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4:27 AM Tue 30 Nov 99
From: canna
junge Welt - Ausland - 30.11.1999
Einen Superlativ versprechen sich die Gegner und Kritiker der Welthandelsorganisation (WTO), die am heutigen Dienstag die größte Demonstration in den USA seit den Antikriegsprotesten 1968 in Chicago auf die Beine stellen wollen. Am Sonntag zogen Demonstranten durch die Innenstadt von Seattle und blockierten vorübergehend den Straßenverkehr. Die Organisatoren kündigten an, die Demonstranten würden sich zum Tagungsbeginn auf Straßen legen und sich aneinander oder an Zäune ketten, um die Teilnehmer am Betreten des Konferenzzentrums zu hindern.
Die 1994 gegründete WTO, die sich den grenzenlosen Warenhandel auf ihre Fahnen geschrieben hat, ist aus vielen Gründen zum Stein des Anstoßes geworden. Gewerkschaften fürchten einen weiteren Abbau von Arbeitsplätzen und schlechtere Arbeitsbedingungen, Umweltorganisationen kritisieren die umwelt- und artenschädigende Streitschlichtung der WTO, Verbraucherschutzverbände sehen die Rechte der Konsumenten gefährdet, europäische Bauernverbände bangen um ihre Subventionen, und Aktivisten aus der Kampagne gegen das im letzten Jahr gescheiterte Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) wollen vor allem eine Erweiterung der Handelsrunde um ein neues Investitionsabkommen in der WTO verhindern.
In der Tat ist die 135 Mitglieder zählende WTO zu einem der mächtigsten Instrumente neoliberaler Politiker und Wirtschaftsbosse auf internationalem Level geworden. Mit ihrem Streitschlichtungsmechanismus, dem Dispute Settlement Body (DSB), kann sie Handelssanktionen gegen Mitgliedsstaaten verhängen, wie jüngst gegen die EU, die zuvor hormonbehandeltes Rindfleisch aus den USA boykottiert hatte. Angesichts der Machtfülle haben mehr als tausend Organisationen dazu aufgerufen, jegliche Verhandlungen einzustellen und zunächst einmal die Folgen der bisherigen Liberalisierungsmaßnahmen im Agrar- und Dienstleistungssektor, aber auch beim Handelsabkommen über Patente zu überprüfen.
Das ist mit Abstand die am breitesten mitgetragene Forderung. Ansonsten driften die Ansichten über strategische Ziele und Methoden weit auseinander. Während Gruppen mit starkem Basisbezug schon im Sommer begonnen haben, für »gewaltfreie, spektakuläre Aktionen« zu trainieren und so die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, setzen andere, vor allem Vertreter von finanzkräftigen Nichtregierungsorganisationen (NGO) aus dem Norden und einige Gewerkschaftsvorstände auf intensive Lobbyarbeit. Das Direct Action Network lehnt das ab und will eine »Mobilisierung gegen Globalisierung« veranstalten.
»Mehr als 700 NGO-Vertreter haben eine Akkreditierung beantragt«, freut sich Douglas Worth, Generalsekretär des Wirtschafts- und Industriebeirates der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). »Natürlich wissen sie, daß eine Kakophonie« - Worth meint die grundsätzliche Gegnerschaft zur WTO und zu den Freihandelsprinzipien - »nicht produktiv sein kann und das Gegenteil ihres Anliegens bewirken wird«.
Worth ist nicht der einzige, den die »destruktive Natur der Attacken auf das MAI« beeindruckt hat. Auch der neue Generaldirektor der WTO, Michael Moore, will vorbeugen und die NGO mit einbeziehen. Wenige Wochen vor der Konferenz der Handelsminister in Seattle hat die WTO eine Studie zum Thema Handel und Umwelt veröffentlicht. Darin versucht sie zu belegen, daß Freihandel keinesfalls einer umweltfreundlichen Politik widerspricht, sondern sie sogar fördert.
Das nennt die WTO »win-win«-Szenario. Als Beispiel führt sie die der Fischereiwirtschaft gewährten Subventionen von 54 Millarden Dollar an. Deren auch aus handelspolitischer Sicht wünschenswerte Aufhebung würde den bestehenden Überkapazitäten und dem notorischen »overfishing« ein rasches Ende bereiten. Zudem nehme die ökologische Abhängigkeit der Staaten in der Welt unabhängig von ihren Handelsverbindungen zu. Nicht der freie Welthandel, sondern vielmehr anhaltende Armut und falsche nationale Politiken seien Ursache der weltweit wachsenden Umweltprobleme. Freihandel führe zu Reichtum der Menschheit, aus dem Reichtum entstehe das Bedürfnis nach einer sauberen Umwelt, die dann auch bezahlbar sei, lautet das neoliberale Credo der WTO.
Die Behauptung, daß die WTO zwar mit ihrer Politik eine »saubere Umwelt« befördere, hindert die Analysten nicht daran, ökologisch motivierte Handelsschranken als Beispiel schlechter Umweltpolitik zu geißeln. Das entspricht der gängigen Praxis der Streitschlichtung in der WTO, in deren Gremien Beamte aus den Handels- und Wirtschaftsministerien, die bisher alle Boykottmaßnahmen im Zusammenhang mit Umwelt- und Menschenrechtsverletzungen sanktioniert haben.
Nicht nur die Wirtschaftslobby des Nordens hält Umwelt- und Sozialstandards in der WTO für falsch. Vor allem Regierungen, aber auch soziale Bewegungen, NGO und Intellektuelle aus den Ländern der Dritten Welt sprechen sich gegen die Behandlung von sozialen und ökologischen Fragen in der WTO aus. Sie befürchten einen neuen Protektionismus gegenüber Waren aus der Dritten Welt. Den Befürwortern der Sozial- und Umweltklauseln in der WTO, z. B. dem Internationalen Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) und einigen anderen vom Norden dominierten Lobbyorganisationen werfen 37 afrikanische Intellektuelle in einem Aufruf vor, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen im Norden sichern zu wollen, indem die Produktionskosten für Länder in der Dritten Welt durch soziale und ökologische Kriterien heraufgesetzt würden.
Die WTO sei so strukturiert, daß die Länder der Dritten Welt keine Möglichkeit haben, ihre Interessen gegenüber der mächtigen Quad-Gruppe (USA, EU, Japan und Kanada) durchzusetzen. Vergeltungsmaßnahmen für ein Land, das ein Schiedsurteil des DSB nicht umsetzt, sind nur für den Kläger möglich. Die Sanktionsmöglichkeiten eines Landes aus der Dritten Welt haben aber kaum eine abschreckende Wirkung auf die USA oder die EU.
Einige Regierungen aus den Commonwealth-Staaten haben angekündigt, das Thema Verschuldung in Seattle auf die Tagesordnung setzen zu wollen. Und Aktivisten des Direct Action Networks haben bereits unterstrichen, daß das Scheitern der WTO-Verhandlungen nur ein Etappenziel sein kann. Das Ziel erscheint einigen wegen der eklatanten Widersprüche innerhalb der WTO erreichbar. »Was sollen wir dann tun?« so die rhetorische Frage eines Sprechers, auf die er die Antwort gleich hinterherschiebt: »Wir sollten dann bis zum Herz der Bestie vorstoßen, den Kapitalismus selbst«. Den Anfang machten am 16. November mehr als zwei Dutzend Aktivisten, die sich während einer Führung durch das WTO-Hauptquartier in Genf in der Haupthalle anketteten und das Dach besetzten. Ihre Forderung: »Enteignet die Enteigner!«
Gerhard Klas
http://gib.squat.net/links.html#neoliberal
http://gib.squat.net/millenium.html
NGO's und Verbraucherverbände rüsten für den Kampf um elektronische Märkte
http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/5489/1.html
Worum es bei der WTO-Millenniumsrunde ab 30. November in Seattle geht.
Aktionen im Netz zum WTO-Millenniumstreffen angekündigt
http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/5534/1.html
Piratengipfel in Seattle
http://www.jungewelt.de/1999/11-29/006.shtml
krieg ist frieden. freiheit ist sklaverei. unwissenheit ist staerke