http://www.egroups.com/group/infopool/412.html?
8:48 AM Mon 6 Dec 99
From: canna
From i-afd_-anarch.free.de
Date Mon, 6 Dec 1999 09:58:04 -0500
Hier der Bericht eines Mitglieds der IWW von den Protesten in Seattle:
Der folgende Bericht basiert auf Meldungen in Nachrichten, Berichten von Leuten und dem, was ich selbst gesehen habe.
Gleich wie Leute dazu stehen, wenn Geschäfte geplündert werden - und das wurde nur von wenigen DemonstrantInnen getan -, was die Medien darüber *nicht* berichten ist, daß dies erst passierte, nachdem die Polizei auf kurze Distanz mit Gummigeschossen auf die gewaltlosen DemonstrantInnen feuerte, die sich in einer Form des gewaltlosen Protests auf der Straße hingesetzt hatten. Das wollte ich vorwegschicken.
Ich nahm an der Gewerkschaftsdemo mit über 35.000 Menschen teil. Als wir in die Nähe des WTO-Tagungsortes kamen, ging ein Teil der Demo zurück zum Ausgangspunkt und ein anderer Teil ging näher an das Kongreßzentrum heran. Die Gruppe, mit der wir unterwegs waren, wurde abgeschnitten. Wir gingen schließlich Hafenarbeitern aus Bellingham and Tacoma/Washington hinterher, und die gingen in Richtung Kongreßzentrum. An einem Punkt blockierten Polizeiketten drei Richtungen. In dem Gebiet, durch das ich kam, habe ich keine geplünderten Geschäfte gesehen. Nach einiger Zeit fing die Polizei an, nördlich von uns mit Tränengas und Pfefferspray zu sprühen und sie feuerten sehr laute "concussion bombs" [sorry - keine Ahnung, was das ist; concussion bedeutet soviel wie "Erschütterung"; d.Ü.]. Ich war ziemlich nah dran und habe keine Vorwarnungen gehört. Die Menge, auf die geschossen wurde, waren auch keine gewaltbereiten/gewalttätigen jungen Personen, sondern Leute aus allen Altersgruppen, sogar kleine Kinder waren dabei. Ich selbst, mein Sohn und meine Tochter, wir bekamen alle Tränengas ab.
Wir zogen uns von dem Tränengas zurück. Ungefähr gegenüber war ein Lautsprecherwagen von der Teamsters Union, der bei der Gewerkschaftsdemo mitgefahren war - der Wagen war völlig vom Tränengas eingenebelt, und sie fingen an, über den Lautsprecher Jimi Hendrix "Star Spangled Banner" zu spielen [Anm.: paßt gut: 1. war Hendrix aus Seattle, 2. sollte es jemensch nicht wissen, dies ist das Lied, in dem Hendrix die amerikanischen Nationalhymne auf seiner Gitarre zu einem Bombenangriff verfremdet; d.Ü.] Kurz darauf ging die Polizei aus allen Richtungen gegen uns vor, schoß Tränengas und "concussion bombs". Wir sahen zu, daß wir Richtung Pike Place Market wegkamen und auch da war die Luft dicht vom Tränengas.
Eine andere Gruppen DemonstrantInnen war den Hügel aufwärts in ein Wohnviertel gegangen: dort flüchteten die Leute vor dem Tränengas aus ihren Häusern, aus Restaurants, oder gingen los und wollten wissen, warum die Polizei ihr Viertel unter Gas setzt. Dies führte zu einigen Konfrontationen zwischen BewohnerInnen aus dem Viertel und der Polizei. Am 30.11. wurden 68 Leute festgenommen und eine Ausgangssperre während der Dunkelheit verhängt.
Am nächsten Tag wurde die Polizei von ca 300 "state troopers" [vermutlich Soldaten????] und von der Nationalgarde (wieviele ist mir nicht bekannt) verstärkt. Sie fingen morgens damit an, daß sie alle Autos anhielten und Plakate, Transparente und Funken beschlagnahmten. Sie erklärten auch ein großes Gebiet im Stadtzentrum zur "Protestfreien Zone". Gegen 7Uhr 30 verließ eine Gruppe DemonstrantInnen einen Park und wurde von einer Polizeikette gestoppt - dies geschah jedoch weit entfernt von der Zone, in der Demons verboten worden waren. Die Polizei nahm ca. 60 dieser Personen fest. Danach wurde die "Protestfreie Zone" so vergrößert, daß der Park nun dazugehörte.
Andere DemonstrantInnen versammelten sich auf einem Vorplatz (nicht auf der Straße) und ungefähr 250 von ihnen wurden verhaftet. Wenn es irgendwo im Zentrum von Seattle auch nur entfernt danach aussah, als könnten DemonstrantInnen da sein, kam sofort die Polizei. Das möchte ich betonen, denn heute bekamen sehr viele Leute Tränengas ab, die "normale" Passanten waren. Ich habe heute selbst gesehen, wie eine Kundin aus einem Laden kam, die Polizei sah und versuchte, in die andere Richtung zu gehen; sie fiel hin und ein Bulle kam an und sprühte ihr aus wenigen Zentimetern Entfernung Tränengas ins Gesicht. Die Bullen griffen auch Leute an, die auf Busse warteten. Viele PassantInnen gerieten zwischen die DemonstrantInnen, weil die Bullen alle zusammendrängten. Die meisten Angriffe mit Tränengas und die meisten Verhaftungen passierten außerhalb der "Protestfreien Zone". Einfach jede Person, die kein WTO-Delegierter oder Bulle ist, wird offenbar von den Bullen angegriffen. Gerade jetzt greifen sie Gewerkschaftsmitglieder im Norden des Stadtzentrums an, eine kleine Demo für Mumia Abu Jamal, und auch noch andere DemonstrantInnen auf dem Pike Place Markt und anderswo. Der Polizeistaat in Seattle versucht, alle zu unterdrücken, die es wagen zu protestieren. Ich geh wieder raus, später schreibe ich mehr. A.
http://www.ainfos.ca/de/ainfos00409.html
Polizeistaat in Seattle, zweiter Teil
http://www.egroups.com/group/infopool/416.html?
8:53 AM Mon 6 Dec 99
Die Polizei ließ die letzte Gruppe von DemonstrantInnen in Richtung Capitol-Hill Viertel sich zurückziehen und folgte ihnen mit weit mehr Bullen und Nationalgarde als DemonstrantInnen da waren. Nachdem sie schon in der Nacht zuvor massiv Tränengasangriffe abbekommen hatten, gingen viele der BewohnerInnen des Viertels raus und wollten wissen, warum die Polizei in so großer Zahl auf wenige Leute losginge. Ihre Anfragen wurden beantwortet mit Zusammenknüppeln, mehr Gas und Gummigeschossen.
Ich sah, daß ein Typ, der auf dem Fußweg ging und die Polizei gefragt hatte, warum sie das Viertel angriffen, von einem Bullen in die Eier getreten wurde und daß die Bullen praktisch nur auf Armeslänge entfernt Leute mit Gummigeschossen angriffen.
Es gibt nicht nur die Ausgangssperre, die "Protestfreie Zone", sondern mittlerweile ist ein großer Teil des Stadtzentrums für niemand mehr zugänglich, solange die WTO dauert.
Vielleicht bin ich ja mit den Gedanken nach zwei Tagen Gasangriff nicht mehr so auf der Höhe, aber ich habe den Eindruck, daß die Botschaft von Seattle ist: jeder Widerstand gegen die WTO und globale Konzerne wird mit eisernen Absätzen vom Polizeistaat niedergetreten. Wenn die Leute in Seattle wegen Menschenrechten protestieren, und dann solche Repressionen erfahren, dann stellt euch nur vor, wie es Leuten dort ergeht, wo es die Illusion der Freiheit nicht gibt! Alle Menschen, Gewerkschaftler, MenschenrechtsaktivistInnen, indigene Völker und so weiter müssen erkennen, daß uns ein harter Kampf bevorsteht gegen die, die keinen Respekt vor der Menschenwürde haben. Wenn dies in Seattle geschehen kann, dann kann es überall passieren.
Morgen marschieren wir wieder!
A.
Translation: aswa-anarch.free.de
http://www.ainfos.ca/de/ainfos00413.html