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indymediaBOLIVIEN: Zum Sturz des Gringo
von Sergio Cáceres; Übers: ibon - 23.10.2003 00:51
http://de.indymedia.org/2003/10/63930.shtml

Am Freitag, dem 17. Oktober, gegen Abend, floh Gonzalo Sánchez de Lozada aus Bolivien und hinterliess über 70 Tote und Hunderte von Verletzten und Verstümmelten. So fand eine der tragischsten Episoden ihr Ende, die Bolivien seit seiner Rückkehr zur Demokratie 1982 erleben musste.
aus der bolivianischen kritischen vierzehntägigen Zeitung Juguete Rabioso

Am Freitag, dem 17. Oktober, gegen Abend, floh Gonzalo Sánchez de Lozada aus Bolivien und hinterliess über 70 Tote und Hunderte von Verletzten und Verstümmelten. Da er nicht den Mut hatte, sich der Bevölkerung entgegenzustellen und dem Kongress seinen Rücktritt mitzuteilen, schrieb er während seiner Flucht einen Brief, der im Parlament unter einem Pfeifkonzert und mit heftigen Diskussionen verlesen wurde. Danach trat der bisherige Vizepräsident Carlos D. Mesa das Präsidentenamt an. So fand eine der tragischsten Episoden ihr Ende, die Bolivien seit seiner Rückkehr zur Demokratie 1982 erleben musste.

Das Ende der Amtszeit von Gonzalo Sánchez de Lozada, der bis August 2007 hätte regieren sollen, wurde durch einen organisierten Streik beschleunigt, der am 8. Oktober begann, um die Regierungsabsichten des Gasverkaufs in die USA und nach Mexiko zurückzuweisen. Sánchez de Lozada, statt auf die Forderung der Bevölkerung einzugehen, ordnete harte Repression gegenüber allen Mobilisierungen an.

Die Brutalität der Regierung in El Alto wurde zu einem Massaker, dessen Zahl von Toten und Verletzten von Tag zu Tag auf eine grausige Weise anstieg. Am 15. Oktober wurde das, was als Protest der BewohnerInnen in der jüngsten und ärmsten Stadt in Bolivia begonnen hatte, zu einer nationalen Rebellion, mit der Forderung nach sofortigem Rücktritt des Präsidenten. Strassenblockaden, Demonstrationen und Streiks erschütterten das Land, das unter der Strenge der Mobilisierungen zu leiden begann. Die leeren Märkte verängstigten eine Bevölkerung, die sich nach und nach den Protesten anschloss. Die sozialen Organisationen in den Strassen waren die bolivianische Arbeiterzentrale (COB), der Zusammenschluss der bolivianischen Landarbeiter (CSUTCB), die Wasser- und die Gaskoordination, die Kokabauern-Bewegung, Studierende, aber vor allem die Bevölkerung, die AnwohnerInnen, die auf die Strasse kamen, um zu kämpfen.

Die Regierung versuchte, die Bevölkerung zu verwirren, indem sie erklärte, dass es noch kein Projekt zum Gasverkauf gäbe. Währenddessen erlebte das Land eine Eskalation des Terrors, wie er zuvor nur in den blutigsten Diktaturen gesehen worden war: Angriffe auf Radios, die über das Massaker berichteten; Entführungen; Todesdrohungen an JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen; beschlagnahmte Zeitungen; militarisierte Strassen; Massaker. So erlebte Bolivien die letzten Tage des Regimes von Sánchez de Lozada.

Weit davon entfernt, die Situation zu kontrollieren, bereitete die Brutalität der Regierung der Gelassenheit aller sozialer Sektoren im Land ein Ende. Am Donnerstag, dem 17., begannen Menschen der Mittelklasse, Intellektuelle, KünstlerInnen der Städte einen Hungerstreik und schlossen sich damit der breiten Proteste an. Gleichzeitig näherten sich Bauern und Minenarbeiter der Stadt La Paz und stellen sich mit Bestimmung dem Militär entgegen, obwohl mit ganz und gar ungleichen Bedingungen. Ausser den privaten Unternehmern forderte das ganze Land den Rücktritt des Präsidenten.

Die Macht und der Sturz

Trotz allem bestand Sánchez de Lozada darauf, nicht zurückzutreten. In Erklärungen gegenüber CNN bezeichnete er die Bewegungen als Staatsstreich des "Narko-Syndikalismus", spielte die Ereignisse herunter und sagte sogar, dass es in den vergangenen Tagen weder Tote noch Verletzte gegeben hätte.

Dies waren die letzten Rettungsversuche eines Ertrinkenden. Zu diesem Zeitpunkt erklärte sogar sein Vizepräsident, Carlos Mesa, öffentlich, dass er seine Unterstützung zurückziehe.

Am Freitag, dem 17. Oktober, war das Land völlig stillgelegt und isoliert. In La Paz demonstrierten ungefähr 50 000 Menschen in der Nähe des Präsidentenpalasts, der von Militärtanks umgeben war. Laut den Erzählungen von JournalistInnen von Radio Erbol war eine so grosse Demonstration nicht einmal in der Revolution von 1952 gesehen worden.

In die Ecke gedrängt und verlassen, entschied sich Goni zur Flucht in die USA, während sich der Kongress dazu vorbereitete, Carlos Mesa zum Nachfolger zu machen. Wie Fujimori sandte Sánchez de Lozada sein Rücktrittsschreiben schriftlich, damit es im Kongress vorgelesen würde, da er nicht die Grösse hatte, die Verantwortung für die über 70 Toten zu übernehmen, die er in den Strassen von El Alto zurückgelassen hatte. Die Mengen in den Strassen von La Paz bemerkten wütend: "Der Gringo ist in seine Heimat zurückgekehrt".

Warum nennt man ihn Gringo?

Gonzalo Sánchez de Lozada gefällt es, bei seinem Spitznamen Goni genannt zu werden (Verkleinerungsform seines Taufnamens), aber für die Mehrheit der Demonstrierenden war er schlicht der "Gringo". Dieser Name kommt von seinem Spanisch, das von einem dicken englischen Akzent durchzogen ist. Englisch lernte Goni in den USA, wo er aufwuchs und einen Grossteil seines Lebens verbrachte.

Der Ex-Präsident wurde 1930 geboren, als Sohn einer vermögenden Familie, die grossflächige Plantagen besitzt und mit der Revolutionären Nationalistischen Bewegung (MNR), der Inititiantin der so genannten Revolution von 1952, verbunden ist. Diese Revolution brachte als Haupterrungenschaften die Agrarreform hervor, durch welche die enteigneten Ländereien den Bauern zurückgegeben wurden, sowie die Verstaatlichung der Minen.

Gonzalo Sánchez de Lozada beginnt sein politisches Leben als Abgeordneter des MNR von 1979 bis 1980. 1982 bis 1985 kommt er noch einmal ins Parlament, wird daraufhin Senator und Präsident der Obersten Kammer des bolivianischen Kongresses. Im folgenden Jahr, in der Regierung von Víctor Paz Estenssoro (MNR), wurde er Planungs- und Koordinationsminister, und schuf das Dekret 21060, das zwar die Inflation stoppte, aber mit all den Grundsätzen brach, für welche seine Partei im Jahr 1952 gekämpft hatte. In diesem Jahr 1986 trat Bolivien in die neoliberale Wirtschaft ein.

1993 wird er zum ersten Mal Präsident, mit einer historischen Stimmenzahl von 32 Prozent. Dank einer Allianz mit anderen Parteien erreicht er, was später als "Regierbarkeit" bekannt wird, das heisst genügend Stimmen von Parlamentariern, um keine genügend grosse Opposition zuzulassen, die seine Politik bremsen könnte. Dank dieser Mehrheit konnten Gesetze verabschiedet werden, die im Volksmund die "drei verfluchten Gesetze" genannt werden: Gesetz der Bevölkerungsteilnahme, Bildungsreform und Gesetz der Kapitalisierung. Mit dem Letzteren übergab er dem transnationalen Kapital die wichtigsten Firmen des Staats: ENDE (Strom), ENFE (Eisenbahn), YPFB (Kohlenwasserstoffe), ENAF (Eisenförderung), ENTEL (Telekommunikation) y LAB (Luftfahrtgesellschaft). Die geschwächten Gewerkschaften versuchten damals sich zu wehren, Goni Sánchez benützte aber militärische Mittel, um jegliche Opposition zu ersticken.

Vom Präsidentensessel zum goldenen Exil

Im Jahr 2002 kehrt er an die Macht zurück, diesmal mit 22 Stimmenprozenten und knapp vom MAS (Bewegung zum Sozialismus) gefolgt, der vom Kokagewerkschafts-Präsidenten Evo Morales angeführt wird. Um auf den Präsidentensessel zu gelangen, brauchte er wieder Allianzen, aber diesmal erhielt er nicht die gleiche parlamentarische Mehrheit, und sein Handlungsspielraum war von Anfang an beschränkt; dies hatte nicht zuletzt auch damit zu tun, dass unter den oppositionellen Kräfte im Parlament auch die sozialen Bewegungen vertreten waren, die im Jahr 2000 einige der erfolgreichen Kämpfe gegen das neoliberale Modell angeführt hatten.

So wie es der Internationale Währungsfonds vorschrieb, schuf Sánchez de Lozada im Februar 2003 eine neue Steuer für die BolivianerInnen. Dieser Schritt wurde von verschiedenen Bevölkerungssektoren abgelehnt, und schliesslich von einer Polizeimeuterei und Aktionen der organisierten sozialen Bewegungen verworfen. Dieser Opposition begegnete Sánchez mit einer gewaltsamen Repression, die als "Massaker vom 12. und 13. Februar" bekannt ist, und durch die 30 Menschen starben.

Das "Februar-Massaker" zeigte deutlich die Schwäche der Regierung. In dieser Zeit sprach man davon, dass Sánchez de Lozada nicht bis zum Ende seiner Amtszeit Präsident bleiben würde, vor allem weil er bis anhin noch nicht versucht hatte, einen weiteren Punkt durchzusetzen, den heikelsten: den Verkauf des Erdgases. Dies war ein geheimes Projekt, das dem transnationalen Konzern Pacific LNG sämtliche Rechte übergab, das Gas auszubeuten, um es dann in die USA und nach Mexiko zu transportieren.

Die verheerenden Wirkungen der kapitalisierten Firmen, einer der Amtshandlungen in seiner früheren Regierung, zusammen mit einem Erwachen des nationalen Bewusstseins in Bezug auf den Schutz der natürlichen Ressourcen, schufen eine starke Opposition gegen dieses Vorhaben. Monate unfruchtbarer Versuche des Dialogs und die Überheblichkeit, mit welcher die Regierung Informationen verschwieg und das Projekt geheim weiterführte, führten dazu, dass am 19. September die erste grosse Mobilisierung gegen den Gasverkauf begann. Der Rest ist bereits bekannte Geschichte. Jetzt hat der Ex-Präsident seinen Wohnsitz in die USA verlegt, wo er die Solidarität des State Departments erhielt.

Gonis Nachfolger

Carlos Mesa war, bevor er am 6. August 2002 zum Vizepräsidenten wurde, ein bekannter und respektierter Historiker. Seine Dokumentarfilme und historischen Erzählungen waren ein wichtiger Bestandteil des bolivianischen Fernsehens. Mit anderen Journalisten zusammen schuf er den Kanal PAT (Periodistas Asociados Televisión), den er mehr als einmal als Bühne benützte, um die "Vorzüge" der Kapitalisierung zu verteidigen und die Reformen, die Gonzalo Sánchez de Lozada vorantrieb, welchen er, so drückte er aus, ebenfalls bewunderte.

Am 17. Oktober dieses Monats, nach dem Rücktritt von Gonzalo Sánchez, trat er das Amt als neuer Präsident der bolivianischen Republik an. In seiner Antrittsrede kündigte er an, dass er eine Volksabstimmung zur Zukunft des Erdgases durchführen und das Gesetz der Kohlenwasserstoffe Erdöl und Gas revidieren werde. Er verpflichtete sich, für das Zustandekommen einer Verfassungsgebenden Versammlung zu arbeiten, mittels welcher sämtliche Sektoren des Landes an der Neugestaltung der Republik teilnehmen, und bat den Kongress, dass seine Amtszeit eine Übergangsperiode darstelle und dass in kurzer Zeit Neuwahlen abgehalten werden, um Transparenz und Legitimität der Regierung zu gewähren.

Führungspersonen der sozialen Bewegungen, wie Evo Morales und Jaime Solares (oberster Ausführender der bolivianischen Arbeiterzentrale COB) unterstützten ihrerseits voll den neuen Präsidenten und erklärten, dass sie in der neuen Regierung nicht Einsitz nehmen würden. Allerdings würden sie überwachen, ob die Forderungen der Bevölkerung erfüllt würden, für die über 70 Menschen das Leben gelassen haben.


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