Nach Sturz von Sanchez de Lozada in Bolivien: Vizepräsident Carlos Mesa übernahm Amt
Timo Berger
Während die Menschen in Bolivien am Freitag auf die Straßen und Plätze des Andenstaates strömten, um den Rücktritt von Gonzalo Sanchez de Lozada zu feiern, befand sich Flug LAB 900 schon über den Wolken. Der Expräsident hatte sich kurz nach seinem Rücktritt nach Miami abgesetzt, einem sicheren Hafen für gestürzte Gewaltherrscher und gescheiterte Putschisten Lateinamerikas. Der bolivianische Konsul Moises Jarmuse Levy bestätigte die Ankunft des Expräsidenten in Miami am Samstagmorgen. Der verhasste Präsident war am Vortag nach maßiven und über eine Woche andauernden Protesten aus dem Amt geschieden. Während der Demonstrationen gegen ihn waren binnen einer Woche mehr als 70 Menschen gestorben, 400 wurden verletzt. Sanchez de Lozadas Vertreter Carlos Mesa wurde vom Kongress zum Staatschef ernannt. Da er von keiner Partei unterstützt wird, will er weitgehend auf die Forderungen der Bevölkerung eingehen und die nächsten Präsidentschaftswahlen vorziehen.
Sein Vorgänger Sanchez de Lozada hatte sich bis zuletzt geweigert, seinen Stuhl zu räumen. Obwohl immer mehr Menschen gegen ihn auf die Straßen gingen, behauptete er in einem Interview mit der US-amerikanischen Fernsehstation CNN bis zuletzt, zwei Drittel der Bevölkerung würden seine Politik unterstützen. Außerdem unterstellte er dem Oppositionsführer Evo Morales von der "Bewegung zum Sozialismus" (MAS) die Planung eines Staatsstreichs mit Waffen der kolumbianischen und der peruanischen Guerilla. Auch wenn er für diese Anschuldigungen keinerlei Beweise erbringen konnte, so hatte die Situation angesichts einer politischen Radikalisierung der Proteste zuletzt zweifelsohne revolutionäre Züge. Der Rücktritt des Bergbauunternehmers wurde daher offenbar auch aus den eigenen Reihen gefordert.
Der US-amerikanische Botschafter David Greenlee hielt Sanchez de Lozada bis zuletzt die Stange. Erst am Donnerstag abend traf er mit Vizepräsident Carlos Mesa zusammen, den die US-Regierung lange Zeit als Nachfolger abgelehnt hatte. Erst als die gesamte Regierung zu stürzen drohte, wechselte Washington seine Haltung. Zuletzt wurde Vizepräsident Mesa der "demokratische Ablauf" der Geschehnisse bescheinigt. La Paz muß also mit keiner US-Invasion rechnen.
Die Geschichte Lozadas war kurz, aber schmerzvoll für Bolivien. Bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr hatte der Multimillionär und Minenbesitzer nicht die erforderliche Mehrheit, sondern nur wenige Stimmen mehr als Evo Morales erhalten. Die bolivianische Verfassung sieht für einen solchen Fall die Wahl des Präsidenten durch das Parlament vor. Dank einer breiten Koalition der traditionellen Parteien konnte sich Sanchez de Lozada gegen Morales durchsetzen und trat am 6. April 2002 die Präsidentschaft an. Mit der MAS von Morales waren die Vertreter der Ureinwohner jedoch zum ersten Mal im Parlament vertreten: Boliviens Anteil indigener Bevölkerung liegt zwischen 60 und 70 Prozent.
Als sich diese Schichten wegen Sanchez de Lozadas neoliberaler Politik erhoben, reagierte der mit der Mobilisierung von Armee und Polizei. Erst nach tagelangen gewaltsamen Auseinandersetzungen unternahm der politisch isolierte Präsident am vergangenen Mittwoch einen letzten Versuch, den Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen, und erklärte sich bereit, auf einen Großteil der Forderungen einzugehen. Doch es war zu spät: Die Anführer der Proteste auf der Straße und die Opposition im Parlament beharrten auf ihrer Rücktrittsforderung.
In seiner Antrittsrede gedachte der neue Präsident Carlos Mesa den Toten des so genannten "Krieges um das Gas". Er sagte der Bevölkerung zu, ein bindendes Referendum über den Gasexport in die USA durchzuführen. Gleichzeitig versprach er, die Privatisierungen der Rohstoffressourcen zu untersuchen und entsprechende Gesetze zu prüfen. Mesa kündigte zudem die Einberufung einer verfassungsgebende Versammlung an. In ihr solle definiert werden, "welches Land und welche Spielregeln wir wollen". Von den Gewerkschaften und den im Ausstand befindlichen sozialen Sektoren forderte er im Gegenzug einen "Waffenstillstand". Der Protestführer Evo Morales erklärte sich zur Einstellung der Blockaden bereit. Allerdings müßte nicht nur über das aktuelle Gasprojekt, sondern auch über ein umstrittenes Dekret abgestimmt werden, mit dem Sanchez de Lozada am Ende seiner ersten Amtszeit die Privatisierung der Gasvorkommen ermöglichte. Ziel sei die erneute Verstaatlichung der Oel- und Gasressourcen Boliviens.
Der Gewerkschaftsverband COB entschied, die neue Regierung vorerst nicht zu unterstützen. Auch solle am Generalstreik solange festgehalten werden, bis das Privatisierungsdekret aufgehoben ist. Der Rücktritt von Sanchez de Lozadas bedeute schließlich nur den Austausch einer Person, und keinen Wechsel des Wirtschaftmodells, si die Begründung der COB, die an einer "unabhängigen Position" gegenüber der Regierung festhält.
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