Manifest von Porto Alegre

Auf dem V. Weltsozialforum in Porto Alegre haben 19 Persönlichkeiten, darunter die Nobelpreisträger José Saramago (Portugal) und Adolfo Perez Esquirel (Argentinien) sowie der ehemalige Berater des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva, Frei Betto, und der Herausgeber der französischen Zeitschrift "Le Monde diplomatique", Ignacio Ramonet, den Text eines "Manifests von Porto Alegre" veröffentlicht, der nachfolgend im Wortlaut wiedergegeben wird. (Arbeitsübersetzung)

"Seit dem ersten im Januar 2001 in Porto Alegre abgehaltenen Weltsozialforum hat sich das Phänomen der Sozialforen auf alle Kontinente und bis auf die nationalen und lokalen Ebenen ausgeweitet.

Es ließ einen erdballweiten öffentlichen Raum der Bürgerverantwortung (orig.: "citoyenneté") und der Kämpfe entstehen. Es hat es ermöglicht, Vorschläge für politische Alternativen zur Tyrannei der neoliberalen Globalisierung zu erarbeiten, die von den Finanzmärkten und den transnationalen Konzernen vorangetrieben wird und deren bewaffneter Arm die imperiale Macht der USA darstellt. Durch ihre Verschiedenartigkeit und durch die Solidarität zwischen den Akteuren und sozialen Bewegungen, die sie ausmachen, ist die Bewegung für eine andere Welt (orig.: "altermondialiste") nunmehr eine Kraft geworden, die im Weltmaßstab Gewicht hat.

In der Vielfalt der aus den Foren hervorgegangenen Vorschläge gibt es eine große Anzahl, die in den Reihen der sozialen Bewegungen eine sehr breite Übereinstimmung zu finden scheinen. Unter diesen haben die Unterzeichner des Manifests von Porto Alegre, die sich in strikt persönlicher Eigenschaft äußern und in keiner Weise vorgeben, im Namen des Forums zu sprechen, zwölf identifiziert, die insgesamt sowohl Sinn wie Projekt für den Aufbau einer möglichen anderen Welt ausmachen. Wenn sie verwirklicht würden, würden sie es den Bürgern endlich ermöglichen, sich gemeinsam ihre Zukunft wieder anzueignen.

Dieser Minimalsockel wird der Beurteilung der Akteure und sozialen Bewegungen aller Länder unterbreitet. Ihnen wird es zukommen, auf allen Ebenen - weltweit, kontinental, national und lokal - die nötigen Kämpfe zu führen, damit sie Realität werden. Wir machen uns allerdings keinerlei Illusion über den realen Willen der Regierungen und der internationalen Institutionen, diese Vorschläge spontan in die Tat umzusetzen, selbst wenn sie sich aus purem Opportunismus daraus das Vokabulär entleihen.

  1. Annullierung der öffentlichen Verschuldung der Staaten des Südens, die schon mehrfach zurückgezaht worden ist und die für die Gläubigerstaaten, die Finanzetablissements und die internationalen Finanzinstitutionen das privilegierte Mittel darstellen, um den größeren Teil der Menschheit ihrer Vormundschaft zu unterwerfen und dort die Not aufrechtzuerhalten. Diese Maßnahmen muß begleitet sein von der Rückgabe der gigantischen Summen an die Völker, die ihnen von ihren korrupten Führern entwendet worden sind.
     
  2. Einführung von internationalen Steuern auf finanzielle Transaktionen (insbesondere die Tobin-Steuer auf die Devisenspekulation), auf die Direktinvestitionen im Ausland, auf die konsolidierten Gewinne der transnationalen Unternehmen, auf den Verkauf von Waffen und auf Aktivitäten mit starken Emissionen von Treibhausgasen. Ergänzt durch eine öffentliche Entwicklungshilfe, die zwingend 0,7 % des Bruttoinlandsprodukts der reichen Länder erreichen muß', sollen die so freigesetzten Mittel verwendet werden, um gegen die großen großen Seuchen (darunter Aids) zu kämpfen und um den Zugang der Gesamtheit der Menschheit zu Trinkwasser, zu einer Wohnung, zu Energie, zu Gesundheit, Pflege und Medikamenten, zur Bildung und zu sozialen Diensten zu gewährleisten.
     
  3. Schrittweise Abschaffung aller Formen von Steuer-, Justiz- und Bankparadiesen, die ausnahmslos Schlupfwinkel der organisierten Kriminalität, der Korruption, des Schmuggels aller Art, des Betrugs und der Steuerflucht, der kriminellen Operationen der Großunternehmen und sogar von Regierungen sind. Diese Steuerparadiese reduzieren sich nicht nur auf einige in rechtsfreien Zonen konstitutierte Staaten; sie schließen auch die Gesetzgebung mancher entwickelten Staaten ein. Zunächst gilt es, die Kapitalflüsse stark zu besteuern, die in diese "Paradise" einfließen oder aus ihnen herausströmen, sowie die Einrichtungen und Akteure finanzieller und anderer Art, die diese Unterschlagungen großen Stils möglich machen.
     
  4. Sicherung des Rechtes jedes Bewohners des Erdballs auf einen Arbeitsplatz, auf sozialen Schutz und auf Rente unter Achtung der Gleichheit von Männern und Frauen als ein zwingendes Gebot der öffentlichen Politik, sowohl natinal wie international.
     
  5. Kampf, vor allem durch die öffentlichen Politik, gegen alle Formen der Diskriminierung, des Sexismus, der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus. Volle Anerkennung der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Rechte der jeweiligen Urbevölkerung (einschließlich der Herrschaft über ihre Naturreichtümer).
     
  6. Ergreifung von dringenden Maßnahmen, um der Verwüstung der Umwelt und der Bedrohung durch großer klimatische Veränderungen infolge des Treibhauseffekts, die sich in erster Linie aus der starken Vermehrung des Verkehrs und aus der Verschwendung nicht erneuerbarer Energien ergeben. Forderung nach der Verwirklichung bestehender Vereinbarungen, Konventionen und Verträgen, auch wenn sie unzureichend sind. Beginn der Verwirklichung eines anderen Typs von Entwicklung, gegründetn auf energetischer Zurückhaltung und auf der demokratischen Beherrschung der Naturressourcen, insbesondere des Trinkswasser, in globalem Ausmaß.
     
  7. Förderung aller Formen eines gerechten Handels unter Ablehnung der freihändlerischen Regeln der WTO und unter Einführung von Mechanismen, die es gestatten, im Prozeß der Produktion von Gütern und Dienstleistungen schrittweise zu einer Anpassung der Sozialnormen (wie sie in den Konventionen der OIT empfoheln sind) und der Umweltnormen nach oben überzugehen. Völliger Ausschluß der Bildung, des Gesundheitswesens, der sozialen Dienste und der Kultur aus dem Feld der Anwendung des Allgemeinen Abkommens über den Handel mit Dienstleistungen (AGCS) der WTO. Die Konvention über die kulturelle Verschiedenartigkeit, die gegenwärtig in der UNESCO zur Verhandlung steht, muß ausdrücklich dem Recht auf Kultur und der öffentlichen Politik zur Unterstützung der Kultur den Vorrang einräumen vor dem Handelsrecht.
     
  8. Garantierung des Rechtes auf Souveränität und auf Nahrungssicherheit aller Staaten oder Staatengruppen durch die Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft. Dies muß die völlige Abschaffung der Exportsubventionen für landwirtschaftliche Produkte, vor allem durch die USA und die Europäische Union, und die Möglichkeit der Besteuerung der Importe zur Verhinderung von Dumpingprakiken nach sich ziehen. Ebenso muß jedes Land oder Ländergurppe souverän beschließen können, die Produktion und die Einfuhr von genetisch veränderten Organismen, die zur Ernährung bestimmt sind, zu verbieten.
     
  9. Verbot jeder Form von Patentierung von Kenntnissen und von lebenden Organismen (sowohl menschlicher wie tierischer und pflanzlicher Natur) sowie jeder Privatisierung von gemeinsamen Gütern der Menschheit (insbesondere des Wassers).
     
  10. Garantierung des Rechtes auf Information und des Rechtes zur Informierung durch entsprechende Gesetzgebungen:
    Die Achtung dieser Rechte erfordert die Schaffung von bürgerlicher Gegenmacht, insbesondere in der Form von nationalen und internationalen Medien-Beobachtungsstellen.
     
  11. Forderung nach der Liquidierung der Militärbasen von Staaten, die über solche außerhalb ihrer Grenzen verfügen, und Rückzug aller ausländischen Truppen ohne ausdrückliches Mandat der UNO. Dies gilt in erster Linie für den Irak und Palästina.
     
  12. Reformierung und tiefgehende Demokratisierung der internationalen Organisationen, indem in ihnen der Vorrang der Menschenrechte, der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte in der Weiterführung der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte zur Geltung gebracht wird. Dieser Vorrang schließt die Eingliederung der Weltbank, des IWF und der WTO in das System und die Entscheidungsmechanismen der Vereinten Nationen ein. Im Fall des Andauerns der Verletzungen der internationalen Legalität durch die USA Verlagerung des Sitzes der Vereinten Nationen aus New York in ein anderes Landes, vorzugsweise des Südens.

Porto Alegre, 29. Januar 2005.

Reaktionen zum "Manifest von Porto Alegre"

Auf der deutschsprachigen Internet-Seite des Weltsozialforums wurde unter dem Stichwort "Berichte" folgende Information zur Publikation des "Manifests von Porto Alegre" veröffentlicht
(http://weltsozialforum.org/2005/2005.wsf.1/2005.wsf.meldungen/news.2005.10/):

"Obwohl Artikel 6 der Prinzipien von Porto Alegre, welche seit dem ersten Weltsozialforum die Arbeitsweise aller Sozialforen festlegen, eine verbindliche Absichtsbekundung im Namen aller Forumsteilnehmer explizit ausschließt, haben 19 Einzelpersonen, darunter Frei Betto, Ignacio Ramonet und Riccardo Petrella, bereits am 29. Januar und damit zwei Tage vor dem offiziellen Ende des WSF in der Weltpresse ein Dokument in Umlauf gebracht, das u.a. über die Deutsche Presseagentur verbreitet nunmehr in vielen Zeitungen als Abschlusserklärung dargestellt wird.

Als Beweggrund für ihr Vorpreschen geben die 19 Intellektuellen an, dass der Antiglobalisierungs-Bewegung oft vorgeworfen werde, dass sie keine konkreten Schritte vorschlage. Um diesen kritischen Stimmen zu begegnen, hätten sie die Initiative ergriffen und zwölf Vorschläge für eine andere Welt unter dem Namen "Manifest von Porto Alegre" veröffentlicht. Wohl wissend, dass es sich hierbei um eine private Erklärung handelt, die nicht im Namen des Forums und auch ohne Zustimmungdes internationalen Rates des WSF abgegeben wurde, glauben sie dennoch, in dessen Geist gehandelt zu haben."

Weitere Reaktionen:

Auf der gleichen WSF-Internetseite wurden eine Reihe von weiteren Stimmen von in Porto Alegre anwesenden Persönlichkeiten zu dem Vorgang veröffentlicht, darunter folgende:

So erklärte u.a. Candido Grzybowski, Mitglied des Brasilianischen Internationalen Komitees für das WFS, er sei zwar von Bernard Cassen ("Le Monde diplomatique") zur Unterzeichnung eingeladen worden, habe dies aber abgelehnt, allerdings nicht wegen Nichteinverständnis mit den Inhalten des Dokuments, sondern wegen der von den Unterstützern verwendeten Methode, es zu starten: "Der Inhalt dieses Vorschlags ist perfekt und ich glaube, dass 80 Prozent der Forumsteilnehmer damit übereinstimmen würden". Was den Vorschlag nicht annehmbar mache, sei "die Methode, mit der er kreiert und präsentiert worden ist. Das geht gegen den Geist des Forums selbst. Hier sind alle Vorschläge gleich wichtig und nicht nur der einer Gruppe von Intellektuellen, selbst wenn es sehr bedeutende Personen sind". Die Veröffentlichung sei "ein politischer Fehler" gewesen, "weil es nichtder vereinbarten Methode entspricht und sogar eine Ablehnung durch die Basis des Forums hervorrufen könnte".

Professor Kamal Mitra Chenoy, Mitglied des früheren Indischen Ad-hoc-Organisationskomitees, erklärte, er würde dieses Dokumet "als eine Erklärung von innerhalb des Forums, aber nicht des Forums" ansehen. "Selbst wenn 3000 Organisationen unterzeichnen, wird es keine WSF-Erklärung sein. Um das zu sein, muß es vom Internationalen Rat kommen und zuerst demokratisch einerDebatte vorgelegen haben".

Flavio Lotti von der italienischen NGO "Tavola della Pace" bezeichnete das "Manifest" als "eine legitime Initiative", deren Inhalt und Geist er persönlich teile. Seiner Ansicht nach sollte das "Manifest" auf der nächsten Tagung des Internationalen Rats des WSF Ende März diskutiert werden. Es sei an der Zeit, das "Tabu" aufzuheben und das Forum "mehr zu einer globalen politischen Kraft als nur einem Raum für Debatten" zu machen.

Minoru Kitamura vom Japanischen Asien-Afrika-Lateinamerika-Solidaritätskomitee meinte, "ein Konsensdokument könnte akzeptabel sein, aber es sollte alle Ideen enthalten". Gegenwärtig sehe sich das WSF selbst noch als ein Ort der Förderung von "dezentralisierter Koordination und Vernetzung zwischen Organisationen, die in konkreten Aktionen für den Aufbau einer anderen Welt engagiert sind, auf allen Ebenen von der lokalen bis zur internationalen, aber es hat nicht die Absicht, eine Körperschaft zu sein, die die Welt-Zivilgesellschaft repräsentiert". Das WSF sei "weder eine Gruppe noch eine Organisation".

Auch der italienische EU-Parlamentarier Giuletto Chiesa (Mitglied der liberalen ALDE-Fraktion im EP, früher Mitarbeiter der "Unità") war der Ansicht: "Das Weltsozialforum ist ein globales Laboratorium, das nicht aufgegeben werden sollte. Aber es sollte über Festivitäten und Protest hinausgehen. Es sollte eine Struktur für Aktionen haben. Wir können nicht nur sagen: Eine andere Welt ist möglich. Wir brauchen Projekte und müssen Wissenschaftler in die Lösung einbeziehen"

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