(La Paz, 20. Oktober 2003, bolpress).- Die Partei des Oppositionsführers und Kokabauers Evo Morales MAS (Movimiento al Socialismo) hat heute beim Verfassungsgericht in Sucre Klage gegen den Ex-Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada eingereicht. Der Vorwurf: Während seiner Amtszeit soll er Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, teilte der MAS-Abgeordnete Gustavo Torrico mit.
Torrico ergänzte, dass die Klage zum Ziel habe, einen Prozess nicht nur gegen den Ex-Präsidenten, sondern auch gegen seine wichtigsten Mitarbeiter einzuleiten. Vor allem gehe es um die ehemaligen Minister des Inneren, Yerco Kukov, der Verteidigung, Carlos Sánchez Berzaín, und Freddy Teodovich.
Laut Torrico werden derzeit alle Verbrechen der Regierung seit ihrem Amtsantritt aufgelistet und dokumentiert: Zuerst zeichnete Sánchez de Lozada verantwortlich für ein Massaker im Januar dieses Jahres im Chapare, dann im Februar vor dem Sitz der Regierung in La Paz und schließlich im Oktober in der Stadt El Alto und anderen Regionen des Landes. Bei dem Vorgehen von Militär und Polizei in den ersten drei Oktoberwochen waren über 100 Menschen getötet worden, zudem gab es sehr viele Verletzte und eine unbekannte Zahl von willkürlichen Verhaftungen.
Anders sieht dies Óscar Arrien, Abgeordneter der bisherigen Regierungspartei MNR. Die Ereignisse des Oktobers müssten sehr genau untersucht werden, denn verantwortlich sei nicht nur die Regierung. Es habe auch gewalttätige Aktionen von organisierten Gruppen gegeben, so Arrien, auch wenn er zugab, dass der Staat übermäßig viel Gewalt angewendet habe.
Auch anderer Instanzen wie die Menschenrechtskommission des Parlaments oder die Indígena-Bewegung von Felipe Quispe haben angekündigt, juristisch gegen Sánchez de Lozada vorgehen zu wollen.
(Die anhaltenden und immer breiteren Proteste hatten Sánchez de Lozada am Freitag zum Rücktritt gezwungen. Er floh in die USA, der parteilose Vizepräsident übernahm sein Amt und kann vorerst auf Unterstützung fast aller politischer Fraktionen rechnen. Im Folgenden einige Berichte über die Zuspitzung vor dem Rücktritt des Präsidenten.)
(La Paz, 15. Oktober 2003, Econoticiasbolivia-Recosur).- Der wachsende Aufruhr in Bolivien, der größte zivile Aufstand der zeitgenössischen Geschichte Südamerikas, spitzte sich in den letzten Tagen immer mehr zu, als die Anwohner der Stadt El Alto und der Wohnviertel der Mittelschicht von La Paz weiter ins Zentrum und zum Regierungssitz der Andenrepublik marschierten. Dort hatten sich schon Tausende von Bauern und Arbeitern versammelt, die zu Fuß aus dem Hinterland gekommen waren. Sie forderten den Rücktritt des Präsidenten Gonzalo (Goni) Sánchez de Lozada, der seine Niederlage noch nicht begreifen wollte, und mit allen Mitteln an der Macht bleiben wollte.
Als Protest gegen die Massaker wurde zu einem Streik aufgerufen, der die Straßen von La Paz lahm legte. Die Lebensmittel sind knapp geworden und die Versorgung wird immer schwieriger. Man sah kein Militär auf der Straße und die Leute warteten auf den Beginn der offenen Bürgerversammlung, die von der bolivianischen Arbeiterzentrale COB (Central Obrera Boliviana) organisiert war. Dabei sollten die Opfer des dreitägigen Völkermordes, der sich zwischen dem 11. und 13. Oktober abspielte, beerdigt werden.
In der 4000 Meter hoch gelegenen Stadt El Alto gab es einen Generalstreik. Dieser hatte allerdings einen anderen Hintergrund. Dort kämpften die Anwohner Samstag und Sonntag mit Steinen und Schlagstöcken gegen die verrückten Maschinengewehre der Panzer und Soldaten an jeder Ecke und Straße der Stadt. Einige wurden verletzt, aber seit dem 13. Oktober ist die Gemeinde an der Macht.
Derzeit kann niemand ohne die Zustimmung des Bürgerausschusses aus der 800.000-Einwohner-Stadt rein oder raus gehen. Sie sind jetzt organisiert um gegen die Truppen zu kämpfen, nach La Paz zu marschieren und die Kinder und Verletzten zu versorgen. Dort wurde in jeder Straße eine Volksküche aufgebaut. In El Alto sind alle arm und jetzt besitzt jeder Bewohner einen Anteil an der gemeinsamen Regierung. Es handelt sich um einen anderen Staat mit eigenen Regeln und mit eigenen Idealen.
Sie weinten und heulten. Sie verabschiedeten die Gefallenen. Die Schreie wurden Rufe nach Rache und Justiz. "Ich bete zu Gott, dass die Militärs nicht auftauchen", sagte ein Priester von Villa Ingenio, einem Stadtviertel von El Alto. Jetzt riecht es nach Coca, nach Armut und nach Bürgerkrieg.
Die armen Viertel von La Paz sind auch unter der Kontrolle der Gewerkschaft und der Sozialorganisationen der Bevölkerung, die sich um die COB zusammenschließen. Das gleiche geschah in allen Ortschaften der Hochebene von Oruro bis Potosí und den westlichen Regionen Boliviens. Die Bauern und Arbeiter blockieren die Straßen und Wegen dieser Regionen, wo es zu Auseinandersetzungen mit den Militärs kam.
In Patacamaya, 100 Kilometer von La Paz entfernt, leisteten Bergbauern und Landarbeiter Widerstand gegen die Soldaten auf der Straße, die von dem Regierungssitz nach Oruro führt. Bei den Zusammenstößen mischten sich Dynamitstangen, Steine, Tränengas und Geschosse. Einige Leute wurden verhaftet.
Die Panzer versuchten dort, den Marsch von zweitausend Bergbauern der Gewerkschaft von Huanuni und anderen Arbeitern nach La Paz zu stoppen. Sie rückten vor und teilweise gelang es den Vormarsch der Demonstranten zu stoppen. "Der Marsch wurde gestoppt, aber bis jetzt gibt es keine Verletzten", informierte der Radiosender Erbol letzten Mittwoch. Fünfzehn Minuten später wurde berichtet, dass die Militärs aufgrund der Dynamitangriffe zurückweichen mussten. Es handelte sich um einen harten Kampf, der schon mittags zwei erschossene Bergbauern und mehrere Verletzte forderte.
In anderen Regionen konnten die Demonstranten nicht gestoppt werden. Die Bauern von Achacachi kamen in El Alto an. Sie kamen aus den Schatten der Hochebene. Andere Demonstranten kamen aus dem Süden. Aus dem Tal von Río Abajo marschierten dreitausend Menschen nach El Alto. Die Frauen trugen ihre beste Kleidung und Trachten. Sie wussten, dass sie Geschichte schreiben würden.
Aus Mallasa bewältigten mehr als tausend junge Bauern und Einwohner zwischen vierzehn und zwanzig Jahren den Weg. Alle trugen Schlagstöcke und waren bereit für einen Zusammenstoß. Weiter hinten kamen die Frauen, die Kinder und die Älteren als zweite Front. Der Weg war von Maschinengewehren der Militärs in Schusslinie genommen.
In der Innenstadt von La Paz demonstrierten Gruppen von Lehrern und Jungendlichen. Sie riefen Parolen und sangen das alte Lied der Pachokis, der Aymara Krieger der Kolonialzeit: "Der große Tag rückt näher / wir werden alle aufstehen / verdammter Yankee, du wirst sterben / du weißt genau, dass wir dich hängen werden."
Es kamen mehr Leute. Der Sprecher von der COB, Arsenio Alvárez, erklärte, dass die COB und 40 andere Gewerkschafts-, Genossenschafts- und Volksorganisationen entschieden hatten, dass die COB den Kampf anführen wird. "Niemand kann für sich selbst handeln. Es gibt eine Vereinbarung zwischen der COB, (der Mallku) Felipe Quispe, Evo Morales und Roberto de la Cruz um den Aufstand, die Straßenblockaden und den Streik auszubreiten", sagte Alvárez.
Der Aufruhr der Armen organisierte sich immer mehr. Die große Lücke zwischen den radikalen Ausschreitungen von La Paz und El Alto schließt sich mit dem voranschreitenden Volkskampf von Cochabamba, Oruro, Potosí und Chuquisaca. Am Dienstag protestierten dort hunderttausend Menschen. Sie gewannen die Kontrolle der Straßen und forderten den Rücktritt von Sánchez de Lozada. Am Mittwoch kämpften die Bewohner Cochabambas, der drittgrößten Stadt Boliviens, mit Steinen Schlagstöcken und Dynamit gegen die Militärs um die Kontrolle der Straßen.
Teile der Mittelschicht von La Paz, erschrocken nach der grausamen Schlacht, solidarisierten sich mit den armen und rebellischen Schichten. Die Oberschicht ihrerseits entfernte sich von Sánchez de Lozada und fordert ebenfalls seinen Rücktritt, da er sie bei einer Niederlage mit ins Verderben reißen könnte. Sie fürchteten, dass die Truppen, die aus dem Inneren des Landes kommen, wie das Regiment von "Boinas Verdes" aus dem Osten und die US-amerikanischen Militärberater, nichts gegen das revolutionäre Volk werden machen können.
Der Präsident schien bereits aussichtslos verloren. Seine Minister genauso wortlos wie er, traten immer wieder vors Volk, um eine Liste von Präsidenten vorzulesen, die den Millionär Sánchez de Lozada unterstützen, der immer weniger Macht über das ärmste Land Südamerikas besitzt. Auf der Liste stehen unter anderem Lula, Kirchner und Toledo. Sie sind weit vom bolivianischen Volk entfernt. Einem trauernden Volk, das am vergangenen Mittwoch seine bei blutigen Unruhen verlorenen 68 Tote beerdigte und das jetzt versucht, die Ungerechtigkeit und die Tyrannei zum Grab zu tragen.
(La Paz, 15. Oktober 2003, REDADA-RECOSUR).- Wie sich bereits in den vorangegangenen Tagen Gewerkschaftsorganisationen für einen Rücktritt des Präsidenten aussprachen, so kam es heute zu derselben Forderung seitens Frauen- und Jugendinstitutionen sowie aus intellektuellen, akademischen und Künstlerkreisen. Sie reichten ihre öffentlichen Manifeste mit der Forderung nach einem Rücktritt von Gonzalo Sánchez de Lozada im Infozentrum des Netzwerkes Red Ada ein.
Währenddessen versucht die Regierung, die Regierungsfähigkeit des Landes wiederherzustellen. Am späten Abend trafen sich die wichtigsten Würdeträger des Staates und führenden Kräfte der Koalition im Präsidentenhaus von San Jorge. Sie erklärten dem Präsidenten ihre Unterstützung, jedoch scheint dies zu spät zu kommen. Die Demonstrationen der Bevölkerung haben deren Unzufriedenheit verstärkt und verdeutlichen, dass es mit der Bewegung weitergehen wird bis "Goni weg ist!"
Die Bergarbeitervertretung COB hat offiziell ihre Entscheidung bekanntgegeben, nicht mit der Regierung unter Sánchez de Lozada in Dialog zu treten, bevor nicht selbiger nachhause ginge. Nach dem Massaker vom Sonntag in El Alto, bei dem circa 30 Personen umgebracht wurden, erklärte Vizepräsident Carlos Mesa seine Abkehr vom Präsidenten. Er wolle nicht solche Entscheidung mit der Regierung teilen und fühlte sich nicht verantwortlich für die gefällten Beschlüsse.
Laut einer Erklärung des Nationalrates von Ayllus und Markas del Oullasuyo planen die Bauern aus den Aymara-, Quichua- und Uro-Bevölkerungsgruppen, Richtung Regierungssitz marschieren. Ihrerseits fordert die Ständige Versammlung für Menschenrechte Boliviens den unverzüglichen Rückzug der bewaffneten Armeetruppen und der Staatspolizei. Sie erklärte, dass "unsere Landsmänner aus Militär und Polizei die Menschenrechte und die Verfassung wahren und nicht auf ihr eigenes Volk schießen, mit dem Ziel das Massaker zu stoppen". Sie forderte des weiteren einen verfassungspolitischen Ausweg und sieht es als notwendiges Ergebnis der historischen Lage, den Klagen und Forderungen des Volkes Raum zu geben.
Künstler, Intellektuelle und Akademiker haben in einem öffentlichen Dokument ihre Empörung über das brutale Vorgehen von Polizei und Militär erklärt. Sie rufen darin das bolivianische Volk zur Solidarisierung mit der Volksbewegung auf, ein Unterstützungskomitee zu bilden und Solidarität zu üben, um alle notwendigen Aktivitäten koordinieren zu können.
(La Paz, 15.Oktober2003, RECOSUR).- Die politische Führer der wesentlichen Koalitionspartner der Regierungspartei, der Bewegung der Revolutionären Linken MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) und der Neuen Republikanischen Kraft NFR (Nueva Fuerza Republicana), haben hinsichtlich der Entwicklung der aktuellen politischen Situation im Land eine zweideutige Position bezogen. Trotzdem hat der Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Jorge Torres, Mitglied der von Jaime Paz Zamora angeführten MIR, die Regierung aus Protest gegen den Präsidenten verlassen.
Auch Samuel Doria Medina, ebenfalls in leitender Funktion bei der MIR, hat der Meinung des MIR-Chefs widersprochen und öffentlich den Rücktritt des Präsidenten gefordert. Manfred Reyes Villa, Vorsitzender der NFR und gerade aus den USA zurückgekehrt, hat bisher noch keine klare Stellungnahme zu den aktuellen Geschehnissen abgegeben. Einige der Parteispitzen hatten versucht, in Abwesenheit von Reyes Villa die Regierung zu verlassen.
(La Paz. 15. Oktober 2003, (REDADA/RECOSUR).- "Dieser Mörder soll verschwinden!" lautete die Aufforderung der Familien, die ihre Angehörigen in den Tagen des Massakers im ganzen Süden der Stadt La Paz und in der Stadt El Alto verloren haben. "Das was in diesem Rechtsstaat passiert ist, ist unbeschreiblich" rief Victor Vaca Flor von der Ständigen Versammlung der Menschenrechte aus.
Bis jetzt hat man noch nicht genau untersucht, wie viele Tote es unter der Stadtbevölkerung gab, die am Sonntag in der Stadt El Alto gegen den Export von Gas protestierten. Man sagt, es seien dort mehr als 30 Personen und am Montag in der Südstadt von La Paz mehr als 7 Demonstranten umgebracht worden. Außerdem sollen mehr als 70 Menschen durch militärisches Geschoss gefallen sein. Die Hauptkrankenhäuser füllten sich mit Hunderten von Verletzten. Dort fehlen Medikamente, um die Verletzten zu versorgen. Zudem spricht man noch immer von einer großen Anzahl Vermisster und Festgenommener.
(La Paz, 15. Oktober 2003, REDADA-RECOSUR).- Von Toten und Verletzen im Ort Patacamaya in der Provinz Aroma im Distrikt von La Paz wurden auch in den Morgenstunden des vergangenen Mittwochs berichtet, als Militärflugzeuge den Zug von Hunderten von Demonstranten, in ihrer Mehrzahl Bergarbeiter, angriffen, die sich auf dem Weg in die Hauptstadt befanden.
Man sprach von mindestens zwei Toten und einer hohen Zahl von Verletzen, die in das Krankenhaus von Patacamaya gebracht wurden, unter ihnen auch viele Einwohner der Region, die sich vor Ort aufhielten. Nach Aussagen der Anwohner verfolgen die Militärs die Demonstranten und man hörte in allen Teilen der von Luft- und Bodenangriffen betroffenen Ortschaft Schüsse. Es spielte offenbar keine Rolle, dass viele unbeteiligte Personen, Frauen, Kinder und alte Menschen sich vor Ort befanden.
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