vorhanden waren, gemeinsam zum Ausbruch kamen. In der Tat, gibt es im Krieg ums Gas verschiedene Komponenten, die zu dem derzeitigen Aufstand geführt haben: lokale und regionale, Klassen bezogene und ethnische Forderungen, die aus der brutalen Unterdrückung der Indigenas resultieren. Von diesem Standpunkt aus und angesichts des qualitativen Sprungs, der der Aufstand in El Alto bedeutet hat, kann man sagen, dass die Revolution in Bolivien angefangen hat, obwohl sich der revolutionäre Sturz der Regierung nicht vollzogen hat. Und in der Tat hat eine Klassenallianz stattgefunden zwischen dem Proletariat, das unterschiedliche Kampfmethoden einsetzt, wie der Fall der Bergarbeiter aus Huanuni und ein anderes Kontingent von Minenarbeiter, das auf dem Weg nach La Paz ist, und der Bauernbewegung aus dem Hochland und dem Tiefland, Kokabauern, Slumbewohner und Halbproletariat aus den Werkstätten, Gerbereien, Spediteure, Marketender, usw. schließlich spielen auch die Studenten eine Rolle.
LVO: Welche Bedeutung haben die Ereignisse vom 12. Oktober in El Alto? Wie organisierten sich die Massen während des Aufstandes?
Javo Ferreira:: Es ist die Frage ob es sich um eine Insurrektion oder Semiinsurrektion handelt. Im Unterschied zu den Ereignissen in Cochabamba 2000, während des "Wasserkriegs", die wir als Semiinsurrektion ansehen, waren dieses Mal die Forderungen der Stadt El Alto eindeutig politischer Natur, wie Z.B. die Aufhebung des Brennstoffgesetzes, was deren Rückverstaatlichung beinhaltet, die Industrialisierung des Gases und vor allem, dass Sánchez de Lozada zurücktritt. Auf jeden Fall, wenn wir in beiden Fällen von einer Semiinsurrektion reden, da es keine klare Führung gaben und spontane Elemente überwogen haben, muss man festhalten, dass die jetzige Semiinsurrektion derjenigen vor drei Jahren in Cochabamba überlegen war, da es mehr bewusste Elemente gab. Und in der Tat war es dieser insurrektionelle Prozess, was die Situation zum umkippen gebracht hat und die Frage nach der Macht aufgeworfen hat.
Was die Organisationsformen der Massenbewegung angeht, waren diese vorwiegend die Nachbarschaftskomitees, was eine im ganzen Land weitverbreitete Art der Organisation ist. Allein in El Alto gibt es circa 500 davon. Diese sind in der Vereinigung der Nachbarschaftskomitees (FEJUVE) zusammengeschlossen, welche in Zusammenarbeit mit der COB und unter deren Kommando den Kampf geleitet haben. Aufgrund der Repressionen haben diese Komitees die Bildung von Selbstverteidigungskomitees angeordnet. Am heutigen Tag ist ein Gemeindegeneralstab (Comando General Comunitario), aus der Koordination von der COR, der FEJUVE und der CSUTCB entstanden, um eine Koordinationsinstanz zu bilden, um, wie der Mallku es ausdrückte, die militärische Frage zu lösen.
Dennoch war der Widerstand gegen die militärische und polizeiliche Willkür am 12. und 13. Oktober 03 spontan ohne irgendeine vorherige Organisation, was ein Anzeichen des ständigen Hinterherhinkens der bestehenden Organisationen hinter den Ereignissen ist. In der Regel gehen die Massen über die Politik und die Unentschlossenheit ihrer Führungen hinaus, und das nicht nur auf nationaler sonder auch auf lokaler Ebene. In der Tat versuchten einige Führer mit der Regierung zu verhandeln jedoch wurde ihre Autorität sofort angezweifelt oder sie wurden mit Lynchjustiz Drohungen diszipliniert.
LVO: Warum ist also Sánchez de Lozada noch nicht gestürzt? Welche Klassensektoren und welche Parteien unterstützen ihn?
Javo Ferreira:: Er wird hauptsächlich von den internationalen Organismen an der Macht gehalten, allen voran von der US amerikanischen Botschaft, der Organisation der Amerikanischen Staaten, dem Andenpakt und verschiedenen internationalen Organisationen (A.d.Ü. auch der EU) die in seinem Sturz eine Gefahr für die gesamte Region sehen, da nach zwanzig Jahren paktierter, ausschließender, rassistischer und repressiver Demokratie, das gesamte Areal an traditionellen bürgerlich - politischen Vermittlungsmechanismen in Frage gestellt wird. Nur so ist die Unterstützung der MIR und der NFR sowie der Unternehmerausschüsse, der Bankiers, der Kirche und aller Unternehmerverbände in diesen kritischen Stunden erklären. Auf ihrer Seite ist auch die obere Mittelklasse, die während der letzten Tage geradezu faschistische Positionen übernommen haben, wie z.B. die Ermordung eines Blockierers durch einen siebzehnjährigen Jugendlichen in einem Nobelviertel oder die Drohungen der "Nación Camba" (A.d.Ü. die "Nation" der Weißen) in den nächsten Tagen gegen die Blockierer im Bezirk Santa Cruz vorzugehen, zeigen.
Dass Goni noch nicht gestürzt ist, liegt jedoch hauptsächlich an der von der Führung der Massenorganisationen wie der MAS, der MIP aber auch der COB verfolgten Strategie. Ihre Strategie ist, die Regierung mittels Druckausübung von der Notwendigkeit zu "überzeugen" eine Erklärung darüber abzugeben, wem das Gas gehört, den Bolivianern oder den Multinationalen. Als die Massen in El Alto am 12. und 13. September ihre Stimme erhoben, haben sie sich darauf beschränkt Druck auszuüben, damit der Präsident zurücktritt. Sollte er nicht stürzen, liegt dies an genau der Politik, die auch zu dem Hungerstreik geführt hat, d.h., einer Politik der Klassenversöhnung, die versucht die Basisversammlungen der COB zu suspendieren, die Beteiligung der Avantgarde an den selben unter dem Vorwand der "Sicherheitsfrage" erst mal einzuschränken und schließlich die "direkte Aktion" der Massenbewegung zu verringern.
LVO: Welche "institutionellen Wechsel" kann das alte Regime versuchen und wer hat ein Interesse daran?
Javo Ferreira:: An erster Stelle versucht das Regime sich an der Macht zu behaupten, indem es die Massen zermürbt, falls notwendig auch durch den Einsatz von mehr Repression. In der Tat, vermitteln die Ereignisse der letzten Wochen einen guten Eindruck von der Lage: 70 Tote und mehr als 400 Verletzte und die Ausschaltung verschiedener Medien und die Haftbefehle sowohl gegen Anführer der Bewegung als auch gegen einfache Aktivisten. Dennoch versucht die Regierung angesichts einer möglichen Radikalisierung des Kampfes die Erneuerung innerhalb des Rahmens der Institutionen, was zur Zeit der wahrscheinlichste Ausweg ist. In diesem Fall würde der Vizepräsident Carlos Mesa bei einer Abdankung des jetzigen Präsidenten die Regierung übernehmen. Sollte der Vizepräsident ebenfalls zurücktreten, würde der Präsident des obersten Gerichtshofes das Amt übernehmen, womit alle Institutionen sowie die jetzige Gesetzgebung aufrechterhalten würden. Das Ganze ist ein Versuch, den von den Land- und Stadtarbeitern so mutig vorangetriebenen Kampf zu enteignen, also quasi Veränderungen die nichts verändern.
"Selbstorganisation für den Kampf"
LVO: Zusammengefasst, welche ist die Achse der Politik der Revolutionäre von der LOR-CI angesichts dieser Ereignisse?
Javo Ferreira:: Ich werde dir die wichtigsten Ziele nennen, die wir in den letzen vier Kampfwochen verfolgt haben. Bei der Schnelligkeit mit der sich die Situation veränderte, waren wir gezwungen unsere Politik fast tagtäglich anzupassen. Unsere Flugblätter und Erklärungen haben wir jetzt sogar neben dem Datum mit der Uhrzeit versehen.
Unsere Aktivität hat sich hauptsächlich darauf konzentriert, den Kampf für die Organisation und Selbstorganisation der Massen zu führen. In diesem Sinne haben wir zunächst die Notwendigkeit einer nationalen Koordination des Kampfes und der Mobilisierung, die durch jeder Zeit abwählbare und mit bestimmten Vollmachten versehenen Repräsentanten organisiert werden muss, aufgezeigt. Diese Form der Organisation hätte sich auf lokaler und regionaler Ebene herausbilden und sich dann auf die Bezirke ausdehnen sollen. In diesem Sinne betrachten wir es als sehr progressiv, dass zwischen der COR und der FEJUVE lokale Organisations- und Koordinationsansätze wie die von El Alto entstanden sind. Mit den gleichen Zielen haben wir uns immer wieder den ständigen Veränderungen in den verschiedenen Massenorganisationen angepasst, in dem wir die Notwendigkeit eines nationalen Streik- und Mobilisierungskomitees aufstellten, das auf der Grundlage, dass die Beteiligung der Avantgarde an den Basisversammlungen der COB ausgeweitet wird.
Außerdem verlangte die Situation die Bildung von Selbstverteidigungskomitees. Zwar wurde diese Frage immer öfter Gegenstand der Diskussionen innerhalb der Massenbewegung und es wurden auch Schritte in diese Richtung getan, jedoch wurden immer noch keine ernsthaften Versuche zur konkreten Umsetzung unternommen. Zur Zeit befinden wir uns in einem harten Kampf gegen die gesamte Linke, der COB, der MAS, der Stalinisten, der Sozialdemokraten und leider auch gegen Sektoren, die sich zum Trotzkismus bekennen wie die POR, hauptsächlich auf Grund unserer Opposition gegen die Hungerstreiks, die diesen großartigen Kampf zu enteignen versuchen. Wir halten es für absolut notwendig die Selbstverteidigungskomitees zu stärken und voranzutreiben auf dem Weg zur Schaffung einer wirklichen Arbeiter-, Bauern- und Armenmiliz. Wir sind der Meinung, dass der einzige Weg zu einer wirklichen Arbeiter-, Bauern-, und Armenregierung aufzustellen, über die Organismen der direkten Demokratie gehen muss, welche aus der Massenbewegung selbst hervorgehen.
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