Piratengipfel in Seattle

http://www.egroups.com/group/infopool/331.html?
7:11 PM Sun 28 Nov 99
From: canna

http://www.jungewelt.de/1999/11-29/006.shtml
junge Welt - Ausland - 29.11.1999

Nach dem WTO-treffen wird neue Verhandlungsrunde zur weiteren Liberalisierung des Welthandels erwartet.

Von Wolfgang Pomrehn

Am 30. November beginnt im US-amerikanischen Seattle das dritte Ministertreffen der Welthandelsorganisation WTO. Die Vertreter von 135 Mitgliedsstaaten werden erwartet, eine ganze Reihe weiterer Regierungen werden Beobachter schicken. Wie kaum eine andere internationale Konferenz zuvor, zieht das WTO-Treffen seit Monaten rund um den Globus die Aufmerksamkeit von Gewerkschaften und Aktionsgruppen, Umweltorganisationen und entwicklungspolitischen Initiativen auf sich. Zahlreiche Proteste sind angekündigt.

Seit Anfang November bewegt sich eine Karawane der Gegner durch Kanada Richtung Seattle. Mit gutem Grund: Vor allem die Regierungen der Industriestaaten, aber auch der meisten Schwellenländer erwarten von Seattle den Startschuß für eine Verhandlungsrunde zur weiteren Liberalisierung des Welthandels, die sogenannte Millenniumsrunde. Drei Jahre soll sie dauern, besagen die bisherigen Planungen. Erfahrungen mit ihrem Vorläufer, der Uruguay-Runde, aus der 1995 die WTO hervorging, lassen allerdings eher erwarten, daß sich die Verhandlungen über einen wesentlich längeren Zeitraum erstrecken werden.

In Seattle im Bundesstaat Washington wird es vor allem um Tagesordnung und Zeitplan dieser Verhandlungen gehen. Als Thema zur Diskussion steht zunächst die sogenannte »built-in agenda« fest, d. h. Gespräche über die Liberalisierung des Agrar- und Dienstleistungssektors. Die waren bereits bei der Unterzeichnung des WTO-Vertrages 1994 im Marrakesch vereinbart worden. Des weiteren wird es um WTO-interne Fragen wie Transparenz der Entscheidungsprozesse und Einbeziehung der Mitgliedsstaaten gehen. Außerdem werden Fragen, die man bereits seit der ersten WTO-Tagung in Singapur verhandelt, weiter besprochen werden wie z. B. die internationale Ausschreibung öffentlicher Aufträge, Erleichterungen für ausländische Investoren sowie Handelserleichterungen. Schließlich wollen die EU und die USA auch die Frage von Sozial- und Umweltklauseln auf die Tagesordnung setzen. Damit beißen sie allerdings bei vielen anderen Ländern auf Granit. Auf einem Seattle-Vorbereitungstreffen in Genf Anfang des Monats standen sie mit entsprechenden Forderungen allein da.

Während westeuropäische und US-amerikanische Gewerkschaften von ihren Regierungen die Einführung der Sozialklauseln verlangen und die EU hiesige Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mit Umweltklauseln zu ködern versucht, lehnen Bürgerkomitees, Frauengruppen, NGOs aller Art, kritische Wissenschaftler und viele Gewerkschaften in den meisten Mitgliedsländern die Verhandlungen ab. In einer von etlichen hundert Gruppen aus aller Welt unterzeichneten Erklärung wird ein sofortiger Stopp der weiteren Liberalisierung des Welthandels gefordert. Ein Verhandlungsmoratorium müsse her, um die bisherigen Folgen der WTO-Politik zu untersuchen: »Die Ergebnisse der Uruguay-Runde und die Etablierung der WTO wurden zu Mitteln erklärt, die der Schaffung und Erweiterung globalen Reichtums und allgemeiner Prosperität dienen, die zur Förderung des Lebensstandards aller Menschen in allen Mitgliedsländern führen werden. In Wirklichkeit hat jedoch die WTO in den fünf Jahren ihrer Existenz zur Konzentration des Reichtums in den Händen weniger beigetragen, hat für die Mehrheit der Weltbevölkerung wachsende Armut gebracht und die Verbreitung nicht- nachhaltiger Produktions- und Verbrauchsmuster gefördert.«

Zwang zur Marktöffnung

Tatsächlich gibt ein historischer Rückblick den Kritikern recht. Während die Befürworter des Freihandels diesen als Motor weltweiter wirtschaftlicher Entwicklung feiern sprechen die Fakten eine andere Sprache. Alle Staaten, denen es in den vergangenen 200 Jahren gelang, sich zu industrialisieren, haben zunächst ihren Binnenmarkt gegen die ausländische Konkurrenz geschützt. An erster Stelle stand zunächst das Abkupfern importierter Waren, d. h. die Verletzung des Patentrechts. Erst nachdem der Produktivitätsrückstand aufgeholt war und der heimische Markt für den Absatz der erzeugten Produkte nicht mehr reichte, wurden die Grenzen schrittweise geöffnet. Das passierte Ende letzten Jahrhunderts in Deutschland, einige Jahrzehnte später in Japan und in jüngster Zeit in Taiwan und Südkorea, denen diese Möglichkeit aufgrund ihrer besonderen Bedeutung im Kalten Krieg eingeräumt wurde. Andere Länder, die weniger glücklich waren, wurden zu einer frühzeitigen Öffnung ihrer Märkte für billige Industrieprodukte aus dem industrialisierten Norden gezwungen. Dort konnte sich nie eine nennenswerte unabhängige Industrie entwickeln.

Hunger und Armut

Jüngstes Beispiel sind hierfür die Philippinen, die seit Beginn der 60er Jahre eine Politik der offenen Grenzen betreiben. Während Südkorea im gleichen Zeitraum mit einer protektionistischen staatlichen Industrialisierungspolitik den Sprung vom Agrarland und einem der ärmsten Staaten der Welt in den Kreis der führenden Industrienationen schaffte, sind die Philippinen nach wie vor ein abhängiger Staat ohne eigenständige industrielle Basis. Der Einzelhandel befindet sich fest in der Hand US-amerikanischer Ketten, und in den zahlreichen Sonderwirtschaftszonen tummeln sich ausländische Unternehmen, die ihre steuerlich längst abgeschriebenen Maschinen noch ein paar Jahre mit billigster Arbeitskraft weiterlaufen lassen wollen. (AP-Foto: Landarbeiter verbrennen in Manila ein symbolisches Eigentümer-Zertifikat, das den Kauf der Philippinen durch die USA beurkundet)

Der Inselstaat verbuchte zwar in den letzten Jahren einen enormen Anstieg seiner industriellen Exporte, mußte allerdings fast im gleichen Umfang importieren, da die neugeschaffene Industrie zumeist aus Montagebetrieben besteht, in denen die Produkte nur wenig Wertzuwachs erhalten. Trotz eines erheblich infrastrukturellen Aufwands (Bau von Autobahnen und Hafenterminals, zu deren Zweck in Manila Hunderttausende Slumbewohner vertrieben wurden) bleibt somit nur wenig Kapital und Kaufkraft im Land zurück. Die Philippinen sind damit auch ein Musterbeispiel für den Welthandel nach dem Geschmack der Konzerne in den OECD-Staaten. Einzelkomponenten werden dort produziert, wo es gerade am billigsten ist, und dann zur Montage um den halben Globus transportiert.

Dementsprechend nahm im vergangene Jahrzehnt das Volumen des Welthandels rund doppelt so schnell zu wie das weltweite Bruttosozialprodukt. Selbst im Krisenjahr 1998 war das noch der Fall.

Angesichts dieser Sachlage sollte man meinen, daß sich in Seattle geschlossene Fronten von Industrie- und Entwicklungsländern gegenüberstehen werden. Doch die Lage ist komplizierter. Viele Schwellenländer erhoffen sich vom Fall der Zollschranken Absatzchancen für ihre konkurrenzfähigen Waren für den Massenmarkt. Dabei geht es nicht zuletzt um Textilien, aber auch um Erzeugnisse der Informationstechnologie, wie Computerchips, PCs und ähnliches. Ein Teil der Entwicklungsländer könnte profitieren, wenn die Industriestaaten ihre Zollbarrieren für Agrarimporte abbauen würden. Zumindest ist das die Ansicht mancher Regierung, denn natürlich fehlt die für Exportprodukte genutzte Anbaufläche, wenn es um die Versorgung der eigenen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln geht. Und auch von den Exporterlösen kommt für gewöhnlich wenig bei der ländlichen Bevölkerung an. Die muß eher damit rechnen, aufgrund der Mechanisierung, die unumgänglich ist, um auf dem Weltmarkt bestehen zu können, ihre Einkommensquellen zu verlieren.

Was die Liberalisierung der Agrarmärkte für die Versorgung der Bevölkerung bedeuten kann, hat sich unlängst am Beispiel Indonesiens gezeigt. Das 200- Millionen-Einwohner-Land war in den 80er Jahren Selbstversorger. Mit dem Übergang zur exportorientierten Entwicklung wurde die Landwirtschaft vernachlässigt und die Grenze für Reisimporte geöffnet. Im Ergebnis nahm die Selbstversorgungsrate rapide ab, da die Kleinbauern der Inselrepublik nicht mit den Weltmarktgrößen mithalten konnten. Als nach Ausbruch der asiatischen Krise die indonesische Rupiah auf ein Zehntel ihres vorherigen Wertes abstürzte, verteuerten sich die Importe entsprechend und damit auch das Grundnahrungsmittel Reis. Heute grassieren auf den Inseln zwischen Sumatra und Neuguinea wieder Hunger und Armut wie zuletzt in den 60er Jahren.

MAI durch die Hintertür

Die im deutschen Forum Umwelt und Entwicklung zusammengeschlossenen Gruppen fordern denn auch, daß nicht über eine weitere Liberalisierung der Agrarmärkte verhandelt wird, sondern diese in bezug auf den Marktzugang in Entwicklungsländern wieder zurückgenommen wird. Besonders in Anbetracht der unsicheren Welternährungslage halten sie die gegenwärtigen Verhandlungen für äußerst bedenklich und verlangen, daß ein so heikles Thema nicht den Marktkräften überlassen werden darf.

Bei der Liberalisierung der Agrarmärkte bilden einige Entwicklungsländer gegenwärtig jedoch zusammen mit den südostasiatischen Schwellenländern, Neuseeland und den USA eine Front gegen Staaten wie Japan, Südkorea und Norwegen, die um die Existenz ihrer Kleinbauern fürchten. Auch für Südostasien ist bereits nachgewiesen worden, daß dort die Kleinbauern zu den Verlierern gehören würden. Allerdings besitzen sie in ihren Ländern wegen Kolonialismus und jahrzehntelanger Diktaturen keine politische Lobby, so daß die Positionen der Regierungen von Plantagenbesitzern dominiert werden.

Die EU ist in der Agrarfrage tief gespalten. In den meisten Ländern würde die von den USA verlangte Marktöffnung und der Subventionsabbau ein Bauernlegen auslösen. Besonders Frankreich gilt daher als Verteidiger der bisherigen Agrarpolitik. In Deutschland sieht eine starke Industrielobby den restriktiven Agrarmarkt eher als einen Hemmschuh bei der Durchsetzung des weltweiten Freihandels an. Die EU wird allerdings in Seattle mit einer Stimme verhandeln, vertreten durch ihren Handelskommissar Pascal Lamy. Marktöffnung komme nur insoweit in Frage, heißt es in einem Positionspapier des Rates der EU-Landwirtschaftsminister, wie auch andere Märkte für europäische Agrarexporte geöffnet werden. Auf einer Pressekonferenz verwahrte Lamy sich gegen den Vorwurf, die EU wolle bis auf den Agrarsektor alles verhandeln. Manches deutet daraufhin, daß sowohl die Europäer als auch die Japaner planen, im Rahmen eines umfassenden Verhandlungspaketes möglichst viele Zugeständnisse für die eigene Landwirtschaft herauszuschlagen.

Hierin liegt denn auch eine weiterer Kritikpunkt verschiedenster Umwelt- und entwicklungspolitischer Gruppen: Daß die ärmeren Länder schon allein aufgrund der Komplexität der Verhandlungen über den Tisch gezogen werden, da sie es sich nicht leisten können, den notwendigen Expertenstab zu beschäftigen. Außerdem verbirgt sich hinter der EU-Forderung nach umfassenden Verhandlungen auch der Wunsch, das zunächst gescheiterte internationale Investitionsschutzabkommen MAI im Rahmen der WTO wiederaufleben zu lassen.

Weltweite Proteste

Für linke Gruppen, Gewerkschafter, Verbraucherschützer, Bauernorganisationen auf allen Kontinenten und andere finden sich also genug Gründe, gegen die Verhandlungen in Seattle zu mobilisieren. Anknüpfend an Erfahrungen mit einem weltweiten Aktionstag am 18. Juni anläßlich des G-7-Treffens in Köln sind für den 30. November Kundgebungen und Happenings in diversen Städten rund um den Globus geplant. Im Juni hatte es u. a. Großdemonstrationen in Bangladesh, Nigeria und Pakistan gegeben. In London hatten 15 000 Menschen ein Straßenfest im Börsendistrikt gefeiert, bei denen es zu massiven Zusammenstößen mit der Polizei kam. In Montevideo wurde eine alternative Handelsmesse abgehalten. In Australien lud man zum Tortenwerfen auf Politiker ein. Highlight des neuen globalen Aktionstages dürfte eine internationale Demonstration in Seattle werden, zu der die Veranstalter 100 000 Menschen erwarten. Durch verschiedene Städte Kanadas und der USA bewegt sich derzeit ein Sternmarsch nach Seattle, der die Öffentlichkeit in Nordamerika mit Aktionen und Veranstaltungen auf das Treiben der Regierungen aufmerksam machen will. In Deutschland beteiligt sich vor allem das Bündnis gegen die Hannoveraner Weltausstellung EXPO 2000 am internationalen Aktionstag. In Hannover ist am 30. November eine Jubeldemonstration geplant. Treffpunkt um 12.30 Uhr, Weißekreuzplatz.

http://gib.squat.net/links.html#neoliberal

krieg ist frieden. freiheit ist sklaverei. unwissenheit ist staerke


Seattle Reports | Actions 1999 | www.agp.org