Live aus Seattle 1.12.99

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8:52 AM Mon 6 Dec 99
From: canna

From aswa-AT@anarch.free.de
Date Mon, 6 Dec 1999 10:06:59 -0500

Dear NYFMA & friends,

Ich bin gerade aus dem Zentrum von Seattle zurück und schreibe auf einem Computer im Zentrum der Unabhängigen Medien (IMC), wo ich seit meiner Ankunft Freitag morgen praktisch lebe.

Draußen herrscht chaotische Energie. Bataillone von Sondereinsatzkommandos der Polizei (riot police) in voller Ausrüstung und mit Gasmasken, mit Schlagstöcken, Tränengasgewehren und Pfefferspraykanonen sind über das ganze Stadtzentrum verteilt, räumen die Straßen und feuern in die Menge oder nehmen Leute fest. Hier kam gerade einer rein und rief, daß 300 Leute festgenommen und in einen Bus gepfercht wurden. Wir haben hier einen Sani/ Mediziner in Keller für die IMC-Leute, die von Gummigeschossen getroffen werden oder zu viel Tränengas abkriegen. Vor 15 Minuten war ich mit zwei KollegInnen und Leuten vom Free Speech TV draußen und wir haben einen koreanischen Aktivisten vor einer Kette von Bullen interviewt, die die Straße abgeriegelt hatten. Aus der Menge flog ein Ei auf die Bullen, und die drehten sich um und feuerten Tränengasbomben direkt in die Leute hinein. Erstickender, beißender Qualm breitete sich aus. Die Geräuschkulisse auf den Straßen in Seattle besteht heute konstant aus Sirenen, Sprechchören und Gebrüll, obwohl dies nichts im Vergleich zu den über 70.000 Menschen ist, die gestern auf den Straßen unterwegs waren.

Die Szenen in den Straßen sind surrealistisch - große Menschengruppen, junge Leute mit Skimasken [oder auch Haßkappen], die in den Straßen tanzen, Flugis verteilen, singen, demonstrieren, Graffiti sprühen, Feuerstellen auf den Straßen, Bullen in Darth-Vader-Ausrüstung, Explosionen, Gebrüll. In den letzten zwei Tagen habe ich selbst viele Ereignisse direkt mitbekommen, bei denen die Polizei rücksichtlose Gewalt angewendet hat. Ein Mann kam hier ins IMC-Zentrum, nachdem seine Brille von einem Gummigeschoß zerschossen worden war; eine Frau kam rein, der ein Tränengaskanister über den Kopf geschlagen worden war - sie hatte eine blutende Platzwunde; ein Journalist wurde von einem Gummigeschoß an der Brust getroffen und hatte es aufgehoben und zeigte es mir.

Letzte Nacht hatte die Polizei das IMC abgeriegelt und ging gegen alle auf der Straße vor. Sie feuerten auf die Menge und ich sah, wie eine Tränengasgranate genau neben einer jungen Person explodierte, die aber nicht weglief, sondern zu Boden ging. Die Bullen blockierten uns, indem sie umgedrehte Tische vor unsere Tür stellten und wollten uns nicht herauslassen. Durch die Tür drang Tränengas in unseren fensterlosen Raum und verpestete die Luft. In dieser Krise riefen wir eine Reporterin bei einem Sender (WBAI) an und baten sie um Hilfe, daß wir von dort aus arbeiten könnten. Sie rief zurück und sagte, ihre Kollegin Amy Goodman sei gerade draußen und berichte live. Es war ein ziemlich irrer Moment, als sie mir die Reportage von Eileen beschrieb. Ich sah aus der Glastür des IMC-Zentrums und sah Amy Goodman bei ihrer Reportage, wie sie per Handy ihren Bericht inmitten von dichten Tränengasschwaden durchtelefonierte.

Der Notstand wurde ausgerufen, eine Ausgangssperre bis 7 Uhr morgens verhängt und daher konnten viele Leute nicht nach Hause gelangen - ich auch nicht, ich habe irgendwo bei irgendjemand auf dem Fußboden übernachtet.

Heute morgen auf dem Weg zum IMC hörte ich Sprechchöre und Explosionen; ich ging zum Westview-Einkaufszentrum und sah, wie ein paar Dutzend DemonstrantInnen, die ein Sit-In machten, von Bataillonen von Bullen festgenommen wurden. Aus der Menge um sie herum kamen Sprechchöre und Parolen, die Bullen wurden nervös und schossen eine Tränengasbombe auf uns ab. Es wurden weiter Leute verhaftet, und die DemonstrantInnen sangen, während sie abgeführt wurden.

Diese Vorfälle gibt es seit gestern morgen non-stop, und das IMC war ein wichtiger Punkt für die Grassroots-Medien, um die Demonstrationen, die Polizeiangriffe und die Verhaftungen zu dokumentieren, die Übergriffe der WTO auf Umwelt, Gewerkschaften, Öffentliche Gesundheit, Unabhängigkeit/ Souveränität [indigener Völker; d.Ü.] und Demokratie zu analysieren.

Die heutige Ausgangssperre ist eingetreten und sie haben eine Zone in der Innenstadt völlig abgeriegelt, in die keiner hineinkann. Bataillone von Buullen "sichern" die Straßen und wir bekommen telefonisch Meldungen über viele Verhaftungen .

Bitte schaut euch die Website des IMC an, auf der Nachrichten, Fotos, Viedos sowie letzte Neuigkeiten ständig aktualisiert werden. Es ist schon toll, was eine Handvoll Computer, Handies und die Entschlossenheit, die Vorgänge bekannt zu machen, so alles bewirken können.

Mehr später.....

mein Hals tut weh vom Tränengas
Greg Ruggiero
19 Uhr, Dec 1, 1999

Independent Media Center naming the political moment in order to transform it
http://www.indymedia.org

http://www.ainfos.ca/de/ainfos00412.html

krieg ist frieden. freiheit ist sklaverei. unwissenheit ist staerke


Seattle Reports | Actions 1999 | www.agp.org